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BERICHT/321: Flexibel Leben mit eigenem Budget (mundo - Universität Dortmund)


mundo - Das Magazin der Universität Dortmund Nr. 10/09

Flexibel Leben mit eigenem Budget
Geld verhilft Menschen mit Behinderung zur Eigenständigkeit

Von Thomas Isenburg


Eine Frau Anfang 30, ihre Diagnose: psychisch krank und antriebsarm: Ihr großes Problem ist, sich zu orientieren - Panik und Black-outs zwingen sie, zu Hause zu bleiben. Nun hat sie ein persönliches Budget beantragt: statt fertiger Unterstützung, Geld als Hilfe zur Lebensführung. In Zielvereinbarungsgesprächen wird festgelegt, wie viel Geld ihr zusteht und was erreicht werden soll. Für sich wählt sie nun keine Begleitperson, sondern kauft ein mobiles Navigationssystem als Orientierungshilfe. Die junge Frau erklärt, warum das gps-System für sie besser ist als menschliche Begleiter: "Es ist nicht launisch, immer einsatzbereit und kann auch mal abgeschaltet werden", so ihre Erfahrungen. Hier leistet ein »Navi« genau das, was benötigt wird. Und die Anschaffungskosten betrugen nur etwa 300 Euro. Die maßgeschneiderte Hilfe nimmt die Wünsche der Menschen ernst, sie können auch ungewöhnliche Lösungen einbringen und soziale Dienste selbst verändern. So funktioniert eine neue Form, Leistungen für Menschen zu gestalten, die behindert und beeinträchtigt sind, am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen.

"Mit allen Wasser gewaschen, in einem flexiblen und beliebig schwierigen Forschungsgebiet", so stellt Elisabeth Wacker, Dekanin der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften, ihre Kerntruppe vor: Dr. Gudrun Wansing, Dr. Dorothée Schlebrowski und Dr. Markus Schäfers forschen seit Jahren zum »Persönlichen Budget«. Diese Geld- statt Sachleistung steuert die Lebensführung von Menschen mit Behinderung neu. Im Vordergrund stehen dabei die Person, ihre Möglichkeiten und Ressourcen. Nicht immer zu sehen, was sie nicht können, sondern ihre Stärken zu suchen, mit denen sie ihren Alltag meistern und zur Gemeinschaft beitragen, so lautet der Ansatz der Rehabilitationssoziologie. Menschen mit Behinderung sollen als Persönlichkeiten mit gleichen Chancen und Rechten in unserer Gesellschaft leben. Es geht nicht darum, Menschen "so normal wie möglich" zu machen, damit es die Gesellschaft "mit ihnen aushält". Sondern sie sind Teil der Gesellschaft, und die Rehabilitationswissenschaft ermöglicht ihnen in ihrer Verschiedenheit ein gutes, lebenswertes Dasein und hilft zudem, den Respekt vor ihren Fähigkeiten zu erhöhen, erläutert Wacker ihre Position.

Seit dem Jahr 2001 stützt dies eine neue Sozialgesetzgebung, das in einem eigenen Sozialgesetzbuch für »Rehabilitation und Teilhabe« auch das Persönliche Budget nennt, den Ansatzpunkt der Forschungsarbeiten. Geld statt all-inclusive Hilfen soll Menschen mit Behinderungen nun helfen, ihre Unterstützung mehr selbst zu steuern. Das stellt das gewohnte Leben von einigen ganz schön auf den Kopf und fordert Flexibilität: von ihnen und den Dienstleistern.


Geld statt »all-inklusive«-Leistungen

Ein Beispiel ist der 76-jährige Herr B. mit bewegter Lebensgeschichte. Er hat die lebensbedrohliche NS-Zeit, den Wiederaufbau der Behindertenhilfe und die Psychiatriereform erlebt und sich vielen neuen Umständen anpassen müssen. Nun entschließt er sich, das »Persönliche Budget« als große Chance zu nutzen: Sein Gewinn, der selbstständige und geliebte Saunagang, wird nun Realität, denn sein Lebensstil - und nicht Dienstpläne - gibt den Ausschlag. Unterstützung wird nun so geleistet, dass Herr B. zum Alltag beitragen kann, was ihm möglich ist, aber auch seine individuellen Wünsche einbringen kann. Ein anderes Beispiel ist ein suchtkranker junger Mann. Nach mehreren Langzeittherapien hilft ihm der Marathonlauf, sein Leben zu ordnen. Für das neue Hobby kann er mit seinem Budget Sportartikel kaufen, aber auch Startgelder für Wettbewerbe bezahlen.

Die Forscher haben herausgefunden, dass gerade obdachlose und suchtkranke Menschen häufig traditionelle Unterstützung nicht annehmen. Mit dem »Persönlichen Budget« erhalten sie die Chance, nach krisenhaften Situationen zu wählen, was sie weiterbringt und ihnen in die Gemeinschaft hilft: Koch- und Computerkurse, aber auch Stadionbesuche stehen hoch im Kurs als Brücken zur selbstbestimmten Lebensführung. Doch hier zeigen sich auch die Konzeptgrenzen, denn Hilfe über eigenes Geld gibt es nur im Rahmen vereinbarter Ziele. So soll und kann der Missbrauch staatlicher Hilfe verhindert werden.

