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BILDUNG/251: Behinderte Kinder haben ein Recht auf bessere Bildung (SoVD)


Sozialverband Deutschland - SoVD-Zeitung Nr. 4 / April 2009

Behinderte Kinder haben ein Recht auf bessere Bildung

Chancengleichheit an deutschen Schulen!


In Deutschland lernen Schüler mit und ohne Behinderung getrennt voneinander. Während viele Kinder zwischen verschiedenen Schulformen wählen können, ist die Mehrheit der Eltern behinderter Kinder gezwungen, diese auf eine Förderschule zu schicken. Die Betroffenen erleben diese Form der Ausgrenzung als belastend. Zudem bleiben mehr als drei Viertel der Förderschüler ohne einen anerkannten Schulabschluss zurück.
Seit Langem schon setzt sich der SoVD für das Modell der Inklusion ein - für das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung. Auf diese Weise wird neben dem Inhalt des Lehrplans schon früh auch soziale Kompetenz vermittelt. Die Kinder erleben im Umgang miteinander Beeinträchtigung nicht als Makel, sondern als Teil des gesellschaftlichen Alltags. Den Ansatz des gemeinsamen Lernens verfolgt auch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN), welche 2008 von Deutschland ratifiziert wurde. Deren Umsetzung hat Mitte März der SoVD in einer viel beachteten Pressekonferenz vor zahlreichen Medienvertretern angemahnt.


Der Präsident des SoVD, Adolf Bauer, forderte ein klares Bekenntnis der Politik zu einem inklusiven Bildungssystem, in welchem der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern nicht länger die Ausnahme darstellt: "Wir müssen ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür schaffen,dass die Ausgrenzung von Schülern in Sondersystemen der falsche Weg ist. Ein Weg, der den Kindern Chancen verbaut, sie abstempelt und sozial isoliert." Bisher beschreitet Deutschland im europäischen Vergleich noch immer einen Sonderweg: Während in Großbritannien, Portugal und Schweden über 90 Prozent der Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet werden, ist dieses Verhältnis im bundesdeutschen Schulsystem nahezu umgekehrt - hier liegt die Zahl bei 15,7 Prozent. Das bedeutet, dass fünf von sechs Kindern mit einer Behinderung an sogenannten Förderschulen unterrichtet werden. Der Besuch dieser früher als "Sonderschulen" bezeichneten Einrichtungen bedeutet für die Betroffenen fast immer lange Fahrtwege und dadurch eine Herauslösung aus ihrem näheren sozialen Umfeld. Sie können keinen Kontakt zu Spielkameraden aus der Nachbarschaft aufbauen, die meist eine nahegelegene Regelschule besuchen. Schlimmer noch: Für ihren Lebensweg erweist sich der Besuch der Förderschule als Sackgasse; über drei Viertel von ihnen bleiben ohne einen anerkannten Schulabschluss zurück.

SoVD-Präsident Bauer machte deutlich, dass hierfür das System gesonderter Schulen für behinderte Kinder verantwortlich zu machen sei, keinesfalls aber die engagierte Arbeit vieler Pädagogen an den einzelnen Förderschulen. Bestehen bleibe jedoch das grundsätzliche Problem, dass getrennt unterrichteten Kindern die Möglichkeit genommen werde, voneinander zu lernen. Bauer verwies auf die Ergebnisse entsprechender Studien: "Leistungsstarke Kinder werden nicht dadurch besser, dass die Leistungsschwachen 'aussortiert' werden. Aber leistungsschwache Kinder werden in durchgängig leistungsschwachen Gruppen schlechter."


Notwendige Vermittlung sozialer Kompetenzen

Augenmerk sollte nicht allein auf die Vermittlung bildungsrelevanter Lerninhalte gelegt werden. An Schulen findet ein Großteil der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen statt, für die gerade auch der Umgang miteinander entscheidend ist. Auf diese Weise entwickeln Kinder ein Bewusstsein für eigene Stärken und Schwächen, sie lernen, mit den Bedürfnissen des jeweils anderen umzugehen, und erleben so Individualität. Dieses eigentlich natürliche Erlernen sozialer Kompetenzen wird durch eine getrennte Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung jedoch unnötig erschwert. Statt Beeinträchtigung als Vielfältigkeit erfahrbar zu machen, wird in Deutschlands Schulsystem aussortiert. Kinder mit einem sozialpädagogischen Förderbedarf bewegen sich in einer homogenen Gruppe, und auch im Alltag einer Regelschule bleibt Behinderung etwas Ungewohntes, fernab gesellschaftlicher Normalität.


Inklusive Bildung ohne Vorbehalte In seinem Positionspapier "UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen Inklusive Bildung verwirklichen" fordert der SoVD einen Rechtsanpruch der Eltern auf die gemeinsame Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder. Bisher steht dieser Anspruch in zahlreichen Landesschulgesetzen noch unter Vorbehalt. So werden förderungsbedürftige Kinder oftmals abgelehnt, weil es an der betreffenden Schule an pädagogischem Personal fehlt oder die Räumlichkeiten nicht barrierefrei sind. Hier stehen die politisch Verantwortlichen in der Pflicht, Abhilfe zu schaffen. Ansatzpunkte gibt es durchaus: Zum einen stünden auf fachlicher Ebene die Pädagogen der Förderschulen mit ihren entsprechenden Qualifikationen bereit; zum anderen hat der SoVD bereits mehrfach auf die Chance hingewiesen, die für die Sanierung von Schulen eingeplanten Gelder des Konjunkturpaketes II für einen barrierefreien Aus- und Umbau der Gebäude zu nutzen.


