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BERICHT/337: Wohnen - Wie funktioniert das in Norwegen? (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2 - Juni 2010

WOHNEN
Wie funktioniert das in Norwegen?

Von Hermann Dahm


Wenn es ums Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung geht, soll Norwegen ein gutes Vorbild sein. "Geht denn das auch bei uns?", wollte eine Lebenshilfe-Gruppe aus Rheinland-Pfalz wissen und reiste in den Norden Europas.


Eltern, behinderte Menschen und Experten besuchten kürzlich zwei Tage lang Førde im Westen Norwegens. Unter ihnen Vertreter der Lebenshilfen Bitburg, Daun, Prüm, der Westeifel Werke, des Eltern- und Heimbeirates, der Kreisverwaltung Bitburg-Prüm, des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Rheinland-Pfalz und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Werkstätten (BAG:WfbM). Um einen realitäts-nahen Vergleich anstellen zu können, wurde dieser Ort ausgewählt, da Førde sowohl von der Bevölkerungszahl als auch von der ländlich geprägten Struktur her der Eifel-Region sehr ähnelt.

Mitgereist waren auch Karl-Heinz Thommes aus Niederprüm und Josef Hoffmann aus Wallersheim, vorrangig als betroffene Eltern, aber Thommes auch in der Funktion als Kreisbehindertenbeauftragter Bitburg-Prüm und Hoffmann als Vorsitzender des Elternbeirates der Westeifel Werke.


Wo fühlt sich der behinderte Mensch am wohlsten?

"Als Vater eines behinderten Sohnes beobachte ich kritisch die zunehmend ideologisch geführte sozialpolitische Diskussion um Integration und Selbstbestimmung und frage mich immer häufiger, ob bei alledem überhaupt noch der Mensch gefragt wird, wie es im geht, was er möchte und wo er sich am wohlsten fühlt", sagt Karl-Heinz Thommes. Er befürwortet den Wandel in der Behindertenarbeit, sieht aber eine inklusive Umwelt mit Skepsis. Er fragt sich, wie die angestrebte Gleichstellung gesellschaftspolitisch und finanziell umgesetzt werden soll.

Manches von dem, was heute in Deutschland vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention heftig diskutiert wird, hat Norwegen im Jahr 1991 per Gesetz neu geregelt. Sozusagen von jetzt auf gleich wurde in Norwegen der Grundsatz der ambulanten Versorgung umgesetzt, nachdem es zuvor einige medienwirksame Skandale in Großeinrichtungen für Behinderte gab. Eingeführt wurde eine sogenannte Verantwortungsreform, bei der alle Sondereinrichtungen - bis dahin allesamt in staatlicher Trägerschaft - aufgelöst wurden.


Anspruch auf mindestens 50 Quadratmeter und Assistenz

Seit nunmehr 19 Jahren gibt es in der Verantwortung der einzelnen Kommune (also auch wieder staatlich) eine neue sehr individuelle Versorgung für geistig behinderte Menschen, die meist in der eigenen Wohnung und mit Hilfe von persönlichen Assistenten erfolgt, wobei sich die Rahmenbedingungen europaweit vergleichsweise gut sehen lassen können: Neben einer garantierten Rente wegen Arbeitsunfähigkeit ab dem 18. Lebensjahr kommt ein Anspruch auf eine eigene Wohnung mit mindestens 50 Quadratmetern und das wie selbstverständliche Recht auf individuelle Betreuung, genau so wie es der Hilfebedarf erforderlich macht.

In Norwegen dabei war auch Monika Zeimantz aus Gerolstein, die selbst geistig behindert ist und seit 1985 in einer Außenwohngruppe der Lebenshilfe ihr Zuhause hat. Als Vertreterin des Heimbeirates war sie neugierig darauf, wie behinderte Menschen in Norwegen leben, wohnen und arbeiten. Beim Nachmittagskaffee hatte sie dann Gelegenheit, ganz privat Einblick in das System zu nehmen und lernte dabei Herdis Grimeland kennen.

