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FRAGEN/183: Michael Conty zur Reform der Eingliederungshilfe (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2014

Reform der Eingliederungshilfe durch ein neues Bundesleistungsgesetz
Behindert ist man nicht, behindert wird man!
Interview mit Michael Conty

Von Petra Wilkening



Die Eingliederungshilfe unterstützt Menschen, die eine geistige, körperliche oder psychische Behinderung haben oder von einer Behinderung bedroht sind. Sie soll ermöglichen, dass diese Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Bisher ist die Eingliederungshilfe eine Leistung der Sozialhilfe. Das soll sich durch ein neues Bundesleistungsgesetz ändern. Über das Vorhaben sprach DER RING mit Michael Conty, Geschäftsführer im Stiftungsbereich Bethel.regional und Vorsitzender des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe.


DER RING: Herr Conty, war die bisherige Eingliederungshilfe schlecht?

Michael Conty: Nein, im Gegenteil. Sie war und ist sehr gut, weil sie sich über Jahrzehnte entwickeln konnte. Es gab schon immer einen offenen Leistungskatalog, und man konnte dadurch immer wieder Hilfen neu gestalten, wenn besondere Problemlagen offenkundig wurden. Die Frühförderung zum Beispiel hat es nicht immer gegeben. Die Entwicklungsoffenheit ist eine Stärke der bisherigen Eingliederungshilfe. Sie müssen wir uns unbedingt erhalten.


DER RING: Warum muss sich etwas ändern, das bisher gut war?

Michael Conty: Die Fachverbände sprechen sich für ein neues Bundesleistungsgesetz aus, weil sich - spätestens seit der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung - die Sichtweise von Behinderung geändert hat. Die Eingliederungshilfe gehört zur Sozialhilfe, und die ist eigentlich "Armenrecht", das letzte Auffangnetz für Menschen, die in einem persönlichen Ausnahmefall in Not geraten. Auch eine Behinderung wurde bisher als ein solcher persönlicher Ausnahmefall gesehen. Heute denkt man darüber anders.


DER RING: Wie wird Behinderung heute gesehen?

Michael Conty: Alle Menschen, egal wie sie sind, gehören zur Gesellschaft, und sie alle haben das Anrecht darauf, an den Errungenschaften dieser Gesellschaft teilzuhaben, am Öffentlichen Personennahverkehr ebenso wie an kulturellen Dingen. Die Gesellschaft ist in der Pflicht, dieses zu gewährleisten. Sie muss dafür Sorge tragen, dass es keine Barrieren gibt, die der Teilhabe entgegenstehen. Wo ihr das nicht gelingt, benachteiligt sie Bürger und behindert sie. Die Behinderung gehört folglich nicht zu der Persönlichkeit eines Menschen, sondern hat ihre Ursache in den noch nicht optimalen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ein Mensch ist nicht behindert, sondern er wird behindert.


DER RING: Und das neue Gesetz muss Ausdruck dieser veränderten Haltung sein?

Michael Conty: Ja, auf jeden Fall. Bisher ist es so, dass die Eingliederungshilfe unter Anrechnung von Einkommen und Vermögen gewährt wird. Sie ist ja Teil der Sozialhilfe, und hier bin ich als Bürger zunächst einmal selbst gefragt, meine Notlage - einen persönlichen Ausnahmefall - zu verbessern. Erst dann kommt die staatliche Hilfe ins Spiel. Das neue Bundesleistungsgesetz muss dagegen dem Grundsatz folgen, dass Menschen mit Behinderung einen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich haben, wenn die Gesellschaft ihrer Aufgabe noch nicht ausreichend nachkommt und noch nicht die Teilhabe aller ermöglicht. Es geht nicht um eine Fürsorgeleistung, sondern um eine Entschädigung. Ein solcher Nachteilsausgleich muss demnach unabhängig vom Vermögen und vom Einkommen der Menschen mit Behinderung und ihrer Familien gewährt werden.


DER RING: Welches Interesse haben die Kommunen an einer Reform der Eingliederungshilfe?

Michael Conty: Die Eingliederungshilfe wird von den Kommunen finanziert. Da kommen rund 13 Milliarden Euro im Jahr zusammen. Die Kosten haben sich immer weiter nach oben entwickelt und belasten Kommunen, Städte und Gemeinden erheblich. Die argumentieren deshalb, dass die Teilhabe und ihre Kosten ein gesamtgesellschaftliches Problem sind und sich der Bund darum maßgeblich an der Finanzierung beteiligen muss.


DER RING: Warum sind die Kosten der Eingliederungshilfe so enorm gestiegen?

