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FRAGEN/181: Zwischen Patientenautonomie und Fürsorgepflicht (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Februar 2013

Zwischen Patientenautonomie und Fürsorgepflicht
Psychiatrie-Projekt "Praxisempfehlung Intensibetreuungen"

Das Interview mit dem Betheler Wissenschaftler Prof. Dr. Michael Schulz führte Petra Wilkening



Grau ist die Zone, in der die intensive Überwachung von Patienten in der Akutpsychiatrie angesiedelt ist, und "bunt" zugleich. Es gibt keine klaren Richtlinien, stattdessen eine große "Vielfalt" bei der Durchführung. "Art, Dauer und auslösende Faktoren hängen weniger von dem Zustand des Patienten als vielmehr von der jeweiligen Kultur der Klinik ab", stellt Prof. Dr. Michael Schulz von der Fachhochschule der Diakonie fest. Er war an dem Forschungsprojekt "Praxisempfehlung Intensivbetreuungen" beteiligt, das Ende vergangenen Jahres von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ausgezeichnet wurde. DER RING sprach mit dem Betheler Wissenschaftler über das Projekt.


DER RING: Warum war das Projekt notwendig?

MICHAEL SCHULZ: Die Überwachung eines schwer erkrankten Menschen greift tief in seine persönliche Freiheit ein und wird von den Betroffenen nicht immer als hilfreich empfunden. Gefährden Patienten sich oder andere, sind die Kliniken in der schwierigen Situation, zwischen der Patientenautonomie und der Fürsorgepflicht abwägen zu müssen. Es gibt jedoch keine Praxisempfehlungen, wann und in welcher Form solche Maßnahmen zum Einsatz kommen sollen.

DER RING: Das bedeutet, dass die Kliniken auf sich gestellt sind?

MICHAEL SCHULZ: Ja, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern fehlen entsprechende Vorgaben der Fachgesellschaften oder nationale Richtlinien. Eine Ausnahme ist Großbritannien. Hinzu kommt, dass es relativ wenig Forschung zu dem Thema gibt. Wir wissen also sehr wenig darüber, wie welche Maßnahmen wirken. Das Problem ist in Nordrhein-Westfalen umso drängender, als hier seit Ende 2011 die Videoüberwachung von fremd- oder eigengefährdenden Patienten verboten ist. Seitdem müssen viele Kliniken neue Regelungen und Vorgehensweisen entwickeln. Da es sich neben der ethischen Dimension auch um eine sehr personalintensive und damit teure Intervention handelt, steht das Thema derzeit besonders im Fokus.

DER RING: Worauf stützen sich Ihre Empfehlungen?

MICHAEL SCHULZ: Wir haben die internationale wissenschaftliche Literatur zu der Frage der Intensiven Überwachung analysiert und uns so einen systematischen Überblick verschafft. Die gefundenen Arbeiten stammen im Wesentlichen aus Großbritannien, den USA, Kanada, Australien und Schweden. Der überwiegende Teil der Studien und Untersuchungen wurde in Großbritannien durchgeführt.

DER RING: Wie sieht die Praxis in anderen Ländern aus?

MICHAEL SCHULZ: Es wird von Klinik zu Klinik unterschiedlich gehandhabt, wann eine Überwachung angeordnet wird, wer sie anordnen darf und wie sie wieder beendet wird. Ebenso hängt es häufig von der Kultur der Klinik ab, von welchem Personal die Maßnahme durchgeführt wird. Es gibt auch Studien, wonach neben Fachpersonal Hilfspersonal oder Personal von Leiharbeitsfirmen zum Einsatz kam.

DER RING: Was halten Sie davon, Hilfspersonal einzusetzen?

MICHAEL SCHULZ: Das ist der "worst case", denn es geht um schwerstkranke Menschen. Intensivbetreuungen sind hochkomplexe und kommunikativ höchst anspruchsvolle Interventionen und dürfen nur von fachlich gut ausgebildetem Personal durchgeführt werden. Die Maßnahmen müssen das Ziel haben, die Gesundung des Patienten zu fördern. Hier gehören weder Sicherheitsfirmen noch Hilfskräfte hin. Weil die Eins-zu-Eins-Betreuungen sehr personalaufwändig und darum teuer sind, gibt es immer wieder auch mal die Idee, hier Studenten einzusetzen. Davor kann man nur warnen. Studien haben gezeigt, dass die Maßnahmen dann schlechter verlaufen und länger andauern und darum noch belastender als sowieso schon sind.

DER RING: Gut ausgebildetes Personal - das heißt Fachkräfte der Pflege?