Impulse für das neue System kamen aus England, den Niederlanden und Skandinavien. In der Forschung griff dies das Dortmunder Reha-Team auf und entwickelte die Konzepte für deutsche Verhältnisse weiter. In mehreren Bundesprojekten (zwei laufen aktuell) und weiteren Projekten wuchs das Know How. Aktuell wird die einzige deutsche Längsschnittstudie zur »Personenbezogenen Unterstützung und Lebensqualität« (»PerLe«) von den Spezialisten begleitet. Auch im Ausland - zum Beispiel in der Schweiz - ist ihr Rat nun gefragt, denn sie kennen Rezepte für die neue UN-Konvention zur Gestaltung der Behindertenilfe aus der Forscherperspektive.


Fragen nach Wünschen

Gute Wissenschaft sollte bereits dort stehen, wo der Ball hingespielt wird, meint Wacker als Erfolgskonzept. Deswegen erforscht ihre Gruppe auch die Wirkungen des »Persönlichen Budgets«: Was ändert sich im Leben der Menschen mit Behinderung bei ihren Angehörigen, bei den professionellen Helfern, aber auch bei den Anbietern von sozialen Diensten und ihren Leistungen? Die Wissenschaftler prüfen vor allem auch, wie diese Elemente zusammenwirken. Sie fragen nach Erwartungen, Wünschen und Umsetzungen. Dabei sind weniger große Knalleffekte zu bemerken. "Aber wir beobachten viele wichtige langsame Veränderungen: Das Lebensgefühl der Menschen ändert sich: Ich kann jetzt selbst entscheiden, so eine häufige Aussage. Selbstbewusstsein baut sich auf", beantwortet Wacker die Frage nach ihren Ergebnissen. Menschen sind nicht mehr Bittsteller, sie lernen, Ziele zu setzen und Wünsche zu haben. Viele Budgetnehmer beginnen erstmals Pläne zu schmieden und sammeln Erfahrungen mit eigenverantwortlicherem Leben. Nicht Mitleid, sondern gleiche Augenhöhe, das faire und partnerschaftliche Zusammenleben ist das Konzept. Hilfe gibt es nach Maß, mehr Flexibilität in der Lebensführung wird möglich. Im Modellversuch »PerLe«, der in einem Heim umgesetzt wird, bekommen derzeit alle Beteiligten noch viel professionelle Unterstützung durch die Mitarbeiter ihrer Einrichtung. Sie sind aber auf dem Weg, ihr "eigener Chef" zu werden, beschreibt Wacker die veränderte Lebenssituation.

Wenn man den Ansatz des »Persönlichen Budgets« auf das System der Hilfen spiegelt, knirscht es noch an vielen Ecken. Menschen, für die man sich als Fürsprecher fühlt, werden nun gleichzeitig zu Kunden, die man als Hilfeanbieter braucht. Das herkömmliche Versorgungssystem der Wohlfahrtsverbände muss hier umdenken. Zugleich ist es sehr wirkmächtig und ein großer Wirtschaftsfaktor. Langsam beginnt es zu lernen, das Leben von Menschen mit Behinderung weniger aus der Sicht einer Organisation zu sehen und die Menschen dabei nicht als Gruppe von Hilfebedürftigen zu betrachten, sondern vielmehr als Individuen. "Wenn einer in der Gruppe Koffein meiden musste, dann erhielten alle keinen Kaffee", beschreibt Wacker eine typische Folge dieser Gruppensicht.

Mitarbeiter, die über Jahrzehnte nach diesem System arbeiten, brauchen nun Mut und Zeit zur Veränderung. Denn sie haben Mühe, sich auf die neue Situation flexibel einzustellen, meint die Hochschullehrerin. Aber das konventionelle Rehabilitationssystem ist teuer und nicht immer gleich wirksam und wirtschaftlich. Es muss und soll weiterentwickelt werden. Dabei kann das »Persönliche Budget« eine wichtige Rolle spielen. Bisher wird es jedoch nur zögerlich in Anspruch genommen. Denn obwohl es seit dem Jahr 2008 in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Geldleistungen für sie gibt, sind die Hürden noch hoch für die Pioniergeneration der Menschen, die diese Unterstützung nutzen wollen. Die Rehabilitationsforscherin ist aber sicher, dass das Persönliche Budget - wie bereits im Ausland zu beobachten ist - ein Erfolgsmodell ist, das mehr und mehr Bedeutung erlangen wird.


Zur Person
"Man lernt viel über unsere Gesellschaft und das Zusammenspiel in ihr, wenn man es aus der Perspektive der sozialen Ungleichheit betrachtet", ist die Antwort von Prof. Dr. Elisabeth Wacker auf die Frage nach ihrer beruflichen Motivation. Die Dekanin der Fakultät Rehabilitationswissenschaften hat den Lehrstuhl für Rehabilitationssoziologie inne. Die 1954 geborene Professorin schloss 1974 mit dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium in Nürnberg ihre Schulzeit ab. Im Anschluss ging die Fränkin ins Schwabenland. Sie studierte breit angelegt: Theologie, Germanistik, Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Ihr derzeitiges Forschungsgebiet erschloss sie sich bei Aufbau und Geschäftsführung der überfachlichen zentralen Wissenschaftlichen Einrichtung »Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen« (Z.I.E.L.) der Tübinger Universität. Trotz ihrer süddeutschen Wurzeln und Erfolge wechselte sie 1996 nach Dortmund. Für sie ist die TU Dortmund derzeit der beste deutsche Standort für Rehabilitationsforschung. Und sie fühlt sich auch im Westfälischen mit ihren fußballbegeisterten Söhnen sehr wohl.


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Quelle:
mundo - das Magazin der Universität Dortmund, Nr. 10/09, Seite 38-41
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
E-Mail: redaktion.mundo@uni-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2009