Grimeland ist 51 Jahre alt und wohnt erst seit einem Jahr in ihrer eigenen Wohnung in Førde, was in Norwegen als sehr ungewöhnlich gilt. In der Regel ziehen dort behinderte Menschen schon mit 19 Jahren on zu Hause aus. Tagsüber besucht Herdis Grimeland stundenweise ein sogenanntes Aktivitätscenter und stickt dort vorzugsweise Wandbilder. Weiterhin trägt sie wochentags dreieinhalb Stunden für die Kommune Førde die Post von der einen zur anderen Verwaltung aus.


Scheinbar paradiesische Zustände

Auch Karl-Heinz Thommes und Josef Hoffmann waren überrascht von zunächst scheinbar paradiesischen Zuständen, in denen die Kosten offensichtlich keine Rolle spielen.

Sie trafen auf Erik Dahl, Vater der 17-jährigen Borghild mit Mehrfachbehinderung und zugleich positiv gestimmter, gut gelaunter und kämpferischer Visionär, wenn es um die Interessen seiner Tochter geht. "Auch Borghild hat ein Recht auf blaue Flecken und möchte in der Regelschule weniger isolierte Förderstunden, sondern gemeinsame Aktivitäten mit den nicht behinderten Schulkameraden", sagt Erik Dahl. Weiter berichtet er von der Inanspruchnahme eines Familienentlastenden Dienstes in einem Umfange von demnächst 60 Prozent und der bereits in Bau befindlichen zirka 60 Quadratmeter großen eigenen Wohnung für Borghild, in die sie wahrscheinlich 2011 einzieht. Ihr Leben wird sie dort eigenständig führen, aufgrund des hohen Unterstützungsbedarfes jedoch rund um die Uhr begleitet von persönlichen Assistenten.

Schnell erkennbar wird, dass auch bei schwerst- und mehrfach behinderten Menschen in Norwegen die Reform konsequent umgesetzt wird. Dass all dies nicht ohne Alltagsprobleme abläuft, bestätigt der für die Kommune Førde zuständige Mitarbeiter Harald Björte Reite: "Obwohl die Umstellung auf das ambulante System insgesamt mehr als ein Drittel Mehrkosten verursacht hat, ist unsere größtes Problem nicht das Finanzbudget, sondern die Rekrutierung von Fachpersonal."


Angst vor Vereinsamung

Was den Elternbeiratsvorsitzenden Hoffmann derweil nicht loslässt, ist die Frage nach der Tagesstruktur, da die Assistenz-Betreuung bekanntermaßen vielfach im privaten Umfeld stattfindet. "Bei meiner Tochter erlebe ich jeden Tag, wie wichtig die Arbeit in der Werkstatt für ihr Selbstwertgefühl ist. Geistig behinderte Menschen sind aus meiner Erfahrung heraus oft gesellige Menschen und lieben das Miteinander", erklärt Hoffmann und hebt dabei die vielen sozialen Kontakte in Einrichtungen hervor. Gleichzeitig befürchtet er, dass bei der vergleichsweise stark individualisierten Betreuungsstruktur eine Vereinsamung für die geistig behinderten Menschen droht, weil es vielerorts noch an der gesellschaftlichen Toleranz fehlt.

In der Tat bestätigen dies auch die norwegischen Fachkollegen und betonen, dass die Reform vor 20 Jahren eben eine Wohnreform gewesen sei, bei der die Gesichtspunkte Arbeit und Tagesstruktur in ihrer Bedeutung unterschätzt wurden. Entwickelt haben sich im Laufe der Zeit sogenannte Aktivitäts- und Arbeitszentren, die von behinderten Menschen wiederum zu individuell festgelegten Tageszeiten besucht werden können. Doch nicht nur das, bereits in einer Nachbarkommune von Førde bilden sich erste neuartige Wohnformen, die alleine durch die Bauweise stark an Einrichtungen erinnern und augenblicklich unter dem Gesichtspunkt der "Re-Institutionalisierung" bei den Reformbefürwortern in der Kritik stehen.

