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BERICHT/365: Neue Resolution der WHO zu psychischer Gesundheit (bezev)


Behinderung und internationale Entwicklung 2/2012

Neue Resolution der WHO: Die globale Belastung durch psychische Erkrankungen und die Notwendigkeit für eine umfassende und koordinierte Antwort auf nationaler Ebene(1)

von Thorsten Hinz



Die 65. Versammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 25. Mai 2012 die Resolution WHA 65.4 zu psychischer Gesundheit verabschiedet. Diese appelliert an die 194 Unterzeichnerstaaten, aktive Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität und Gesundheitshilfe von Menschen mit psychischen Erkrankungen durchzusetzen. Die Resolution basiert auf einem Bericht, der aufrüttelnde Daten erneut ins Bewusstsein ruft: mehr als 13% der Weltbevölkerung leiden an psychischen Erkrankungen (in Europa sind es etwa 20%), Tendenz stark steigend. Im Jahr 2030 sollen fünf der zehn mit den stärksten Beeinträchtigungen verbundenen Erkrankungen aus dem Bereich der Psychiatrie stammen: Depression, Alkoholsucht, Demenz, Schizophrenie und bipolare Störungen. Mit den in den letzten Jahren rasant gestiegenen Behandlungsfällen nehmen weltweit auch die Gesundheitskosten im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie stark zu. 76% bis 85% aller psychisch erkrankten Menschen in armen Ländern und Schwellenländern erhalten keine Behandlung, in den Industrieländern sind es immerhin noch 35% bis 50%. Psychische Erkrankungen gehen häufig mit anderen Erkrankungen und sozialen Problemen einher. Weltweit sind psychische Erkrankungen vielfach kombiniert mit Suchtproblemen, HIV/Aids, häuslicher Gewalt, Armut und Arbeitslosigkeit. In den Industrieländern sind es vor allem die zunehmenden Demenz- und Depressionserkrankungen die zu Besorgnis Anlass geben. Besonderen Gefährdungen unterliegen psychisch erkrankte Menschen in Kriegs- und Krisengebieten, aber auch dort, wo psychische Erkrankungen in religiösen oder kulturellen Kontexten oder aus politischen Gründen als Stigmata gelten und kriminalisiert werden. Die Resolution erhebt fünf wesentliche Handlungsfelder als prioritär:

1. Die Unterzeichnerstaaten sollen in Form nationaler Aktionspläne umfängliche Strategien zum Schutz und zur Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen realisieren und Präventionsmaßnahmen stärken.

2. Die Strategien müssen menschenrechtlich fundiert werden, umfassende Maßnahmen gegen Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beinhalten und vor allem auf die Stärkung der Betroffenen und deren Angehörigen abzielen. Ein Fokus liegt auf gemeindebasierten und nichtinstitutionalisierten Angeboten.

3. Die Maßnahmen müssen mit umfassenden Analyse- und Evaluationsinstrumenten verknüpft werden, die zunächst für die Identifizierung von Trends im Hinblick auf Prävention und Gesundheitshilfe eingesetzt werden.

4. Mental Health (psychische Gesundheit) muss zu einem prioritären Arbeitsfeld innerhalb der gesamtstaatlichen Gesundheits- und Entwicklungsprogramme aufgebaut werden.

5. Die Unterzeichnerstaaten sind aufgefordert, sich mit dem WHO-Sekretariat im Hinblick auf die Erarbeitung ihrer Aktionspläne zum Erhalt und zur Förderung von psychischer Gesundheit zu koordinieren.

Die Resolution schließt mit der Aufforderung, die jeweiligen nationalen Aktionspläne zur psychischen Gesundheit dem WHO-Vorstand zu dessen 132. Sitzung vorzulegen.

In den Einzelländern wird es in der Folge darum gehen, dass die Umsetzung der Resolution durch die Zivilgesellschaft kritisch begleitet wird bzw. dort, wo sie staatlicherseits nicht aufgegriffen wird, die Umsetzung entsprechend einzufordern. Resolutionen haben die Schwäche, dass sie keine bindende Wirkung oder Verpflichtung nach sich ziehen. Sie sind anders als Menschenrechtskonventionen mit juristischen Mitteln kaum einklagbar. Um so wichtiger wird es für zivilgesellschaftliche Akteure sein, die Forderungen der Resolution in Bewusstseins- und Lobbyarbeit einzubringen. Bei der Formulierung des Aktionsplanes können sie sich als Partner anbieten und dabei eigene Ziele und Strategien formulieren.

In der Resolution WHA 65.4 fällt auf, dass sie immer wieder Bezüge zum Thema Behinderung aufgreift und dabei auch explizit die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) nennt. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben ausdrücklich das Recht, sich auf die Forderungen der BRK zu beziehen. Die Übergänge von psychischer Erkrankung zum Kontext Behinderung sind fließend.

In Deutschland haben unlängst zwölf große zivilgesellschaftliche Organisationen aus dem Bereich der Psychiatrie und Psychiatrie-Selbsthilfe eine wegweisende Stellungnahme zur BRK abgeben und damit illustriert, wie notwendig es ist, Menschenrechte mit gesellschaftlicher Analyse und Forderungen zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbinden(2). Ähnliches könnte in anderen Ländern aufgegriffen werden und in Beziehung zu den von der Resolution WHA 65.4 geforderten nationalen Aktionsplänen zur psychischen Gesundheit gestellt werden.

Im Sinne der Ottawa-Charta der WHO von 1986 wird Gesundheit nicht als ein vorrangiges Lebensziel sondern als ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen, psychischen und sozialen Wohlbefindens definiert und als eine grundlegende Basis des alltäglichen Lebens für alle Menschen. Dies gilt es auch im Hinblick auf die Resolution WHA 65.4 und die Durchsetzung von psychischer Gesundheit zu beachten. Gesundheit ist damit kein Selbstzweck sondern basiert auf einem individuellen Empfinden, das gesellschaftlich gepflegt und rechtlich geschützt werden muss. Über die Arbeit mit nationalen Aktionsplänen zur gesamtgesellschaftlichen Stärkung von psychischer Gesundheit sollten vor allem diese Aspekte Beachtung finden.


Notes

(1) Engl. Original: The global burden of mental disorders and the need for a comprehensive, coordinated response from health and social sectors at the country level, siehe
http://www.who.int/ mental_health/en/
(letzter Zugriff 29.6.2012)

(2) Stellungnahme der Verbände des Kontaktgespräches Psychiatrie in Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung vom 15. Mai 2012, siehe unter
http://www.cbp.caritas.de/53606.asp?id= 1412&page=1&area=efvkelg
(letzter Zugriff 30.6.2012)

Information: http://www.who.int/mental_health/WHA65.4_resolution.pdf

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Quelle:
Behinderung und internationale Entwicklung
23. Jahrgang, Ausgabe 2/2012, S. 31-32
Schwerpunkt: Psychische Gesundheit/Mental Health
Redaktionsgruppe: Stefan Lorenzkowski, Mirella Schwinge,
Gabriele Weigt, Susanne Wilm
Schriftleitung: Gabriele Weigt
Anschrift: Wandastr. 9, 45136 Essen
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E-Mail: gabi.weigt@t-online.de
Internet: www.zbdw.de

Für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Zeitschrift im Internet erhältlich unter www.zbdw.de

Die Zeitschrift Behinderung und internationale Entwicklung wird vom Institut für inklusive Entwicklung herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2012