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BERICHT/306: Ein Hoffnungsloser machte sich auf den Weg (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Februar 2009

Ein Hoffnungsloser machte sich auf den Weg
Angekommen in einem neuen Leben

Von Gunnar Kreutner


Als Gotthard Müller vor zwei Jahren mit seinem schwarzen Trolli die Landstraße hinunter auf die ersten Häuser der Stadt zuschlenderte, ahnte er noch nicht, dass sich hinter dem Ortseingangsschild "Bielefeld-Großdornberg" vieles zum Guten wenden würde. Er erwartete nichts mehr vom Leben. "Zum Selbstmord reichte meine Verzweiflung aber noch nicht aus", erinnert sich der heute 47-Jährige. Gotthard Müller hatte damals in kurzer Zeit alles verloren: Seine Mutter starb, er verlor seinen Job und schließlich die Wohnung.


"Weil ich immer ein Einzelgänger war, traf mich der Tod meiner Mutter besonders hart. Als ich arbeitslos wurde und plötzlich die Räumung meiner Wohnung in Osnabrück anstand, wollte ich mich umbringen. Den Alkohol dafür hatte ich mir schon besorgt", erzählt Gotthard Müller. Er wirkt nachdenklich, aber auch ruhig und entspannt, während er von seiner schweren Zeit als Wohnungsloser berichtet. Sein Verstand habe ihn damals im letzten Augenblick umgestimmt, sich das Leben zu nehmen, und ihm gesagt, dass es schlimmer doch nicht mehr werden könne. "Darum dachte ich mir: Egal, hau' hier einfach erstmal ab!" Über die Zwischenstationen Melle und Werther kam Gotthard Müller im Frühling 2007 zu Fuß nach Bielefeld. "Als ich hier eintraf, hatte ich Bilder von der Ravensberger Spinnerei im Kopf - vielleicht bin ich als Schüler mal bei einem Klassenausflug hier gewesen", vermutet er.


Zwei Wochen "Platte"

Zunächst sah es nicht so aus, als würde in Bielefeld irgendetwas anders laufen als an anderen Orten - im Gegenteil. Zwei Wochen lang machte Gotthard Müller Platte in den Grünanlagen "Heeper Fichten". Er hatte kein Dach über dem Kopf und schlief im Freien. Als es im Sommer heiß wurde, kollabierte sein Kreislauf. "Ich war pleite, hatte zu wenig getrunken und war total ausgetrocknet. Zum Klauen fehlte mir aber die kriminelle Energie", berichtet er. Passanten riefen einen Krankenwagen, der ihn in ein städtisches Krankenhaus brachte. Körperlich war Gotthard Müller schnell wieder auf den Beinen, aber weil er an schweren Depressionen litt und selbstmordgefährdet war, wurde er in die psychiatrische Klinik in Bethel vermittelt. "Bis heute ein Glücksfall", freut er sich.

Drei Monate lang wurde Gotthard Müller in Bethel behandelt. Die Therapien haben ihm sehr geholfen - auch weil er viele Menschen mit ähnlichen Problemen kennen gelernt hat. Nach seinem stationären Aufenthalt wohnte Gotthard Müller zunächst im Haus Damaskus in der Ortschaft Bethel. Seit einem Dreivierteljahr lebt der gelernte Maurer zusammen mit zwei Mitbewohnerinnen in einer Wohngruppe des Betheler Stiftungsbereichs Integrationshilfen in der Innenstadt. Betreut wird Gotthard Müller vom Team des Hauses Chrysant.


"Kolagruppe"

"Seit ich hier im Ehlentruper Weg wohne, geht es mir deutlich besser", sagt Gotthard Müller. Er blinzelt durch seine großen Brillengläser, weil ihm die Sonne durch eine große Fensterscheibe direkt ins Gesicht scheint. Gotthard Müller hat ein helles Zimmer mit Blick in einen grünen Garten, in dem ein Gewächshaus steht und sein Mofa. "Leider ist der Bowdenzug zurzeit eingefroren, und ich muss wieder zu Fuß gehen", bemerkt er lächelnd.

Weit hat Gotthard Müller es nicht, wenn er Abwechslung sucht oder Leute treffen will. Im Haus Chrysant, das nur wenige Fußminuten entfernt liegt, kann Gotthard Müller an zahlreichen Aktivitäten teilnehmen. Regelmäßig besucht er dort die "Kolagruppe", die unter anderem Ausflüge organisiert. "Mittwochabends ist der 'Club'. Dann spielen wir Billard", sagt er. Für Gotthard Müller ist es sehr wichtig, dass er eine Beschäftigung hat und es ihm nicht langweilig wird. Besonders viel bedeuten ihm die Angebote im Tagesaktivitätenzentrum (TAZ) des Stiftungsbereichs Integrationshilfen in der Gadderbaumer Straße. Seit einem halben Jahr beteiligt er sich mehrmals in der Woche an verschiedenen Arbeits- und Kreativangeboten. "Das TAZ tut mir gut. Hier habe ich auch das Malen wiederentdeckt. Schon als Kind habe ich viel zum Pinsel gegriffen." Über die Betheler Hilfeangebote hat Gotthard Müller viele andere Menschen kennen gelernt. Echte Freundschaften hätten sich noch nicht entwickelt, "aber als jahrelanger Einzelgänger muss ich ja auch erst lernen, Freundschaften zu pflegen", sagt er.


Zukunftspläne

Langsam, aber sicher fasst Gotthard Müller wieder Fuß im Leben. Er ist erleichtert, wieder einen einigermaßen geregelten Alltag zu haben. Er kümmert sich viel um den Haushalt in der WG, genießt so alltägliche Aufgaben wie Schneeschippen vor der Haustür, und er entwickelt wieder Ziele. So hofft er, zum Jahresende einen an das TAZ angelagerten WfbM-Platz zu bekommen. "Vielleicht kann ich Hausmeister- und Gartenarbeiten in Häusern erledigen, die zum TAZ gehören. Das habe ich in den vergangenen Monaten nämlich bereits reichlich getan, und es hat mir gefallen. Die Gespräche und die Bürokratie dafür laufen", sagt er. "Und vielleicht bin ich ja bald soweit gefestigt, dass ich in einer eigenen Wohnung mit ambulanter Betreuung wohnen kann." Psychisch stabil sei er noch nicht, betont Gotthard Müller. "Ich denke zwar nicht mehr daran, mich umzubringen, aber wirklich Freude am Leben ...? Nein, die habe ich immer noch nicht. Ich bin aber auf einem guten Weg."


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Quelle:
DER RING, Februar 2009, S. 18-19
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2009