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BUCHTIP/456: Hoffnung ist der erste Schritt - Buch über Recoverygeschichten (Der Ring)


DER RING

Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
November 2014

Buch über Recoverygeschichten
Hoffnung ist der erste Schritt

Von Christina Heitkämper



"Wir brauchen Vorbilder", sagt Angelika Filius. Sie ist eine von 25 Autoren, die in dem Buch "Die Hoffnung trägt - Psychisch erkrankte Menschen und ihre Recoverygeschichten" von ihren Genesungswegen erzählen. Betroffene, die Hoffnung und Zuversicht verloren haben, können von den individuellen Erfahrungsberichten von Menschen, die vergleichbare Situationen erlebt haben, profitieren. Das bestätigt Mitherausgeber Prof. Dr. Michael Schulz, Leiter des Studiengangs Psychiatrische Pflege an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld-Bethel.


"Aus meiner Wahrnehmung bin ich aus dem höchsten Himmel großer Bewusstheit in den tiefsten Keller geistiger Verwirrung, seelischer Erschütterung und körperlicher Zerstörung gedonnert", beschreibt Angelika Filius aus Bielefeld in dem Buch. Schon als junge Frau litt sie unter Panikattacken und Depressionen. In einer akuten psychischen Krise verursachte sie vor 15 Jahren als Geisterfahrerin einen Unfall, bei dem sie ein Bein verlor. An die zehn Tage nach dem Unglück hat sie keine Erinnerungen. Nur aus Erzählungen weiß sie, dass sie ans Bett fixiert und mit Medikamenten ruhig gestellt werden musste. "Seit fünfzehn Jahren sammle ich nun - ausgehend von diesem Nullpunkt - meine Seele, meinen Geist und meinen Körper wieder ein."

Geholfen hat ihr dabei der Recovery-Ansatz, der in Deutschland noch nicht weit verbreitet ist. Recovery steht für Genesung. Prof. Dr. Michael Schulz warnt jedoch davor, Genesung mit Gesundung gleichzusetzen. Vielmehr gehe es darum, dass die Betroffenen die Kontrolle über das eigene Leben wiedererlangten und einen Sinn jenseits der Krankheit entdeckten. Anders als die traditionellen Therapieansätze in der Psychiatrie stellt das Recovery-Konzept den Menschen in den Mittelpunkt und nicht die Symptome. "Die Fachpersonen unterstützen die Betroffenen dabei, ihren individuellen Lebensweg zurückzugewinnen, indem sie Rahmenbedingungen schaffen", erklärt der Pflegewissenschaftler.


Stigma der Unheilbarkeit

Am wichtigsten sei es, dass psychisch erkrankte Menschen Hoffnung auf Genesung entwickelten. "Ohne Hoffnung ist Recovery nicht möglich", sagt Michael Schulz. Dem im Wege stünde jedoch häufig das Stigma der Unheilbarkeit von psychischer Krankheit. Das sei nicht nur sehr belastend für die Betroffenen, sondern erschwere auch die Bewältigung der Erkrankung. Das bestätigt auch Angelika Filius. "Man sollte den Begriff 'Psychisch krank' ganz aus seinem Vokabular streichen. Wenn ich mir immer Gedanken mache, das ist normal und ab hier ist es krank, komme ich in Teufels Küche."

Sie erinnert sich noch sehr genau daran, was ein Therapeut damals zu ihr sagte: "Du bist nicht psychisch krank. Aber deine Seele hat sich durch diesen Schock in den letzten Winkel verkrochen. Jetzt geht es darum, die Verbindung wiederherzustellen." Diese Worte gaben den Anstoß für ihren Genesungsweg. Angelika Filius beschreibt sie in dem Buch als "Zauberworte". Mit der Begleitung des Therapeuten und der Unterstützung ihrer Familie und Freunde gelang es ihr, einen neuen Lebenssinn zu finden. So wie der Therapeut ihr damals Inspiration gegeben hat, soll das Buch "Die Hoffnung trägt" mit den geschilderten Krankheitserfahrungen anderen Betroffenen und Angehörigen Mut machen.

"Das Buch ist eine Brücke zur Welt, gerade für Menschen, die sich zurückgezogen haben", erklärt Angelika Filius. Indem sie Parallelen zu ihrem Leben erkennen würden, könnten sie aus den authentischen Geschichten Inspiration für ihren eigenen Recoveryweg schöpfen. Sie sollen zeigen, dass jeder den Schritt aus einer Krise in ein neues Leben schaffen kann. In den einzelnen Berichten wird deutlich, wie unterschiedlich und individuell die Möglichkeiten sind.


"Wie ein Uhrwerk"

"Als wir bei den Autorinnen und Autoren wegen des Buches anfragten, haben wir ganz bewusst keine Vorgaben gemacht und das Projekt offen gehalten", so Prof. Dr. Schulz. Zum Vorbild hatten sich die Herausgeber ein Buch mit Geschichten und Gedichten von Betroffenen aus dem Jahr 1994 in Amerika genommen. Das Buch "Die Hoffnung trägt" mit 25 biografischen Geschichten aus Deutschland ist in diesem Jahr erschienen. "Ich war sehr überrascht und habe selten Texte gelesen, die so dicht auf wenigen Seiten ein ganzes Leben zusammenfassen", sagt Michael Schulz.

Angelika Filius fiel es nicht schwer, so offen ihre Geschichte zu erzählen. Auf ihrem persönlichen Recoveryweg habe sie viel über sich gelernt. Deshalb sieht sie in den Krisen auch Chancen. "Ich brauchte die Erschütterung. Seitdem fühle ich mich lebendiger und spüre viel mehr Facetten des Lebens." Früher sei sie sehr leistungsorientiert gewesen und habe "wie ein Uhrwerk" funktioniert.

Ihre Erfahrungen gibt sie heute auch in Vorträgen und Schulungen an Fachkräfte in Kliniken und Bildungseinrichtungen weiter. Auf diesem Weg hat sie vor einigen Jahren Prof. Schulz kennen gelernt. "Es ist wichtig, die persönlichen Geschichten für die Bildung zu nutzen und das Erfahrungswissen auf diese Weise in die Lehre einzubinden", sagt dieser. "Denn auch die Profis brauchen Inspiration", fügt Angelika Filius hinzu.

"Die Hoffnung trägt" bestärkt das Recovery-Modell und verdeutlicht anhand der Porträts, wie erfolgreich dieser Ansatz sein kann. "Das Buch zeigt das ganzheitliche Leben der Menschen", sagt Michael Schulz. Er kritisiert, dass in klassischen Forschungsarbeiten meist nur einige Wochen oder Monate untersucht werden. Viel aussagekräftiger seien dagegen die Erfahrungsberichte im Buch, die 10 bis 20 Jahre aus dem Leben der Betroffenen darstellten.


Michael Schulz und Gianfranco Zuaboni (Hrsg.).
"Die Hoffnung trägt - Psychisch erkrankte Menschen
und ihre Recoverygeschichten."
BALANCE buch + medien verlag, Köln 2014.
192 Seiten, 24,95 Euro. ISBN 978-3-86739-090-3.

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Quelle:
DER RING, November 2014, S. 10-11
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2014