Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

BERICHT/364: Mit Trommeln dem Autismus auf der Spur (Bethel)


Pressemitteilung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - 05.10.2012

KEH-Musiktherapeut entwickelt neues Diagnostikverfahren "MUSAD"

Mit Trommeln dem Autismus auf der Spur



Berlin/Bielefeld-Bethel. Auf den Schlag genau, nahezu synchron, imitiert die 27-jährige Emel I. den Rhythmus von Thomas Bergmann. Der Musiktherapeut steht mit der jungen Frau vor einer Wand, an der unzählige Gongs in allen Größen hängen. Mal schlägt er in schneller Folge, mal wechselt er an einen anderen Gong und in ein langsames Spiel. Konzentriert ahmt Emel I. die Schlagfolge nach, ohne zu dem Therapeuten hinüberzuschauen.

Thomas Bergmann wird immer leiser und schlägt nur noch ganz sanft auf das Metall. "Haaaaarrh!!" Plötzlich haut er mit aller Wucht zu und gibt einen ohrenbetäubenden Schrei von sich. Emel I. zuckt zusammen. "Nicht so doll!", beschwert sie sich. Thomas Bergmann lächelt. "Ich hatte einfach gerade Lust dazu", scherzt er.

Für den Musiktherapeuten ist jede Reaktion der jungen Frau ein wichtiger Hinweis. Nichts, was er tut, ist Zufall. Er provoziert Reaktionen, um die Menschen, die er meistens zum ersten Mal sieht, schnell und zuverlässig beurteilen zu können. Spielerisch und mit Hilfe von Musikinstrumenten ermittelt er, ob Emel I. Autistin ist oder nicht.

"MUSAD" heißt das neue diagnostische Verfahren, das Bergmann am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) in Berlin-Lichtenberg entwickelt. Am Behandlungszentrum für erwachsene Menschen mit psychischer Erkrankung und geistiger Behinderung gibt es die Arbeitsgruppe "Autismus", die sich mit der Verbesserung von Diagnostik und Therapie für diese Menschen befasst.

MUSAD steht für "Musikbasierte Skala zur Autismus-Diagnostik". Das neuartige Verfahren wird speziell für erwachsene Menschen mit Intelligenzminderung entwickelt. Herkömmliche Methoden seien für diese Zielgruppe häufig nicht untersucht und angepasst, sagt die Leiterin der Arbeitsgruppe "Autismus", Oberärztin Dr. Tanja Sappok. Thomas Bergmann verdeutlicht das Problem am Beispiel seiner Patienten: "Diese Menschen haben oft Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Knapp die Hälfte meiner Patienten kann nicht sprechen. Sie sind teilweise blind oder hören schlecht, oder sie leiden zusätzlich an Lähmungen oder einer Spastik. Allein schon ruhig sitzen zu bleiben fällt ihnen schwer. Das macht eine strukturierte Diagnostik am Tisch nahezu unmöglich", erklärt er.

Musik sei ein idealer Zugang, um einem Autismusverdacht nachzugehen, so Bergmann. Sie vermittle Gefühle, animiere zu körperlicher Bewegung und spreche viele Sinne an. Als nonverbales Medium ermögliche sie auch den Kontakt zu nicht sprechenden Menschen. "Beim gemeinsamen Musizieren kann ich sehr gut typische autistische Symptome erkennen. Menschen mit Autismus sind zum Beispiel in ihrer Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit eingeschränkt, und Musizieren ist Interaktion pur", so Bergmann.

Die Gongs sind nur eine von insgesamt zwölf Stationen. Im Musiktherapieraum kommen auch Trommeln und ein Klavier zum Einsatz. An einer anderen Station wird zu Musik getanzt oder man wirft sich im Rhythmus einen Ball zu. Der Musiktherapeut stellt fest, ob jemand in der Lage ist, Freude zu teilen oder gemeinsam die Aufmerksamkeit auf ein Objekt zu richten.

Nach der Diagnostikeinheit mit Emel I., die in einem Wohnheim lebt, füllt Thomas Bergmann einen Beobachtungsbogen mit etwa 80 Kriterien aus. Dabei verteilt er Punkte. Je höher am Ende die Gesamtpunktzahl ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Autismus vorliegt.

Rund 100 Menschen hat Thomas Bergmann bereits mit der MUSAD untersucht. Bislang sei es sehr effektiv, besonders bei Menschen, die verbal sehr eingeschränkt seien. "Das neue Verfahren ist vielversprechend und lässt wenig Spielraum für falsche Interpretationen", ist auch Dr. Tanja Sappok überzeugt.

Thomas Bergmann entwickelt die MUSAD im Rahmen seiner Promotionsarbeit. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von Dr. Isabel Dziobek von der Freien Universität Berlin. Die Entwicklung wird von der Stiftung Irene, einer gemeinnützigen Stiftung zum Wohle autistischer Menschen, finanziell gefördert.

*

Quelle:
Pressemitteilung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel vom 05.10.2012
Zentrale Öffentlichkeitsarbeit
Dankort, Quellenhofweg 25
33617 Bielefeld
Telefon: 0521/144-3599, Telefax 0521/144-5214
E-Mail: pr.information@bethel.de
Internet: www.bethel.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2012