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FRAGEN/179: "Umtausch ausgeschlossen" - Ein Gespräch mit Professor Schneider (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 103 - 3. Quartal 2012
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

POLITIK
»Umtausch ausgeschlossen«

Interview mit Prof. Dr. med. Holm Schneider



Eine neue Studie weckt erhebliche Zweifel daran, dass Frauen, die sich für die Abtreibung eines Kindes mit der Diagnose »Trisomie 21« entschieden haben, überall gesetzeskonform beraten wurden. Für »LebensForum« sprach Stefan Rehder mit Holm Schneider, Professor für Kinderheilkunde und Leiter der Abteilung Molekulare Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen, über die brisanten Ergebnisse der Studie, den neuen PraenaTest und den Umgang mit Menschen mit Behinderungen.


LebensForum: Herr Professor Schneider, die Zeitschrift »Leben mit Down-Syndrom« veröffentlicht in der aktuellen September-Ausgabe eine Studie, die Sie und zwei Ihrer Kollegen am Universitätsklinikum Erlangen durchgeführt haben. Würden Sie den Lesern von »LebensForum« einmal kurz skizzieren, worum es dabei genau geht?

Professor Dr. med. Holm Schneider:
In dieser Studie haben wir das persönliche Erleben und die Folgen gezielter vorgeburtlicher Diagnostik am Beispiel der Trisomie 21, der Ursache des Down-Syndroms, erforscht. Insgesamt 93 Frauen, die während einer Schwangerschaft in den Jahren 1995 bis 2011 erfahren hatten, dass sie ein Kind mit Down-Syndrom erwarten, wurden mittels zweier Fragebögen zur Schwangerschaft mit dem betroffenen Kind, zur Beratung nach der Diagnosestellung, zur Entscheidungsfindung und zum aktuellen Lebensalltag befragt. Einer der Fragebögen war an Frauen gerichtet, die ihr Kind trotz dieser Diagnose geboren haben, der andere an Frauen, bei denen deswegen ein Schwangerschaftsabbruch erfolgte.

Und welche Ergebnisse hat Ihre Studie erbracht?

Die Daten zeigen, dass die Beratung von Schwangeren, die durch vorgeburtliche Diagnostik in eine Konfliktsituation geraten sind, in Deutschland oft nicht den Erwartungen genügt. Zugleich belegt unsere Studie, dass es doch einige Frauen gibt, welche die Entscheidung für eine Abtreibung überhaupt nicht selbstbestimmt getroffen haben, sondern schlicht aufgrund inadäquater, nicht gesetzeskonformer Beratung, und dass diese Entscheidung langfristig mit viel größerer Beeinträchtigung der Lebensqualität einhergehen kann als die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom. Nur bei 14 Prozent der Befragten hätte laut eigenen Angaben bei Fortsetzung der Schwangerschaft eine Gesundheitsgefährdung bestanden - nach aktueller Gesetzeslage die einzige Rechtfertigung für einen Schwangerschaftsabbruch. Der Anteil an Beratungen »eher in Richtung Abbruch der Schwangerschaft« lag jedoch deutlich höher.

Kam es zum Schwangerschaftsabbruch, dann hatte dieser auch auf die Partnerschaft und die Geschwister des betroffenen Kindes (falls vorhanden) Auswirkungen, die in keinem einzigen Fall als positiv beschrieben wurden. In den Familien der Frauen, die ihr Kind mit Down-Syndrom geboren hatten, überwogen dagegen die positiven Auswirkungen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer aktuellen Studie des amerikanischen Forschers Brian Skotko, der mehr als 3.000 Menschen mit Down-Syndrom bzw. deren Eltern und Geschwister zu ihrer Lebenszufriedenheit befragte.

Zwei Drittel der Frauen in unserer Studie gaben an, bei erneuter Schwangerschaft auf eine vorgeburtliche Diagnostik zum Ausschluss des Down-Syndroms verzichten zu wollen.

