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BILDUNG/267: Kinder und Jugendliche mit Aphasie - Herausforderungen an die Schule (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2009

KINDER UND JUGENDLICHE MIT APHASIE
Herausforderungen an die Schule

Von Melanie Kubandt


Aphasie bei Kindern und Jugendlichen ist lange Zeit weder in Forschung noch Selbsthilfe ausreichend berücksichtigt worden. Durch erworbene Hirnschädigungen können Kinder und Jugendliche eine Aphasie erleiden und damit bereits erworbene sprachliche Fähigkeiten verlieren.


Ursachen für Aphasien bei Kindern und Jugendlichen können unter anderem Schädel-Hirn-Traumata (SHT), Schlaganfälle, Hirntumore und z.B. Hypoxien sein. Das SHT gilt mit ca. 80% als Hauptursache der Aphasien im Kindes- und Jugendalter, verursacht durch Unfälle im Straßenverkehr, Stürze bei Spiel und Sport oder als Folge körperlicher Gewalt.

Bei Kindern spricht man erst ab etwa zwei Jahren von Aphasie, wenn der Spracherwerb bereits auf Wortebene eingesetzt hat. Aphasien sind dabei klar von Sprachentwicklungsstörungen abzugrenzen.


Aphasie bei Kindern - ein seltenes Phänomen?

Wissenschaftlich gesicherte Zahlen zur Häufigkeit fehlen. Nach einer Schätzung des Bundesverbands für die Rehabilitation der Aphasiker e.V. erleiden in Deutschland etwa 3.000 Kinder und Jugendliche bis zum 15. Lebensjahr jährlich eine Aphasie neu. Allerdings gehen Fachleute von einer weit höheren Betroffenenzahl aus. Denn oftmals handelt es sich bei den kindlichen Aphasien um ein nicht erkanntes bzw. wenig berücksichtigtes Phänomen. Eine Ursache dafür ist, dass es sich dabei selten um eine isolierte Erscheinung handelt. Meist stehen andere (Begleit-) Symptomatiken im Vordergrund. Als eine weitere Ursache für die Betonung der Seltenheit gilt die schwierige Differentialdiagnostik zwischen Aphasie und Sprachentwicklungsstörung im frühen Kindesalter.


Besonderheiten der Rehabilitation und Nachsorge

Leider bleibt vielfach unberücksichtigt, dass Symptome bei Kindern teils erst lange nach dem Akutereignis auftreten und dann häufig nicht mehr mit der Hirnschädigung in Verbindung gebracht werden. Dies ist eine weitere Ursache dafür, dass Aphasien im Kindes- und Jugendalter unerkannt bleiben. Fachleute warnen, dass Kinder sozusagen erst in ihr endgültiges Defizit hineinwachsen. Daher sind wiederholte Begutachtungen erforderlich, die die Entwicklung nach Unfall oder Erkrankung begleiten. Gerade im Sinne der Zielsetzungen der ICF, die den ganzen Menschen im Zentrum des Rehabilitationsprozesses sieht, besteht Rehabilitation zudem nicht nur aus medizinischen Maßnahmen, sondern auch aus schulischer bzw. beruflicher (Re-)Integration. Dies ist leider in den wenigsten Fällen gewährleistet.


A P H A S I E
Gedächtnisstörungen
Konzentrationsbeeinträchtigungen
Aufmerksamkeitsdefizite

Konsequenzen im Kontext Schule  →

erschwerte Abspeicherung neuer (verbal vermittelter) Inhalte
Merkfähigkeits- und Strukturierungsprobleme
Probleme bei der Bearbeitung schriftlicher Aufgaben
einen verzögerten Wortabruf und Sprachverständnisprobleme vermittelten
Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen des rein sprachlich vermittelten Schulstoffs
Verhaltensauffälligkeiten

 → erhöhter Lern- und dadurch erhöhter Schulstress!


A P H A S I E
Gedächtnisstörungen
Konzentrationsbeeinträchtigungen
Aufmerksamkeitsdefizite

Faktoren bzw. Voraussetzungen für Schulerfolg bei Aphasie  →

ausbildungsbegleitende u. -bezogene Sprachtherapie
besondere Rücksichtnahme im Unterricht, z.B. ausführliche Erklärungen, ergänzende Unterlagen, bildliche Darstellungen.
kleine Schulklassen
anschauliches Lernen mit visuellen Hilfen
ausführliche Erklärungen mit inhaltlichen Wiederholungen
Reproduktion von Zeit- und Leistungsdruck
Nachteilsausgleich für Prüfungssituationen