Das sind wichtige Erkenntnisse, die besonders die Lebenshilfevertreter mit in die Eifel nehmen. Dort hat man nicht nur ein allgemeines und stetiges Interesse an neuen Konzepten, sondern hier besteht aktueller Handlungsbedarf. Derzeit sind alle stationären Wohnheimplätze der Region belegt und eine ambulante Wohnversorgung kommt mit der Quote von immerhin 24 Prozent mit den derzeitigen Finanzierungsstrukturen an die Grenze des Machbaren.

Ein kurzfristig absehbarer Bedarf ergibt sich bei Menschen mit geistiger Behinderung, deren Eitern in sehr hohem Alter sind und auch für die restlichen - immerhin 300 Personen muss es mittel- bzw. langfristige Perspektiven geben.

Mit aus Norwegen bringen die Eifeler die Erkenntnis, dass nicht nur die Gesetzeslage, sondern auch das Bestreben nach einer personenzentrierten Betreuungsform sehr ähnlich ist. Was also liegt für die Lebenshilfe näher als die Konzeption einer individuellen Wohnform mit persönlichen Assistenten entsprechend der augenblicklichen Bedarfslage vorrangig für Menschen mit hohem und sehr hohem Hilfebedarf?

Insgesamt konnte am Ende der Norwegenreise die Ausgangsfrage, in welchem Land es denn nun tatsächlich besser sei, von keiner Seite eindeutig beantwortet werden. Beide Systeme haben ein "Für und Wider", und in beiden Systemen wird stetig weiterentwickelt. Monika Zeimantz drückt es diplomatisch aus: "Die Werkstätten haben mir nicht so gefallen, denn die haben ja kaum Arbeit da - aber die eigene große Wohnung von Herdis fand ich schon gut und sehr angenehm." Unterm Strich sind sich beide einig - Monika Zeimantz aus Deutschland und Herdis Grimeland aus Norwegen: "Wir fühlen uns sehr wohl, da wo wir sind."

Hermann Dahm,
Diplom-Sozialpädagoge und Prokurist der Westeifel Werke Gerolstein

Kontakt: hdahm@westeifel-werke.de


AUF EINEN BLICK

- 1991 gesetzlich geregelte "Verantworungsreform" in Norwegen - Auflösung aller Einrichtungen -
   Versorgungsauftrag geht in die Zuständigkeit der Kommunen
- Kommunen erhalten pauschale jährliche Zuschüsse vom Staat -
   bei über 16-Jährigen 55.000 Euro pro Jahr.
- Gesamtkosten stiegen nach der Reform um zirka ein Drittel
- Anspruch für behinderte Menschen ab dem 18. Lebensjahr auf
   • Arbeitsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.600 Euro monatlich
      (zu bedenken sind die höheren Lebenshaltungskosten in Norwegen)
   • Anspruch auf eigene Wohnung mit mindestens 50 Quadratmetern
   • Anspruch auf eine individuelle Betreuung in der Regel mit persönlichen Assistenten,
      so wie es der Hifebedarf erforderlich macht
- Betreuung mit Assistenten in der Regel im Verhältnis von 1:1, bei höherem Bedarf auch 2:1 möglich
- Es wird bei der Leistungsgewährung nicht nach Behinderungsart differenziert -
   alleine der Hilfebedarf ist ausschlaggebend.
- Üblicherweise ziehen behinderte Menschen mit dem 19. Lebensjahr in eine eigenständige Wohnform -
   nur etwa 10 % werden ab diesem Alter noch weiter zu Hause betreut.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2/2010, 31. Jg., Juni 2010, S. 12
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
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Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2010