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BILDUNG/332: Schulreformen in Deutschland und die UN-Behindertenrechtskonvention (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 138/Dezember 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Der steinige Weg zur Inklusion
Schulreformen in Deutschland und die UN-Behindertenrechtskonvention

von Jonna M. Blanck, Benjamin Edelstein, Justin J.W. Powell



Kurz gefasst: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die Deutschland 2008 ratifiziert hat, verlangt die Gewährleistung "inklusiver" Bildung. Dies würde tiefgreifende Reformen in den Bundesländern notwendig machen und stellt letztlich das gegliederte Schulsystem insgesamt in Frage - gegen starke Beharrungskräfte. Wie diese überwunden werden können und welche Bedeutung die UN-Konvention dabei spielen kann, zeigt ein Vergleich zwischen Schleswig-Holstein und Bayern.


Im Jahr 2008 hat Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und sich damit verpflichtet, ein "inklusives Bildungssystem" zu gewährleisten. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, muss Deutschland tiefgreifende Reformen einleiten, denn im internationalen Vergleich wird hierzulande ein besonders hoher Anteil von Schülern mit Behinderungen an Sonderschulen außerhalb des allgemeinen Schulsystems unterrichtet. Die systematische Aussonderung von Schülern mit sogenanntem sonderpädagogischem Förderbedarf aus allgemeinenen Schulen ist nach Auffassung von Menschenrechtsexperten mit der UN-Konvention unvereinbar.

Doch die UN-Konvention ist kein Selbstläufer. In Deutschland gibt es massive Reformhindernisse, denn das Sonderschulwesen ist hier gesellschaftlich tief verwurzelt. Die Legitimation separater Förderschulen beruht auf der verbreiteten Überzeugung, es müsse für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Schonraum geben. Die sonderpädagogische Profession hat ferner selbst ein starkes Interesse am Fortbestand eigenständiger Sonderschulen. Deren Auflösung wäre für sie nämlich mit beruflichen Unsicherheiten verbunden, die unter anderem ihre Arbeitsbedingungen und Besoldung betreffen. Als Sachverständige können sie ihre auf die Erhaltung des Sonderschulwesens ausgerichteten beruflichen Interessen und professionellen Überzeugungen politisch wirksam artikulieren.

Eine grundlegende Reform wäre zudem organisatorisch enorm aufwendig und übergangsweise mit Zusatzkosten verbunden. Verwaltungsroutinen (wie die Feststellung des Förderbedarfs) und pädagogische Praktiken müssen angepasst werden. Die Ausbildung von Sonderpädagogen und Lehrkräften allgemeiner Schulen muss reformiert und das jetzige Personal für den gemeinsamen Unterricht weitergebildet werden - und das in Zeiten knapper Mittel und einer finanziellen Abstinenz des Bundes wegen des sogenannten Kooperationsverbots. Daher werden die Kosten der Integration bzw. Inklusion von der Politik deutlich wahrgenommen, die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten des Sonderschulwesens werden dagegen bislang kaum berücksichtigt.

Schließlich steht der Anspruch auf inklusive Bildung in einem gemeinsamen Unterricht für alle im Widerspruch zur Gliederung des allgemeinen Schulsystems selbst. Dem Grundsatz der Inklusion, dass jeder Schüler unterschiedlich ist und Vielfalt wertgeschätzt wird, steht die mittlerweile widerlegte Prämisse des gegliederten Schulsystem gegenüber, Schüler würden in leistungshomogenen Gruppen grundsätzlich bessere Lernergebnisse erzielen. Das gegliederte System ist gerade darauf ausgelegt, die Vielfalt von Lerngruppen gering zu halten, indem es Schüler vermeintlich "begabungsgerecht" auf unterschiedlich anspruchsvolle Schulformen verteilt. Dabei müssen Sonderschulen all jene Schüler aufnehmen, die von den Regelschulen aussortiert werden, weil sie nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Bildungsfähigkeit und Normalität entsprechen, an denen allgemeine Schulen und Lehrpläne implizit ausgerichtet sind. Eine vollständige Auflösung des Sonderschulwesens würde somit das gesamte Schulsystem unter Veränderungsdruck setzen, weil die Aufgabe der "besonderen Förderung" vermeintlich nichtbildungsfähiger und anormaler Schüler dann innerhalb allgemeiner Schulen stattfinden müsste.