Bleiben wir einmal bei der Beratung. Nach § 5 des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz - SchKG) ist »die notwendige Beratung ergebnisoffen zu führen«. Ferner heißt es dort: Die Beratung »geht von der Verantwortung der Frau aus«, sie »soll ermutigen und Verständnis wecken« und dem »Schutz des ungeborenen Lebens« dienen. Muss man nach den Ergebnissen Ihrer Studie also ernsthaft bezweifeln, dass die gesetzlichen Vorgaben überall erfüllt werden?

Das muss man wohl, auch wenn noch unklar ist, ob die Daten für die Bundesrepublik Deutschland repräsentativ sind und warum nicht jede Schwangere, die ohne Gesundheitsgefährdung ihr Kind zur Welt bringen könnte, zum Leben mit dem betroffenen Kind ermutigt wird. Unsere Daten weisen jedenfalls darauf hin, dass das Beratungsangebot qualitativ verbessert werden muss, z.B. durch Vermittlung von Kontakten zu Familien, die ein Kind mit Down-Syndrom bekommen haben. Zugleich dokumentieren sie die Notwendigkeit einer Abkopplung der Pränataldiagnostik von der medizinischen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs, welche laut § 218a Abs. 2 StGB nur bei »Gefahr für das Leben oder Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes« der Schwangeren besteht, »die nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden« kann. Offenbar ist die Intention des Gesetzgebers, ungeborenes menschliches Leben auch in Schwangerschaftskonflikten zu schützen, manchen Beraterinnen und Beratern nicht ausreichend bewusst.

Was kann und was muss aus Ihrer Sicht getan werden, um den Anspruch, den das Gesetz an die Schwangerenberatung stellt, auch tatsächlich zu verwirklichen?

Viele junge Mütter und Väter wissen nur wenig über das Down-Syndrom. Wenn sie keinen Betroffenen kennen, dann ist eine solche Diagnose bei ihrem Kind zunächst einmal ein Schock. Diesen Schock müssen sie verarbeiten. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht - viele Tage, manchmal einige Wochen. Im ersten Moment haben die meisten Eltern mehr Zukunftsangst als »gute Hoffnung«. Also sind mehrere echte Informations- und Beratungsgespräche notwendig, welche die ganze Familie in den Blick nehmen, d.h. immer auch das ungeborene Kind. Eine solche ausführliche Beratung sollte Pflicht sein. Die Abtreibung als letzter Ausweg sollte im ersten Gespräch keine Rolle spielen dürfen, sondern erst diskutiert werden, nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgelotet wurden. Im ersten Gespräch muss es darum gehen, den Eltern verständlich zu machen, was die Diagnose Trisomie 21 bedeutet. Dazu gehört das Angebot, Kontakte zu Familien oder Einrichtungen herzustellen, in denen Menschen mit Down-Syndrom leben - wo man also persönliche Erfahrungen machen kann. Es ist heute sehr leicht, solche Kontakte herzustellen, zum Beispiel zu Selbsthilfegruppen, die über das Internet erreichbar sind. Nur wer ausreichend informiert ist, kann eine selbstbestimmte Entscheidung treffen.

Sie haben die unterschiedlichen Auswirkungen angesprochen, die eine Entscheidung für oder gegen ein Kind mit Down-Syndrom für die betroffenen Frauen, ihre Partner und mögliche Geschwisterkinder besitzt. Erlauben Ihre Studiendaten tatsächlich den Schluss, dass sich die Frauen, die sich trotz der Diagnose »Down-Syndrom« für ihr Kind entschieden haben, im Rückblick mit dieser Entscheidung viel leichter tun als die, die sich für eine Abtreibung entschieden haben?

Ob andere Frauen die Folgen einer Abtreibung genauso negativ bewerten wie unsere Studienteilnehmerinnen, das wissen wir nicht. Sicherlich muss bei unseren Daten eine durch das Studiendesign und die Vorgaben der Ethikkommission bedingte statistische Verzerrung berücksichtigt werden, und auch die Fallzahl dieser Gruppe ist leider relativ klein. Verallgemeinerungen sind deshalb nur sehr eingeschränkt möglich. Andererseits halten wir alle Daten, die Frauen betreffen, welche ihr Kind trotz Down-Syndrom angenommen haben, für repräsentativ. Die Zusammenschau führt zu dem genannten Schluss. Um diesen Befund unserer Pilotstudie an größeren Gruppen zu überprüfen, planen wir prospektive Untersuchungen zum gleichen Thema.