Konsequenzen für die schulische Laufbahn

Generell stellt sich bei jungen Aphasiepatienten die Frage nach der weiteren schulischen Laufbahn. Ein zentrales Thema der Selbsthilfe ist somit die schulische Wiedereingliederung aphasischer Kinder und Jugendlicher. Traurige Realität ist, dass viele Kinder nach einem erlittenen SHT ohne ansreichende Diagnostik vorschnell wieder in die Schule eingegliedert werden. Das große Problem dabei ist, dass Lernschwierigkeiten oft nicht sofort, sondern erst mit zeitlicher Verzögerung bemerkt und nicht immer mit der Schädigung in Verbindung gebracht werden. Auch wenn die Ursachen bekannt sind, führen Symptome der Aphasie und deren Begleiterscheinungen zu vielfältigen Schulschwierigkeiten. Dazu gehören z.B. die erschwerte Abspeicherung neuer (verbal vermittelter) Inhalte sowie Probleme beim Lesen und Schreiben. Hinzu können Merkfähigkeits- und Strukturierungsprobleme, sowie Verhaltensauffälligkeiten kommen. Dies führt in den meisten Fällen zu anhaltenden Schwierigkeiten im Schulalltag.


Schulische Wiedereingliederung - aber wie?

Bei der Schulwahl besteht das zentrale Problem, dass hirngeschädigte Kinder und Jugendliche ein in sich heterogenes Leistungsniveau haben, Schulen in ihrem Lernangebot aber eher ein homogenes voraussetzen. Dies gilt vor allem für Regelschulen. Zudem zeigt sich immer wieder, dass auch in Förderschulen Lehrer mit der Besonderheit des Störungsbildes überfordert sind. Generell gilt für die Beschulung aphasischer Kinder und Jugendlicher, dass vorgegebene Wege oder feste Empfehlungen nicht sinnvoll sind. Im Rahmen der bestehenden Strukturen gibt es keine "richtige" Beschulung für Kinder und Jugendliche mit Aphasie.

Es gibt jedoch einzelne Faktoren, die für Kinder und Jugendliche mit Aphasie einen möglichst erfolgreichen Schulbesuch unterstützen. Zum einen brauchen Kinder schulbegleitende Sprachtherapie, kleine Schulklassen, eine besondere Rücksichtnahme im Unterricht wie z.B. ausführliche Erklärungen oder bildliche Darstellungen bis hin zur Reduktinon von Zeit- und Leistungsdruck in Form von Nachteilsausgleichen.


Projekt "Beschulung aphasischer Kinder"

Der Austausch mit betroffenen Familien zeigt, dass in Fragen nach einer geeigneten Schule Eltern mit ihren Problemen alleine da stehen. Es existierten kaum spezialisierte Informationsstellen. Aus diesem Grund widmet sich das Projekt "Beschulung aphasischer Kinder" vom Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e.V. speziell dieser Thematik.

Neben der Hilflosigkeit betroffener Familien herrscht häufig auch Ratlosigkeit bei schulischen Vertretern. Hierfür bietet das Projekt Möglichkeiten der Aufklärung, Informationsvermittlung und Hilfestellung. Vielfache Fortbildungen für schulische Vertreter wurden bereits durchgeführt. Es werden zudem Informationsmaterialien für betroffene Familien und schulische Vertreter erarbeitet. Die Problematik der Aphasie wird in der breiten Öffentlichkeit, aber auch Fachwelt verstärkt thematisiert. Konkrete Hilfen sind modellhaft für die ganze Bundesrepublik in Kooperation mit den Ländern Bayern und Baden-Württemberg verwirklicht. Eine Ausdehnung auf weitere Bundesländer ist erfolgt.


Fazit

Um eine gelungene schulische Wiedereingliederung bestmöglich zu erleichtern, muss das gesamte Umfeld der Betroffenen, d.h. Eltern, zukünftige Lehrer, Ausbilder und Therapeuten auf die zu erwartenden Schwierigkeiten vorbereitet werden. Das macht eine umfassende, einzelfallorientierte Beratung der betroffenen Familien erforderlich.

Jedoch fehlen konkrete Anlaufstellen, die dies leisten können. Ein wichtiger Schritt ist durch das laufende Projekt "Beschulung aphasischer Kinder" getan. Allerdings bedarf es noch vieler weiterführender Maßnahmen, um die (schulische) Nachsorge schädelhirnverletzter Kinder und Jugendlicher langfristig zu verbessern und ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Auch wird sich zeigen, ob die bundesweite Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich das leisten kann, was der Gedanke der Inklusion im Bereich der Bildung ursprünglich beinhaltet: die schulischen Angebote an den speziellen Bedürfnissen der Kinder zu orientieren.


DIE AUTORIN:
Melanie Kubandt ist Diplom-Pädagogin und leitet das Projekt "Beschulung aphasischer Kinder" www.aphasiker-kinder.de beim Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker in Würzburg.


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Quelle:
Selbsthilfe 4/2009, S. 28-29
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2010