Die Umsetzung der UN-Konvention berührt somit unweigerlich die Schulstrukturdebatte und damit einen Kernkonflikt der deutschen Schulpolitik, der seit Jahrzehnten heftige politische Auseinandersetzungen und Reformblockaden hervorruft. In der Folge stehen deutsche Bildungspolitiker vor der Frage: Wie, wenn überhaupt, kann das Schulsystem und insbesondere das Sonderschulwesen im Sinne inklusiver Bildung verändert werden, ohne dabei den strukturellen Aufbau des Schulsystems grundlegend zu verändern?

Die Bilanz der Sonderschulen ist seit Jahrzehnten verheerend. Etwa drei Viertel aller Sonderschüler verlassen die Schule ohne Schulabschluss. Ihre Absolventen haben kaum Chancen auf einen erfolgreichen Übergang in Berufsausbildung und Arbeitsmarkt; viele kämpfen jahrelang mit dem Stigma der "Anormalität". Doch der Weg zur inklusiven Schule ist angesichts der bestehenden Reformhindernisse extrem steinig und es ist vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, dass das Sonderschulwesen bis zur Ratifizierung der UN-Konvention in kaum einem Bundesland grundsätzlich infrage gestellt worden ist.

Gleichwohl hat es trotz Reformhindernissen auch Bewegung gegeben. So ist es reformorientierten Akteuren in einigen Bundesländern seit den 1970er Jahren gelungen, zumindest parallel zum Sonderschulwesen integrative Formen der sonderpädagogischen Förderung zu schaffen. (Integration bedeutet dabei, dass Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen unterrichtet werden, was mit Inklusion im oben genannten Sinne nicht gleichzusetzen ist.) Warum dies in manchem Bundesland besser gelang als in anderen, lässt sich am Beispiel des im schulischen Bereich vergleichsweise inklusiven Bundesland Schleswig-Holstein gut zeigen - insbesondere im Kontrast zum Nachzügler Bayern.

Die divergierenden Entwicklungen in diesen beiden Ländern lassen sich anhand der Sonderschulquoten im Grundschulbereich besonders gut illustrieren, denn integrative Beschulungsformen wurden immer zunächst im Grundschulbereich ausgebaut und wuchsen - wenn überhaupt - von dort hoch. Eine hohe Sonderschulquote im Primarbereich verweist daher auf eine besonders hohe Stabilität des Sonderschulwesens. Betrachtet man diese Quoten über die Zeit, so zeigen sich gegenläufige, fast spiegelbildliche Entwicklungen: Während die Quote in Schleswig-Holstein über die Zeit kontinuierlich abnahm, stieg sie in Bayern im selben Zeitraum sogar an.

Was ist in den beiden Ländern jeweils passiert? In Bayern wurde die integrative Schulentwicklung von politischen Entscheidungsträgern lange Zeit nicht unterstützt. Das Wissen um die Skepsis im Kultusministerium hemmte die Vernetzung reformorientierter Akteure in den Schulen und Schulverwaltungen und verhinderte damit den systematischen Informationsaustausch. Deshalb blieb es lange Zeit bei lokal begrenzten Einzelvorhaben schulischer Integration. Erst zu Beginn der 2000er Jahre gab es in Bayern zaghafte Bestrebungen, die Integration auszubauen. Schulgesetzliche Änderungen verfolgten dabei aber vorrangig das Ziel, die Gesetzeslage an die Praxis anzupassen, die in puncto Integration längst am Gesetzgeber vorbeigezogen war. Darüber hinaus wird Integration in Bayern auch heute ausschließlich im Rahmen der bestehenden Schulformengliederung zugelassen.

Mit der Schulgesetznovelle im Jahr 2011 wurden zwar die Möglichkeiten der Integration etwas ausgeweitet und die "inklusive Schule" offiziell zum Entwicklungsziel aller Schulen erklärt. Dennoch blieben die leistungsbezogenen Zugangsvoraussetzungen für den Besuch der weiterführenden Schulen unverändert bestehen und gelten grundsätzlich auch für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Integration findet in Bayern daher vor allem an Hauptschulen statt, was für ihre Akzeptanz alles andere als förderlich ist. Die beschriebenen Reformhindernisse sind in Bayern also stark ausgeprägt und Sonderschulen in der bayrischen Schullandschaft damit nach wie vor fest verankert.