Man wird natürlich fragen müssen, ob ein solcher Befund nicht zumindest teilweise daran liegen könnte, dass bei den Kindern, deren Mütter sich für die Fortsetzung der Schwangerschaft entschieden, das Down-Syndrom überwiegend »leicht« ausgeprägt war?

Das ist eine wichtige Frage, der wir bei der Auswertung nachgehen mussten. Zunächst haben wir geschaut, ob die Häufigkeiten typischer Begleitkrankheiten und Komplikationen der Trisomie 21 (Herzfehler, Fehlbildungen des Magen-Darm-Trakts, Darmverschluss, Leukämie, Epilepsie) im Gesamtkollektiv den statistischen Erwartungen entsprachen. Dies war der Fall, was eine Verzerrung durch überproportional leichte Krankheitsausprägungen ausschloss.

Um herauszufinden, ob jene Mütter, deren Kinder relativ schwer betroffen sind, also zum Beispiel mehrere Begleitkrankheiten bzw. Komplikationen des Down-Syndroms aufweisen und/oder in den ersten sechs Lebensjahren längere Zeit im Krankenhaus verbringen mussten, die Folgen ihrer Entscheidung anders bewerten als die Vergleichsgruppe, haben wir dann die Angaben dieser Mütter separat analysiert und kamen zum gleichen Befund. Auch auf die Frage »Würden Sie heute Schwangere in einer Konfliktsituation zum Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom ermutigen?« antworteten 45 der 47 Frauen mit »Ja«, nur zwei machten keine Angaben. Unsere Studie belegt somit auf eindrückliche Weise, dass fast alle Befragten ihr besonderes Kind lieben gelernt haben, es als Bereicherung ihres Lebens und ihrer Familie betrachten und ihre Entscheidung nicht bereuen.

Wenn diese »LebensForum«-Ausgabe erscheint, ist der umstrittene PraenaTest, den die Biotech-Firma LifeCodexx vertreiben will, in Deutschland bereits zugelassen. Was erwarten Sie - angesichts der Ergebnisse Ihrer Studie - für Auswirkungen, wenn dieser Test flächendeckend zum Einsatz käme?

Das ist gar kein unwahrscheinliches Szenario. Im Moment sind Dienstleistungen, wie LifeCodexx sie anbietet, zwar nicht billig, aber die Preise werden fallen. Von den jährlich etwa 900.000 Schwangeren in Deutschland nehmen heute ungefähr 80 Prozent verschiedene Formen der pränatalen Diagnostik in Anspruch, also über 700.000 Frauen. Das ist der »Markt« für solche Tests, die eigentliche Zielgruppe, auch wenn LifeCodexx offiziell zunächst von beschränktem Einsatz spricht. Der Einführungspreis des PraenaTests liegt um 1.200 Euro, was im Blick auf die gesamte Zielgruppe 850 Millionen Euro Umsatz/Jahr ergäbe. Da lockt also viel Geld. Würde dieser Test zur Feststellung der Trisomie 21 irgendwann als Kassenleistung angeboten, wäre tatsächlich ein flächendeckender Einsatz zu befürchten. Die Verfügbarkeit eines Tests, dessen Kosten von der Allgemeinheit getragen werden, muss die gesellschaftliche Erwartung, ihn auch in Anspruch zu nehmen, verstärken, zumal die häufigste Konsequenz bei positivem Testergebnis - die Abtreibung - weithin toleriert wird.

Trisomie 21 ist heute schon die genetische Besonderheit, aufgrund derer Menschen vor der Geburt am häufigsten aussortiert werden. Bei dieser Diagnose entscheiden sich mehr als 90 Prozent der Schwangeren für die Abtreibung - selbst in einem späten Stadium der Schwangerschaft. Bliebe die Beratung so unbefriedigend wie in unserer Studie dokumentiert, wären Menschen mit DownSyndrom wahrscheinlich die ersten, die wegen ihrer genetischen Besonderheit weitgehend aus unserer Gesellschaft verschwinden. Da es dann auch immer weniger Eltern, Geschwister und Freunde dieser Menschen gäbe, verlören sie zunehmend ihre »Lobby«, die heute den Technokraten noch erheblichen Widerstand entgegensetzt.

