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BERICHT/373: Ein Leistungsträger für alle Kinder (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Juli 2013

Die "Große Lösung" in der Jugendhilfe
Ein Leistungsträger für alle Kinder

Von Silja Harrsen



Die "Große Lösung" ist keine neue Idee. Schon vor zwanzig Jahren wurde darüber nachgedacht, die Leistungen der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe zusammenzuführen. "Die Große Lösung bedeutet, dass alle Kinder mit und ohne Behinderung unter ein einheitliches Gesetz und eine einheitliche Finanzierung kommen", erläutert Rüdiger Scholz, Bereichsleiter der Kinder- und Jugendhilfe Bethel im Norden. Die Umsetzung der Großen Lösung hat erhebliche Konsequenzen für die bestehenden Angebote für junge Menschen.


Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung 2009 und der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung im selben Jahr haben die Debatte über die Große Lösung neu entfacht. Wie die Schulen ist nun auch die Kinder- und Jugendhilfe gefordert, Inklusion umzusetzen. Bisher werden die Hilfen für junge Menschen in zwei Teile gesplittet. Da ist zum einen die Eingliederungshilfe, eine Leistung für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen. Sie wird vom Sozialhilfeträger gewährt. Zum anderen gibt es die Hilfen zur Erziehung für junge Menschen mit Erziehungshilfebedarf. Hinzu kommen die Hilfen für junge Menschen mit einer sogenannten seelischen Behinderung, die 1993 in die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe eingegliedert wurden. Mit der Großen Lösung wird eine inklusive Jugendsozialarbeit angestrebt mit Leistungen aus einer Hand unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe. Die Hilfen zur Erziehung und die Eingliederungshilfen werden in dem neuen Leistungsbereich "Hilfen zur Entwicklung" zusammengefasst.

Friedrich Kassebrock, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern in Bielefeld-Bethel, begrüßt das Konzept des gemeinsamen Heranwachsens und der gemeinsamen Entwicklung uneingeschränkt. Inklusion sei in der Beratungsstelle von Beginn an Teil des Konzepts. Die Mitarbeitenden leisteten sowohl Hilfe zur Erziehung als auch Eingliederungshilfe. "Die Gemeinsamkeiten von jungen Menschen mit und ohne Behinderung sind zahlreicher als angenommen", so der Diplom-Psychologe. Die noch gängige Praxis, junge Menschen nach Behinderung zu etikettieren und die Hilfen in zwei Systeme aufzuspalten, hält er für problematisch. "Es gibt zum Beispiel das Konstrukt 'seelische Behinderung'. Was das genau ist, ist fachlich umstritten. Die Abgrenzung zu anderen Behinderungen, und damit die Zuordnung entweder zur Jugend- oder zur Sozialhilfe, ist im Einzelfall durchaus schwierig", sagt Friedrich Kassebrock. Strittige diagnostische Befunde könnten aber dazu führen, dass gebotene Fördermaßnahmen von einem Kostenträger auf den anderen abgewälzt würden und dann möglicherweise ganz unterblieben.


Hilfen zur Entwicklung

Bei der Großen Lösung werden die gemeinsamen Entwicklungsziele junger Menschen mit und ohne Behinderung in den Vordergrund gerückt. Es geht um gemeinsames Lernen, Teilhabe und gemeinsames Heranwachsen. Ein Hin- und Herschieben zwischen den beiden genannten Kostenträgern ist dann nicht mehr möglich. Die Diagnostik ist lösungs- und entwicklungs- statt bisher störungsorientiert. Und die jungen Menschen bekommen die individuellen Hilfen, die sie brauchen. "Die Große Lösung entspricht dem Grundverständnis von Inklusion. Das ist gut. Allerdings ist darauf zu achten, dass das fachliche Know-how für Menschen mit Handikap bei den Jugendämtern und den Leistungsanbietern ankommt", so Friedrich Kassebrock. Der neue Leistungsbereich "Hilfen zur Entwicklung" brauche das Spezialwissen der Eingliederungshilfe, um den jeweiligen Assistenzbedarf fachlich gut begründet erheben zu können.

Die Große Lösung wird kommen. Davon ist Rüdiger Scholz überzeugt. Er ist Mitglied einer Arbeitsgruppe, die von zwei Erziehungshilfeverbänden gebildet wird. Die Gruppe soll die bundesweite Debatte begleiten sowie Wissenschaft und Fachverbände mit ins Boot nehmen. "Der Übergang zur inklusiven Jugendsozialhilfe wird noch fünf bis zehn Jahre dauern", schätzt der Diplom-Sozialpädagoge. Denn es gibt neben viel Zustimmung auch Widerstände. "Die Eltern behinderter Kinder stehen den Veränderungen zum Teil kritisch gegenüber. Sie fragen sich, ob die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe ausreichend qualifiziert sind für die Belange von Kindern mit Behinderungen", so Rüdiger Scholz. Auch gegen das Jugendamt als zuständige Behörde gebe es Vorbehalte. Sie wird als Anlaufstelle für Problemfamilien wahrgenommen, von denen sich Eltern aus dem eher bürgerlichen Milieu abgrenzen möchten.


Fachkräftequote

Skeptikern der Großen Lösung drängt sich der Verdacht auf, dass unter dem Deckmantel der Inklusion vor allem Kosten gespart werden sollen und die Qualität auf der Strecke bleibt. "Das müssen wir kritisch beobachten", betont Rüdiger Scholz. "In der Jugendhilfe liegt die Fachkräftequote bei 100 Prozent. In der Behindertenhilfe muss nur jeder zweite Mitarbeiter eine Fachkraft sein. Das könnte Ökonomen dazu verleiten, im zusammengefassten neuen Leistungsbereich die Fachquote und damit das Entgeltniveau zu senken. Doch Fachkräfte abbauen - das darf nicht sein", mahnt Rüdiger Scholz.


Vorbild "Rasselbande"

Die inklusive Jugendsozialarbeit trennt nicht zwischen verhaltensauffälligen und behinderten jungen Menschen. So sind gemeinsame Wohnformen denkbar. "Es wird aber sehr genau geprüft, welche Jugendlichen zusammenleben können. Dass ein Skinhead mit schweren Verhaltensstörungen und ein schwerbehinderter Jugendlicher in einer Gruppe aufgenommen werden, wäre grob fahrlässig", stellt Rüdiger Scholz klar. "In Hannover gibt es mit der 'Rasselbande' bereits eine pädagogisch-integrative Wohngemeinschaft der Betheler Jugendhilfe mit Plätzen für junge Menschen mit Handikap. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht."

Wenn behinderte und nichtbehinderte Jugendliche Hilfeleistungen aus einer Hand bekommen, ist das noch keine Inklusion. Dazu gehören unter anderem auch gleichberechtigte Teilhabe, Selbstbestimmung und barrierefreie Zugänge zu allen gesellschaftlichen Systemen. Verschiedenheit ist die Norm, Gruppen mit Sonderstatus gibt es nicht mehr. "Das Ziel der Inklusion ist eine Notwendigkeit und eine konkrete Utopie", sagt Friedrich Kassebrock. Es lohne sich, den Weg weiterzugehen. "Wenn nur ein Bruchteil dessen erreicht wird, was Inklusion will, wenn die gegenseitigen Berührungsängste wenigstens im Ansatz überwunden werden, dann ist schon sehr viel erreicht."

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Quelle:
DER RING, Juli 2013, S. 6-7
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2013