In Schleswig-Holstein hingegen wurde die Integration von Akteuren auf der gehobenen Verwaltungsebene über Jahrzehnte vorangetrieben und von der Landesregierung bereits Ende der 1980er Jahre offiziell als schulpolitisches Ziel postuliert. Für die Verwirklichung dieses Ziels wurde systematisch analysiert, welche Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Reformen des Sonderschulwesens auftauchen könnten, und darauf aufbauend wurden gezielte Maßnahmenoffensiven auf den Weg gebracht. Wichtige Bausteine waren hier etwa verschiedene Erlasse, die regelten, dass den Sonderpädagogen durch die integrative Arbeit keine Nachteile entstanden (zum Beispiel konnten Fahrzeiten zwischen verschiedenen Schulen als Arbeitszeit angerechnet werden) und die zur Vermeidung von Konflikten zwischen allgemeinen und Sonderpädagogen beitragen sollten. Darüber hinaus wurde insbesondere die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften für die integrative Förderung vorangetrieben und durch flankierende Maßnahmen der Bewusstseinsbildung auch in der Öffentlichkeit Akzeptanz für Integration geschaffen.

Um die Kosten für die Ausweitung der Integration überschaubar zu halten und damit haushaltspolitische Vorbehalte entkräften zu können, entschied man sich - anders als in Bayern - in Schleswig-Holstein unter anderem frühzeitig gegen den Aufbau einer teuren Doppelstruktur "Sonderschule plus Integration". Stattdessen verfolgte man das Ziel, die sonderpädagogische Förderung langfristig in die allgemeinen Schulen zu verlagern und Sonderschulen in "Schulen ohne Schüler" zu verwandeln. Wichtige Erfahrungen konnte man hier im Pionier-Projekt "Landesförderzentrum Sehen" in Schleswig sammeln, das seit den 1980er Jahren alle Schüler mit Sehbehinderungen integrativ fördert. Nicht zuletzt wurden durch die Einführung der Gemeinschaftsschule im Rahmen der Schulgesetznovelle von 2007 günstige Bedingungen für Integration und Inklusion geschaffen. Denn in dieser Schulform wird weitestgehend auf die Leistungshomogenisierung von Lerngruppen verzichtet.

Infolge der divergierenden Entwicklungen in den beiden Bundesländern traf die UN-Behindertenkonvention dort auf jeweils sehr unterschiedliche Bedingungen. Dabei zeigte sich, dass die Wirkung der Konvention stark von der reformpolitischen Ausgangslage abhängig ist: Sind inklusive Strukturen zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits weitreichend eingeführt oder die Weichen für eine Entwicklung in diese Richtung gestellt, so unterstützt die Konvention laufende Reformprozesse. Dies ist der Fall in Schleswig-Holstein, wo ein schrittweiser Ausbau integrativer schulischer Angebote bereits in den 1970er Jahren begann und über Jahrzehnte vorangetrieben wurde. In Bayern hingegen steht die schulische Integration und Inklusion noch immer am Anfang. Unter diesen Bedingungen vermag die Konvention zwar die Stellung reformorientierter Kräfte und die Legitimität der inklusiven Schulentwicklung zu stärken. Zugleich wurden durch die UN-Behindertenrechtskonvention aber auch Reformgegner mobilisiert, die gerade in der besonders sensiblen Anfangsphase wichtige Schritte zur inklusiven Bildung verhindern könnten.