Befürworter des neuen, nicht-invasiven Bluttests verweisen jedoch darauf, dieser sei für die Frauen und die Kinder viel risikoärmer als eine invasive Fruchtwasseruntersuchung. Die Firma LifeCodexx behauptet gar, der Test könne allein in Deutschland jährlich »600 bis 700 Kindern das Leben retten« ...

Der PraenaTest hat die Debatte zwischen Abtreibungsgegnern und - befürwortern wieder hochkochen lassen, weil er sich als Screeningverfahren eignet. Bisher lässt nur etwa jede 20. Schwangere eine gezielte Untersuchung auf das DownSyndrom durchführen, denn die Probenentnahme ist riskant. Eins von 100 Kindern kommt dabei unbeabsichtigt zu Tode. Das hat zumindest in Deutschland einen breiten Einsatz von Fruchtwasseruntersuchungen verhindert. Beim PraenaTest dagegen genügen wenige Milliliter Blut von der Schwangeren, um das kindliche Erbgut, von dem Bruchstücke in ihren Blutkreislauf gelangen, zu testen. Das ist ein wirklich niedrigschwelliges Angebot, fast ohne Risiko für das ungeborene Kind - wenn es denn keine Trisomie 21 hat. Für alle, die meinen, man dürfe sich aussuchen, ob man ein Kind behält oder nicht, ist so ein »harmloser Bluttest« in der Frühschwangerschaft genau das passende Angebot. Die Zahl der Abtreibungen dieser besonderen Kinder wird also steigen.

Da die Gruppe derer, die sich wegen einer Trisomie 21 für die Abtreibung entscheiden würden, bei anderen Krankheiten oder Auffälligkeiten sicher die gleiche Entscheidung trifft und da weitere Tests im Ausland schon auf den Markt drängen, erscheint mir die Vorstellung, durch Einführung eines schonenden Verfahrens zum Aussortieren bestimmter Menschen anderen das Leben zu retten, sehr kurz gedacht und im besten Falle naiv.

Laut einem Rechtsgutachten des Bonner Staatsrechtlers Klaus Ferdinand Gärditz, das im Auftrag des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, erstellt wurde, würde eine Zulassung des PraenaTests gegen mehrere Gesetze verstoßen. Dagegen kommt ein von LifeCodexx in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten offenbar zu dem Schluss, dass der Test alle gesetzlichen Vorgaben erfülle und eine Zulassung verfassungskonform sei. Muss das einen Mediziner nicht verwirren oder ist für Sie klar erkennbar, wer hier das Recht auf seiner Seite hat?

Aus meiner laienhaften Sicht bedeutet die Einführung dieses Tests eine schwere Missachtung unseres Grundgesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention.

Denn dort ist jeweils ein Diskriminierungsverbot festgeschrieben. Die meisten, die sich mit Pränataldiagnostik befassen, werden die Botschaft eines vorsorglichen Tests in der Frühschwangerschaft so verstehen, dass damit der Geburt eines Kindes mit Trisomie 21 vorgebeugt werden soll, was zweifellos die Sicherheit von Ungeborenen mit Trisomie 21 gefährdet und das Lebensrecht einer ganzen Bevölkerungsgruppe in Frage stellt. Das sieht man freilich nicht so, wenn man vor den Folgen der Anwendung die Augen verschließt.

Laut der Firma LifeCodexx lassen sich mit einer Modifikation des PraenaTests auch noch andere Chromosomenabweichungen feststellen. Mit ähnlichen Methoden soll es sogar möglich sein, schon im Embryonalstadium Risiken für genetisch bedingte Erkrankungen festzustellen, die bei dem betreffenden Menschen möglicherweise - vielleicht aber auch nie - erst spät im Leben auftreten. Wird hier die zunehmende Vermessung des Menschen nicht ad absurdum geführt?