Bei der Integration eines behinderten Kindes wurde bisher in Deutschland stets eine Anpassungsleistung des Kindes verlangt. Der Gedanke der Inklusion dreht diese Perspektive um: Nicht das behinderte Kind muss sich der Schule anpassen, sondern die Schule muss auf die Besonderheiten und Bedürfnisse des Kindes eingehen. Bei der Inklusion müssen sich behinderte Kinder also ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht erst verdienen.


Auch der Unterricht an den Schulen muss sich verändern

Die Sicherstellung einer funktionierenden Infrastruktur ist jedoch nur einer erster, wichtiger Schritt. Eine inklusive Schule muss den individuellen Bedürfnissen aller Kinder Rechnung tragen. Das bedeutet für den Bereich der Pädagogik, dass es nötig ist, bei der Vermittlung von Lerninhalten verstärkt auf die individuellen Fähigkeiten der Kinder einzugehen - unabhängig vom jeweiligen Förderbedarf. Damit würde die Tatsache berücksichtigt, dass sich jedes Kind sein Wissen auf ganz unterschiedliche Weise aneignet.

In gleichem Maße müssen auch die jeweiligen Lernziele differenziert werden. Indem Kinder mit Behinderungen auf ein für sie erreichbares Ziel hinarbeiten, werden individuelle Lernerfolge möglich - eine nicht zu unterschätzende Motivation für jedes Kind. Ohne eine solche Zieldifferenz bliebe die Tendenz zur Aussonderung des allgemeinen Schulsystems erhalten.


Keine Ausgrenzung von Förderschülern

Vor Kurzem hat sich die Kultusministerkonferenz für die Einführung eines weiteren Schulabschlusses an Förderschulen ausgesprochen. Ein entsprechender "Förderschwerpunkt Lernen" würde jedoch vom Status, her noch unter dem Hauptschulabschluss rangieren. Verbandspräsident Adolf Bauer verweist vor diesem Hintergrund auf die anhaltende Ausgrenzung von Förderschülern, die es zu bekämpfen gilt: "Ein Sonderabschluss ist diskriminierend und wäre gerade zum jetzigen Zeitpunkt das völlig falsche Signal." Die Diskussion eines solchen Abschlusses setzt nach Bauers Überzeugung verfrüht ein: "Die Bundesrepublik hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Konvention dazu verpflichtet, dass der gemeinsame Schulbesuch behinderter und nichtbehinderter Kinder nicht länger die Ausnahme ist, sondern zur Regel wird. Wir rufen die Kultusministerkonferenz daher auf, neue Wege zu beschreiten und mit der Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems zu beginnen!"
jb


Die folgenden Fallbeispiele hat die integ-Jugend des SoVD zusammengetragen. Während die erste Biografie die positiven Ergebnisse inklusiver Bildung schildert, verdeutlicht der zweite Lebensweg die negativen Auswirkungen des bestehenden Systems.

Tom ist seit seiner Geburt Spastiker. Trotz Einschränkungen im motorischen Bereich ist er nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Von Beginn an setzen sich seine Eltern dafür ein, dass Tom die Grundschule vor Ort besuchen kann. Wegen guter Lernleistungen wird ihm der Besuch eines Gymnasiums empfohlen. Toms Eltern finden tatsächlich ein Gymnasium, das die gemeinsame Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder unterstützt und ihn aufnimmt. Erfolgreich legt Tom dort sein Abitur ab und studiert Psychologie. Danach arbeitet er in einer Beratungsstelle für behinderte Menschen, später als Psychologe in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Mit seiner Arbeit ist er sehr zufrieden.


Sabine ist ein quicklebendiges und fröhliches Kind. Sie besucht zunächst eine Grund- und später eine Realschule in ihrem Ort. Mit 15 Jahren wird Sabine bei einem Autounfall schwer verletzt und muss fast ein ganzes Jahr im Krankenhaus verbringen. Seitdem ist sie querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Dem Bruch in ihrer persönlichen Biografie folgt der Bruch in der Schulbiografie. Sabine muss ihre bisherige Schule verlassen und eine Sonderschule für Körperbehinderte besuchen. Ihren ursprünglichen Berufswunsch Arzthelferin muss Sabine aufgeben. Nach ihrem Schulabschluss bleibt ihr nur die Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Ihre Hoffnung auf berufliche Veränderung hat sie inzwischen resigniert aufgegeben.


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Quelle:
SoVD-Zeitung des Sozialverband Deutschland (SoVD)
Nr. 4 / April 2009, S. 1 und 2
Herausgeber: Bundesvorstand des Sozialverband Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2009