In beiden Ländern führte die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dazu, dass Akteure wie Behindertenverbände und Elternvereinigungen in ihren Forderungen nach inklusiver Bildung gestärkt wurden und neue Deutungshoheit erlangten. In beratender Funktion werden sie verstärkt in politische Prozesse einbezogen. Weil die Sonderpädagogik durch die Ratifizierung der Konvention aber aus ihrer langjährigen Randstellung in den Fokus bildungspolitischer Aufmerksamkeit geraten ist, geht dies zugleich einher mit einer verstärkten Mobilisierung von Verfechtern des gegliederten Schulsystems gegen integrative und inklusive Schulreformen. Durch die menschenrechtliche Verankerung der Konvention wurde zwar in beiden Bundesländern die formale Legitimität der inklusiven Schulentwicklung gesteigert. Dies hatte jedoch in beiden Ländern auch zur Folge, dass die Befürwortung von Inklusion vielfach lediglich rhetorisch übernommen wurde. Der Begriff "Inklusion" wird dann mithin so umgedeutet, dass in letzter Konsequenz dadurch bestehende Strukturen legitimiert und Reformen verhindert werden können. So wird Inklusion oft fälschlicherweise mit Integration gleichgesetzt oder das Sonderschulwesen als Teil eines inklusiven Schulsystems bezeichnet, das eine Teilhabe von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Bildung bereits ermögliche. In Bayern wurde beispielsweise das Prinzip der "Integration durch Kooperation" nach Inkrafttreten der Konvention in "Inklusion durch Kooperation" umbenannt, ohne dass an diesem Prinzip inhaltlich irgendetwas geändert worden wäre.

Welche Implikationen die UN-Konvention für die Zukunft des Bildungssystems in Deutschland mittel- und langfristig haben wird, ist schwer abzusehen. Dies hängt wesentlich davon ab, wie der Begriff "Inklusion" durch die deutsche Rechtssprechung ausgelegt wird, vor allem: ob daraus ein individueller Rechtsanspruch auf gemeinsamen Unterricht an allgemeinen Schulen abgeleitet wird. Diese Frage wird letztendlich wohl vor dem Bundesverfassungsgericht geklärt werden müssen. Sollte dieses tatsächlich einen individuellen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung an jeder wohnortnahen Schule konstatieren, so könnten weder bildungsideologische Vorbehalte, noch die Kosten inklusiven Unterrichts oder die organisatorischen Herausforderungen einer umfassenden Reform des bestehenden Schulsystems gegen die Verwirklichung inklusiver Bildung ins Feld geführt werden. Die schwerwiegendsten Reformhindernisse wären in diesem Fall effektiv außer Kraft gesetzt.

Welche Wirkung die UN-Behindertenrechtskonvention in Zukunft entfaltet, bleibt also abzuwarten. Auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Umsetzung der Konvention zu warten, wäre indes verfehlt. Ein solcher inzwischen vorbereiteter Prozess könnte viele Jahre in Anspruch nehmen - das Ergebnis ist nicht vorauszusagen. Reformorientierte Akteure sollten daher heute mehr denn je die durch die UN-Konvention entstandenen Spielräume nutzen. Für das Gelingen inklusiver Schulreformen und damit die Umsetzung der sich aus der Konvention ergebenden menschenrechtlichen Verpflichtungen braucht es einen klaren politischen Willen, vor allem aber eine systematische und langfristig angelegte Strategie zur Überwindung bestehender Reformhindernisse.


Jonna M. Blanck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kolleg für interdisziplinäre Bildungsforschung, einer gemeinsamen Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Jacobs Foundation und der Leibniz-Gemeinschaft.
jonna.blanck@wzb.eu

Benjamin Edelstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe der Präsidentin. Unter anderem arbeitet er im Projekt "Dossier Zukunft Bildung", einem Kooperationsprojekt zwischen dem WZB und der Bundeszentrale für politische Bildung.
benjamin.edelstein@wzb.eu

Justin J.W. Powell ist seit Oktober 2012 Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg. Davor war er von 2007 an wissenschaftlicher Mitarbeiter am WZB, zuletzt in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt, bei der er nun Gastwissenschaftler ist.
justin.powell@wzb.eu


Literatur

Blanck, Jonna M./Edelstein, Benjamin/Powell, Justin J.W.: Persistente schulische Segregation oder Wandel zur inklusiven Bildung? Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für Reformprozesse in den deutschen Bundesländern. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie (im Erscheinen).

Powell, Justin J. W./Pfahl, Lisa: Sonderschule behindert Chancengleichheit. WZBrief Bildung 2008/04.

Destatis: Bildung und Kultur. Allgemeinbildende Schulen. Fachserie 11, Reihe 1. Wiesbaden: 2011 (und frühere Jahre).

United Nations: Convention on the Rights of Persons with Disabilities. New York: United Nations 2006.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 138, Dezember 2012, Seite 17-20
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2013