Ja, das Gefühl habe ich auch. Wer sich in der Genetik auskennt, der weiß: Gene sind nicht alles. Durch einen Gentest lässt sich weder der Schweregrad noch der Verlauf einer Krankheit sicher vorhersagen. Umso inakzeptabler ist es, anhand eines Gentests zu entscheiden, wer leben darf und wer nicht. Da viele jedoch keinen Zugang zu den aktuellen wissenschaftlichen Debatten haben, blüht das Geschäft mit der Angst vor »schlechten Genen«.

Die Pränataldiagnostik ist im Gesundheitssektor heute eine der größten Wachstumsbranchen - mit goldener Zukunft: Da es viele genetische Eigenschaften gibt, die werdende Eltern beunruhigen, werden immer mehr Gentests angeboten. Und mit dem Angebot wächst die Nachfrage. Jeder neue Test ist ein weiterer Schritt in Richtung Kind auf Bestellung. Wahrscheinlich wird es keine Kataloge geben, aber Listen von Krankheiten oder Eigenschaften, die sich durch vorgeburtliche Tests »ausschließen« lassen, ähnlich wie bei der Präimplantationsdiagnostik. Begüterte werden sich die genetische Selektion auch nach modischen Maßgaben leisten.

Dabei kann kein Test auf dieser Welt ein gesundes Kind garantieren! Als Kinderarzt frage ich mich: Wie werden Eltern, die viel Geld investieren, um abzusichern, dass ihr ungeborenes Kind gesund ist, damit umgehen, wenn dieses Kind zum Beispiel durch Sauerstoffmangel während der Geburt eine Hirnschädigung erleidet? Werden sie es dann verstoßen, weil es nicht mehr ihren Vorstellungen entspricht? Wen werden sie auf Schadensersatz verklagen?

Natürlich ist der Wunsch nach gesunden Kindern in Ordnung. Kaum jemand wünscht sich ein behindertes Kind. Aber fest steht: Auch ein behindertes Kind hat das Recht auf Leben. Eltern müssen verstehen lernen, dass Kinder weder nach DIN normierbar noch Konsumprodukte sind, sondern Menschen, für die von Anfang an gilt: Von Rückgabe und Umtausch ausgeschlossen! Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass auch Eltern mit gesundem Nachwuchs der Gedanke an Umtausch nicht immer fernliegt, wenn ein Kind zum Beispiel als Teenager Probleme bereitet. Das macht diesen Gedanken aber nicht legitim.

Sie sind nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Arzt mit viel Erfahrung auf dem Gebiet der Perinatalmedizin. Können Sie sagen, wann eine pränatale Diagnostik Sinn macht und segensreich sein kann und wo sie Unheil stiftet? Oder sind die Grenzen tatsächlich so fließend, wie manche Medien glauben machen wollen?

Sinnvoll ist vorgeburtliche Diagnostik dann, wenn es um Krankheiten geht, die sich bei rechtzeitiger Kenntnis besser behandeln lassen. In solchen Fällen gilt natürlich: Je weniger Risiko für Mutter und Kind und je sicherer der Test, desto besser. Andererseits ist größte Zurückhaltung geboten, wenn ein Testergebnis für das Kind zum Todesurteil werden kann. Außerdem haben sich leider manche Tests etabliert, die jenen Eltern, welche keine Experten für Wahrscheinlichkeitsrechnung sind, kaum Informationsgewinn bringen.