MICHAEL SCHULZ: Genau. Intensivbetreuungen sind ein originäres Pflegethema. Dort gibt es das Expertenwissen, um die Maßnahmen fachgerecht durchzuführen. Die Pflegefachpersonen sollten deshalb gemeinsam mit dem behandelnden Arzt über Art und Dauer der Intervention entscheiden. Allerdings muss die Pflege auch innerhalb der Berufsgruppe differenzieren und Pflegende mit höherer Qualifikation und mehr Wissen auch mit mehr Verantwortung ausstatten.

DER RING: Wie sieht die Praxis aus? Wer ordnet Intensivbetreuungen an?

MICHAEL SCHULZ: Die Literatur zeigt, dass die Anordnung und Beendigung einer Intensivbetreuung im Wesentlichen dem ärztlichen Bereich zugeordnet ist. Dem Gesetz nach trägt der Arzt die Letztverantwortung. Die einseitige Verantwortung der Medizin hat für den Patienten bisweilen unschöne Nebenwirkungen. Zurzeit ist es zum Beispiel vielfach so, dass eine Maßnahme am Wochenende nicht beendet werden kann, wenn der anordnende Arzt keinen Dienst hat - auch wenn sie nicht mehr nötig ist. Die unnötige Verlängerung ist ein ethisches Problem und natürlich eine Belastung für das Personal. Sie ließe sich vermeiden, wenn die Pflege mehr Entscheidungsverantwortung hätte. Darum sollte eine kooperative Entscheidungsfindung explizit sichergestellt werden; zumal die Pflege ja in jedem Fall auch die Durchführungsverantwortung hat.

DER RING: Ungefähr fünf Prozent der Patienten erhalten eine Intensivbetreuung. Ist sie immer nötig?

MICHAEL SCHULZ: Dafür müssten wir klarer definieren, wofür wir sie brauchen und entsprechende Daten zur Wirksamkeit erheben. Tatsache ist, dass diese Intervention häufig aus Gründen der Risikominimierung zur Anwendung kommt. Die Literaturrecherche zeigt, dass die Auslösung einer solchen Maßnahme mit der personellen Besetzung und der Qualifikation der Mitarbeiter zu tun hat - und mit Angst. Es geht darum, Schaden abzuwenden - von den Patienten, den Mitarbeitern und auch von der Einrichtung. Je größer die Angst vor einem Schaden ist, desto eher werden Intensivbetreuungen durchgeführt. Das ist dann weniger der Erkrankung des Patienten als der Kultur des Hauses geschuldet.

DER RING: Was können Kliniken für eine gute Kultur in ihrem Haus tun?

MICHAEL SCHULZ: In Großbritannien verfügt ein Großteil der Gesundheitsdienstleister über schriftliche Richtlinien für die Durchführung von Intensivbetreuungen. Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Maßnahmen sinkt und ihre Qualität sich erhöht, wenn die Klinikleitung Behandlungsstandards formuliert. Sie muss unter anderem Kriterien für die Auslösung von Intensivbetreuungen festlegen, verbindlich definieren, wer für das Ansetzen, Durchführen und Absetzen der Maßnahmen verantwortlich ist und die hierfür notwendige Qualifikation der Mitarbeiter sicherstellen. Ganz wichtig sind auch die Dokumentation der Maßnahmen und ihre zeitnahe systematische Auswertung. Aktuell fehlen in Deutschland Daten, die hier eine bessere Steuerung möglich machen. Außerdem wird in der Literatur der Einsatz von Aufklärungsbogen für die Patienten, ähnlich wie bei einer Operation, gefordert.

DER RING: Wie geht es weiter?

MICHAEL SCHULZ: Ende vergangenen Jahres haben wir das NRW-Gesundheitsministerium im Rahmen der Deutschen Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege in einem offenen Brief auf die Problematik hingewiesen und wurden daraufhin zu einem Diskussionsgespräch nach Düsseldorf eingeladen. Als nächsten Schritt planen wir eine Expertenbefragung mit Vertretern von Betroffenen, Angehörigen und der Medizin. Es muss in Deutschland mehr in der Versorgungsforschung getan werden. Der Psychiatrie-Experte Tilmann Steinert sagte einmal, dass die Fixierung von Patienten nicht zugelassen wäre, wenn sie ein Medikament wäre. Dazu ist die Maßnahme im Hinblick auf Wirkung und Nebenwirkung zu wenig erforscht. Das lässt sich auch auf die Intensivbetreuungen übertragen. Hier besteht ein dringender Bedarf, Studien zu ihrer Wirksamkeit und auch zum subjektiven Erleben der Patienten anzustoßen.

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Quelle:
DER RING, Februar 2013, S. 8-9
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2013