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BUCHTIP/440: Sprachgebrauch erforscht - Vom "armen Krüppel" zum "behinderten Mitbürger" (Bethel)


Pressemitteilung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - 04.02.2011

Bethel-Historiker erforscht Sprachgebrauch

Vom "armen Krüppel" zum "behinderten Mitbürger"


Bielefeld-Bethel. "Menschen mit Behinderung", "Krüppel" oder gar "Idioten"? Viele Begriffe benennen Menschen, die mit einer Einschränkung leben. In der Vergangenheit griff man oftmals auf diskriminierende Bezeichnungen zurück. Nicht selten spiegelt Sprache den Integrationswillen oder -unwillen ihrer Zeit wider. Bethel-Historiker Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl hat die Geschichte des Begriffs "Behinderung" und seiner Vorgänger untersucht. Die Ergebnisse stellt er jetzt in einem Buch vor.

Mit seiner Publikation "Exklusion und Inklusion durch Sprache" macht der Bielefelder Autor sensibel für die Tücken des Sprachgebrauchs und zeigt auf, wie Menschen durch eine Bezeichnung in die Gesellschaft miteinbezogen oder aus ihr ausgeschlossen werden. Dabei sei das gesprochene oder geschriebene Wort "weit mehr als ein bloßer Spiegel der Realität". Sprache sei ein Faktor, der gesellschaftliche Wirklichkeit präge, so der Professor, der am Institut für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel forscht.

Prof. Schmuhl untersuchte einen Zeitraum von rund 100 Jahren, bis in die frühen Tage der Bundesrepublik. Zu Beginn steht der umgangssprachliche und stigmatisierende Begriff "Krüppel". Das extrem negativ besetzte Wort machte sich die Innere Mission zu Nutze, die sich der Fürsorge von Menschen mit körperlichen Schädigungen verschrieben hatte. Man wollte mit einem drastischen "Schockbegriff" auf eine Notlage aufmerksam machen. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts sprach man bei orthopädischen Einschränkungen von "Schiefwuchs", "Formgebrechen" oder "Abnormität der Haltung". Allerdings setzten sich diese Begriffe ebenso wenig durch wie der 1885 vom "Allgemeinen Deutschen Sprachverein" vorgeschlagene "Hilfling", der den behinderten Menschen vorrangig in seiner Hilfebedürftigkeit kennzeichnet.

In Deutschland setzten die Nationalsozialisten die Bezeichnung einer "körperlichen oder geistigen Behinderung" durch, wobei scharf unterschieden wurde zwischen "wertvoller Arbeitsreserve" und "unverbesserlichem Menschenmaterial". Der allgemeine Sprachwandel hin zur Wortfamilie "Behinderung" reicht bis in die 1960er-Jahre. Er war das Ergebnis einer gezielten Sprachpolitik, an der der Gesetzgeber, die Träger von Fürsorgeeinrichtungen, Wissenschaftler und, mit wachsendem Einfluss, auch die Selbsthilfeverbände mitwirkten.

Prof. Schmuhl schließt seine Arbeit mit einer Warnung vor "oberflächlicher Political Correctness". Beispielsweise wurde aus dem ursprünglich integrativ belegten Begriff "behindert" ein Schimpfwort. Es zeige sich, dass eine verordnete Sprachregel, die nicht mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmt, in der Sprachpraxis unterlaufen werde. "Vielleicht haben wir die richtigen Begriffe auch nur noch nicht gefunden?", so der Historiker.


"Exklusion und Inklusion durch Sprache" ist als elfter Band in der Reihe "IMEW Expertise" des Berliner Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft erschienen. Die 115-seitige Publikation ist im Buchhandel unter der ISBN 978-3-9811917-2-1 zum Preis von 12 Euro erhältlich.


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Quelle:
Pressemitteilung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel vom 04.02.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2011