Für sinnvoll und segensreich halte ich alle empfohlenen Ultraschalluntersuchungen mit dem Ziel, die Entwicklung des Kindes im Mutterleib zu beurteilen und Entwicklungsstörungen frühzeitig zu erkennen. Damit lassen sich oft Befürchtungen und Sorgen der Schwangeren abbauen. Bei Auffälligkeiten können Maßnahmen geplant werden, die eine optimale Behandlung von Mutter und Kind ermöglichen. Auch die im Mutterpass genannten Tests auf Infektionen oder Blutgruppenunverträglichkeit sind sinnvoll, weil ein positiver Befund geeignete Vorsorgemaßnahmen nach sich zieht. Im Falle einer risikobehafteten Schwangerschaft kommen darüber hinaus Untersuchungen in Frage, mit denen gezielt einzelne Eigenschaften des Ungeborenen bestimmt werden sollen. Wenn solche Tests dazu dienen, dem Kind oder seiner Mutter medizinisch zu helfen, dann ist - selbstverständlich im Blick auf beide - zu fragen, ob der erwartete Nutzen das Risiko rechtfertigt. Aus manchem Testresultat ergeben sich therapeutische Konsequenzen: eine vorfristige Entbindung, eine Behandlung des Patienten im Mutterleib durch Blutübertragung, Medikamente oder chirurgische Eingriffe, die Planung der Geburt in einer spezialisierten Klinik, eine rechtzeitige Behandlung unmittelbar nach der Geburt.

Wenn Pränataldiagnostik jedoch wesentlich dazu beiträgt, Eltern zu verunsichern oder die Annahme ihres Kindes, so wie es ist, in Frage zu stellen, dann verfehlt sie ihren eigentlichen Zweck, stiftet Unheil und sollte für jeden Diagnostiker selbst als Fehlentwicklung erkennbar sein.

Was müsste die Politik tun, um die Beachtung der von Ihnen genannten Grenzen durchzusetzen?

Die meisten Politiker sind sich erstaunlich einig: Die Würde des Menschen hängt nicht davon ab, ob das Chromosom 21 zweifach oder dreifach vorhanden ist. Viele haben außerdem verstanden, dass jeder von uns jederzeit zum Behinderten werden kann. Wer also zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Unterscheidung in Behinderte und Unbehinderte unsinnig ist, weil sie das Wesen des Menschen verkennt, der sollte alle Anstrengungen unternehmen, Leben mit besonderen Kindern für die betroffenen Familien einfacher zu machen. Er müsste dafür eintreten, dass in unserem so reichen und zugleich so kinderarmen Land jede Schwangere sich darauf verlassen kann, dass die Gesellschaft ihr Kind, so wie es ist, willkommen heißt. Nicht die Haftpflichtversicherung des Frauenarztes, sondern die gesamte Solidargemeinschaft sollte die Verantwortung übernehmen, wenn einer Familie durch die Geburt eines Kindes mit genetischer Besonderheit Nachteile entstehen. Das ist notwendige Anti-Diskriminierungspolitik. Ich frage mich zum Beispiel, warum ein großer Teil der Grünen - kampferprobt, wenn es darum geht, bedrohte Tiere und Pflanzen unter Naturschutz zu stellen - nicht gleichermaßen für Menschen mit genetischen Besonderheiten, für die menschliche Vielfalt streitet. Dazu gehört natürlich, den unverantwortlichen Umgang mit Menschen am Lebensbeginn zu reflektieren, der in unserer Gesellschaft leider Normalität geworden ist, und den Ausbau von Selektierdienstleistungen nicht noch finanziell zu fördern, wie es das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit dem PraenaTest getan hat.

In den hitzigen Debatten der letzten Wochen zum Thema Beschneidung wurde gefordert, dem Kindeswohl mehr Bedeutung zuzumessen als der Religionsfreiheit der Eltern. Gilt das nicht viel mehr noch, wenn ein Test das Leben des Kindes bedroht, müsste da nicht das Kindeswohl eindeutigen Vorrang haben vor dem Zugriffsrecht der Eltern auf Informationen über ihr Kind? Hier besteht dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Zudem scheinen mir eine Abkopplung der Pränataldiagnostik von der medizinischen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs und ein richtungsweisender Beschnitt ihrer privatwirtschaftlichen Auswüchse angezeigt.


IM PORTRAIT
Prof. Dr. med. Holm Schneider Jahrgang 1969, arbeitet als Kinderarzt und Leiter der Abteilung für Molekulare Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Seit dem 20.8.2012 erhältlich: Der sogenannte »PraenaTest« der Firma LifeCodexx.
- Professor Schneider bei der Untersuchung eines Jungen mit Down-Syndrom.

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 103, 3. Quartal 2012, S. 14 - 18
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2012