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GESCHICHTE/025: 125 Jahre Psychiatrie in Bethel - Vom Pensionärshaus zum komplexen Hilfenetz (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Oktober 2011

125 Jahre Psychiatrie in Bethel
Vom Pensionärshaus zum komplexen Hilfenetz

von Petra Wilkening


Auf reine, stärkende Luft, Bäder im Hause und den täglichen Arztbesuch durften sich erholungsbedürftige und nervöse Damen ab 1886 in Bethel freuen. In jenem Jahr eröffnete die Diakonissenanstalt Sarepta das Haus Bethesda als Nervensanatorium für Privatpatientinnen. Damit begann vor 125 Jahren das Engagement Bethels für psychisch kranke Menschen.


"Friedrich von Bodelschwingh hat es gemacht wie Robin Hood", kommentiert Bethel-Historikerin Bärbel Bitter. "Von den einen hat er es genommen, und den anderen hat er es gegeben." Das bestätigt auch ihr Betheler Kollege Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl: "Die Pensionärshäuser, die beträchtliche Überschüsse abwarfen, dürften zur Querfinanzierung des chronisch defizitären Epilepsiebereichs gedacht gewesen sein."

Neben dem Haus Bethesda für Damen der gebildeten Stände gehörte das Haus Pella zu den Pensionärshäusern. Es wurde - ebenfalls 1886 - von der Diakonenanstalt Nazareth für gemütskranke Männer eröffnet. Im selben Jahr kam in der Senne der Eichhof hinzu - laut Bodelschwingh ein Pensionat für "vornehme Schlingel". Durch leichten Zwang zu regelmäßiger Tätigkeit sollten sie die Anleitung zu einem arbeitsamen Leben erhalten.

Psychische Erkrankungen galten als Erbkrankheiten, die sich von Generation zu Generation verstärkten. Wer es sich leisten konnte, brachte betroffene Angehörige daher lieber in ein Sanatorium anstatt in eine stigmatisierende "Irrenanstalt". Unter den Menschen, die in Bethel aufgenommen wurden, gab es auch solche mit schweren psychischen Erkrankungen, für die in den Folgejahren die Isolierhäuser Magdala und Morija gebaut wurden.

Eine Zeitlang seien fast ausschließlich Frauen und Männer der I. und II. Klasse auf genommen worden, berichtet Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl. Das habe sich geändert, als mit dem westfälischen Provinzialverband ein Vertrag über die Aufnahme mittelloser evangelischer "Geisteskranker" geschlossen worden sei, so der wissenschaftliche Leiter des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Im Jahr 1898 eröffnete Bethel daraufhin gleich vier neue Häuser: Megiddo und Jericho in der Senne im späteren Eckardtsheim für Männer, Mahanaim und Adullam in Bethel für Frauen.

Die Therapie in Bethel folgte der "modernen Irrenheilkunde". Die Therapiemöglichkeiten waren damals jedoch begrenzt. Zu ihnen zählten eine dauernde Bettruhe in Wachsälen von bis zu 20 Patienten oder auch warme Dauerbäder. "Die Psychiatrie war lange ein Abschiebebahnhof für auffällige Menschen. Wirklich helfen konnte man ihnen nicht", erläutert Bärbel Bitter von der Historischen Sammlung Bethel. Schon damals galt in Bethel die Arbeitstherapie als eine erfolgreiche Behandlungsmethode.

Als 1911, vor hundert Jahren, das Haus Neu-Morija eröffnet wurde, war der Grundstein für die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel des Ev. Krankenhauses Bielefeld gelegt. Neu-Morija ist der heutige Altbau am Standort Gilead IV. Die Einrichtung umfasste 120 Plätze in zwei Häusern. Eine staatliche Besuchskommission bestätigte ihr ihre Fortschrittlichkeit. Und das, obwohl das anfängliche moderne Klinikkonzept des neuen Chefarztes Dr. Albert Knapp von Friedrich von Bodelschwingh aus Kostengründen verworfen und der Arzt schon 1910 wegen "prinzipieller Differenzen" vom Dienst beurlaubt worden war. Das neue Haus wurde als ein Ort beworben, der den Pflegebefohlenen die "heimatliche Luft eines christlichen Familienlebens und zugleich ein möglichst reiches Maß ungezwungener Beschäftigung in Feld und Garten" bot. "Der therapeutische Impetus war deutlich zurückgetreten", betont Hans-Walter Schmuhl.

Ab den 1920er-Jahren änderte sich dieses; es wurden neue Therapien entwickelt, die auch in Bethel angewendet wurden. "Dazu zählten die Dämmerschlafbehandlung und in den 1930er-Jahren die Schock- und Komatherapien", nennt Bärbel Bitter Beispiele. "Der damalige leitende Betheler Psychiatriechefarzt Dr. Karsten Jaspersen hielt die Erfolge der Elektroschockbehandlung bei Depressionen für die erfreulichsten und bedeutsamsten unter den gängigen Therapien."

Dr. Jaspersen war seit 1931 Mitglied in der NSDAP. Dennoch widersetzte er sich entschieden der Euthanasie und verweigerte das Ausfüllen von Meldebogen für seine Patienten. Er argumentierte, das Ausfüllen sei nach dem Strafgesetzbuch eine Beihilfe zum Mord. Während die Euthanasie in Bethel auf einhellige Ablehnung stieß, gab es gegen Zwangssterilisationen psychisch kranker Menschen im Dritten Reich keinen Widerstand.


Psychiatrie-Reform

In den 1950er-Jahren brachten Psychopharmaka einen großen Fortschritt in der Behandlung psychischer Erkrankungen, aber erst die Psychiatrie-Reform in den 1970er-Jahren in Deutschland bewirkte grundlegende Veränderungen. Einer der führenden Vertreter der Reform, Dr. Niels Pörksen, wurde 1984 leitender Arzt der Betheler Psychiatrie.

Während sich die psychiatrische Versorgung vor der Reform auf Großkrankenhäuser und wenige niedergelassene Nervenärzte gestützt hatte, entwickelte sich mit ihr ein umfassendes Netz an gemeindenahen bedarfsgerechten Hilfen. Seit 1985 übernimmt Bethel die psychiatrische Pflichtversorgung der Stadt Bielefeld. An die Stelle der einstigen Pensionärshäuser sind stationäre, teilstationäre und ambulante Hilfen getreten - in einem Arbeitsfeld, das sich in die drei Bereiche Allgemeine Psychiatrie, Suchtkrankenhilfe und Gerontopsychiatrie spezialisiert hat und Behandlung sowie Eingliederungshilfe umfasst. Mit vielen Konzepten leistet Bethel - allein oder im Verbund mit anderen Trägern - Pionierarbeit in Deutschland. Dazu gehört der Trialog von Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Professionellen oder auch die Behandlungsvereinbarung. Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Psychiatrie-Enquête betonte Bethel-Vorstand Dr. Günther Wienberg im Jahr 2000: "Psychiatrische Hilfen haben heute so zu funktionieren, dass Ausgrenzung, Entwurzelung und Isolierung verhindert werden. Dies ist die Grundidee der Gemeindepsychiatrie, die wir auch in Bethel verfolgen!" Ein Grundsatz, der bis heute gilt.


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Quelle:
DER RING, Oktober 2011, S. 6
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2011