Michael Conty: Heute nehmen viel mehr Menschen die Eingliederungshilfe in Anspruch als zum Beispiel noch vor 20 Jahren. Das hat verschiedene Gründe. So ist zum Beispiel der Anteil behinderter Menschen an der Bevölkerung heute wieder auf ein normales Maß angestiegen. Nach den Krankentötungen im Dritten Reich war er jahrzehntelang wegen der "demografischen Lücke" viel zu gering. Und wie alle anderen haben Menschen mit Behinderung aufgrund der modernen Medizin und guter Hilfen heute eine höhere Lebenserwartung. Außerdem leben viele als Erwachsene nicht mehr zuhause bei den Eltern und beantragen darum vermehrt die Leistungen, die ihnen zustehen. Hinzu kommt, dass die Leistungen selbst teurer geworden sind. Das liegt an gestiegenen Personalkosten, aber auch an den heutigen Standards. Einzelapartments zum Beispiel - eine Auflage der Heimaufsicht - sind ein guter, zu begrüßender Fortschritt, aber sie kosten eben auch.


DER RING: Welche Kriterien sollte das neue Gesetz erfüllen?

Michael Conty: Das Prinzip der Bedarfsdeckung und der Orientierung an der einzelnen Person sind gute Errungenschaften der Eingliederungshilfe. Das müssen wir beibehalten. Man wird dem Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller an der Gesellschaft nur gerecht, wenn man Menschen entsprechend ihrem individuellen Hilfebedarf und ihren eigenen Vorstellungen von der Gestaltung der Hilfen unterstützt. Hier muss Menschen mit Behinderung mehr Einfluss eingeräumt werden. Die UN-Konvention besagt, dass niemand gegen seinen Willen gezwungen werden darf, in einer Sonderwohnform zu leben. Auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf müssen ihr Lebens- und Wohnumfeld selbst bestimmen und sich zwischen verschiedenen Angeboten und Leistungen entscheiden können.


DER RING: Bedeutet das nicht eine Überforderung - die "Qual der Wahl"?

Michael Conty: Nicht, wenn eine sinnvolle Beratung gewährleistet ist. Die Träger von Sozialleistungen haben die Pflicht zu beraten, aber sie sind auch für die Leistungsgewährung und die Kosten zuständig und beraten aus ihrem eigenen Blickwinkel. So die Kritik der Leistungsanbieter. Denen wiederum wird von den Kostenträgern vorgeworfen, dass sie ihre Beratung danach ausrichten, sich Kunden zu sichern. Meiner Meinung nach muss der Mensch Wahlmöglichkeiten haben und selbst entscheiden, wer ihn beraten soll. Das neue Bundesleistungsgesetz muss deshalb aus Sicht der Fachverbände plurale Beratungsleistungen vorsehen.


DER RING: Wie lässt sich mehr Unabhängigkeit in der Beratung umsetzen?

Michael Conty: Eine vollkommene Unabhängigkeit ist sicherlich schwierig, aber es gibt zwei Modelle, die ich gut finde. Im Rheinland haben sich mehrere Partner aus der Freien Wohlfahrtspflege zusammengetan und gewährleisten so eine unabhängigere Beratung. Und im Bielefelder Café 3 B zum Beispiel übernehmen fachkundige Menschen mit Behinderung selbst die Beratung. Betroffene beraten Betroffene nach den Prinzipien des "Peer Counselling".


DER RING: Eine Gesellschaft, die die Teilhabe für alle ermöglicht - kann es die tatsächlich geben?

Michael Conty: Wie eine solche ideale Gesellschaft konkret aussieht, kann ich mir auch noch nicht wirklich vorstellen. Man kann Bordsteine absenken, Fahrstühle mit akustischen Ansagen versehen, technische Hilfen einsetzen - diese Lösungen sind im Grunde einfach zu verwirklichen, aber noch längst nicht überall umgesetzt. Aber es gibt nicht nur physische, sondern auch mentale Barrieren. Wie kann man denen beikommen? Und was ist mit Menschen, die sehr ängstlich sind oder intellektuell so eingeschränkt, dass sie sich nicht orientieren können? Da braucht es auch weiterhin Menschen, sensible Assistenten, die gezielt Unterstützung leisten. Wichtig ist, dass man als Gesellschaft immer wieder seinen Blick dafür schärft, wie man die Teilhabemöglichkeiten für alle verbessern kann. Ich habe den Eindruck, dass es viel Bereitschaft zur Inklusion und viel Interesse daran in Deutschland gibt und dass die Politik die UN-Konvention ernst nimmt, aber es wird eine schrittweise Entwicklung sein und vielleicht noch ein, zwei Generationen dauern, bis die UN-Konvention selbstverständlich ist. Die Veränderungen brauchen Zeit, aber das heißt ja nicht, dass man heute nichts tun muss.

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Quelle:
DER RING, Januar 2014, S. 10-11
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2014