Schattenblick → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → PRESSE


ARTIKEL/385: Teilhabe und Assistenz - Anmerkungen zu Begriff und Inhalten (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Teilhabe und Assistenz
Anmerkungen zu Begriff und Inhalten

Von Christian Reumschüssel-Wienert


Seit dem Jahre 2001 ist mit dem in Kraft getretenen SGB IX "Rehabilitation und Teilhabe" der Begriff der Teilhabe fest im deutschen Sozialrecht verankert, durch das BTHG 2016 ist er noch einmal bekräftigt werden. Ziel des BTHG (§ 1 SGB IX) ist es, Menschen mit Behinderungen, ihre Selbstbestimmung und volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Darüber hinaus benutzt das BTHG nun (ab 2018) einen neuen Behinderungsbegriff. Im § 2 des neuen SGB IX heißt es: "Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft [...] hindern können." Hiermit hat sich das BTHG der Diktion der UN-BRK, verschiedenen Verlautbarungen der Weltgesundheitsorganisation sowie dem Diskussionsstand der Wissenschaft angeschlossen, die "Behinderung" als "Teilhabeproblem" konzipieren. "Behinderung" ist nun nicht mehr eine Angelegenheit individueller Beeinträchtigung, sondern entsteht im Rahmen von Wechselwirkungen. In diesen rechtlichen Rahmenbedingungen ist das Verständnis von Teilhabe als Gesamtheit der sozialen Umweltbeziehungen von Menschen zur sozialen Leistungsnorm geworden.

UN-BRK

Auf der Grundlage der allgemeinen Menschenrechte ist für die UN-Behindertenrechtskonvention der Begriff der Teilhabe zentral. Er ergänzt den Begriff der Selbstbestimmung bzw. Autonomie. Insbesondere in der Präambel sowie in Art. 1 und 3 der UN-BRK wird auf Teilhabe Bezug genommen und dort definiert als

  • volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe (Mitgliedschaft) an/in der Gesellschaft,
  • vollen, uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Freiheiten,
  • Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen (soweit es sie selbst betrifft),
  • Einbeziehung in die Gemeinschaft/Recht auf Zugehörigkeit (Zugehörigkeitsgefühl) und
  • Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, Gesundheit und Bildung, Information und Kommunikation.

Für das Individuum ist die individuelle Autonomie und. Unabhängigkeit sowie die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe. Für die Vertragsstaaten gilt die Verpflichtung, legislative und faktische Rahmenbedingungen zu schaffen, die oben genannten Rechte umzusetzen (Zugänglichkeit zu sichern), unterstützende infrastrukturelle Bedingungen und Dienste zu schaffen sowie Diskriminierung zu bekämpfen.

Teilhabe ist damit nicht nur umfassend geregelt, sondern auch als ein aktiver Prozess gekennzeichnet, der sich erst in seiner Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Bedingungen entfaltet. Weiterhin erscheint wichtig, dass der Teilhabebegriff sich nicht nur in Möglichkeiten oder Chancen erschöpft, sondern durch Verwendung des Begriffes der Wirksamkeit auf die faktische Teilhabe bezieht. Das bedeutet auch: Ohne aktives Subjekt gibt es keine Teilhabe - aber eben auch nicht ohne förderliche Rahmenbedingungen.

Was ist (soziale) Teilhabe?

Der Begriff der Teilhabe ist recht schillernd. Er wurde in den 1930er (!) Jahren von dem Staatsrechtler Forsthoff - neben dem Begriff der Daseinsvorsorge - in das deutsche Recht eingeführt, und zwar als Gegenbegriff zu demokratischer Partizipation. Noch in den 1980er Jahren hat sich z.B. Jürgen Habermas gegen den Teilhabebegriff gewehrt Allerdings hat dann das Begriffsverständnis eine deutliche Wendung vollzogen, nicht zuletzt deshalb, weil "Teilhabe" in Deutschland - wie auch in der UN-BRK - bald zur Übersetzung des englischen Begriffes "Participation" verwendet wurde. Heute ist der Begriff der Teilhabe nicht nur in der ICF zentral, sondern auch z.B. in der Debatte um Inklusion/Exklusion oder auch beim sogenannten Capability-Ansatz. Dieser wiederum ist konzeptionelle Grundlage des sogenannten Lebenslagenkonzeptes, das in unterschiedlichen Bereichen der Sozialberichterstattung eine große Rolle spielt und sowohl in der sozialräumlichen Planung als auch in unterschiedlichen Forschungs- und Praxiskonzepten eine handlungsleitende Funktion innehat.

Hieraus folgt zusammenfassend:
Soziale Teilhabe im Sinne einer (gleichberechtigten) Einbeziehung von Individuen und Organisationen in gesellschaftliche Kommunikations-, Interaktions-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse ist kein einmalig erreichter, fester Zustand. Soziale Teilhabe ist vielmehr ein vielschichtiger, verzahnter und hochgradig dynamischer Prozess, der in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen immer wieder veränderte Schwerpunkte findet.

  • Teilhabe erfordert eine materielle Grundausstattung (Mindestsicherung), die Teilhabe auch ermöglicht Denn: "In der Möglichkeit und Fähigkeit zum Konsum beweisen wir unsere soziale Teilhabe und gewinnen das Gefühl, mit von der Partie zu sein. Wem es an Konsummitteln oder Konsumkompetenzen mangelt, fühlt sich schnell von der Gesellschaft insgesamt ausgeschlossen" (Bude 2016).
  • Grundlage sozialer Teilhabe ist individuelle Autonomie und Selbstbestimmung, die sich erst in Interaktion mit dem sozialen Umfeld entfalten kann.
  • Teilhabe erfordert (Lebens-)Kompetenzen, Selbstachtung und ein Bewusstsein von Selbstwirksamkeit, die sich auf der Grundlage von bzw. Interaktion mit Anerkennung und Wertschätzung von anderen entfalten können.
  • Teilhabe ist die Wahrnehmung sozialer Rechte und Entfaltung von "normalen" sozialen Rollen in einer Gesellschaft.
  • Teilhabe ist ein Prozess, der sich nach individuellen Konzeptionen des guten Lebens richtet, sich auf unterschiedliche Lebensbereiche bezieht und damit prinzipiell im Laufe der Zeit auch wandeln kann.
  • Teilhabe ist auch Zugehörigkeit zu sozialen Systemen (z.B. Recht, Politik, Wirtschaft, Bildung etc.), gesellschaftlichen Gruppen und (Nah-)Beziehungen.
  • Teilhabe ist ein aktiver, individueller, gegebenenfalls professionell unterstützter Prozess, der gesellschaftliche Rahmenbedingungen erfordert, die in der Weise "inklusiv" sind, als dass sie nicht nur Chancen eröffnen, sondern für eine aktive Teilnahme förderlich und motivierend sind sowie Möglichkeiten der Unterstützung anbieten.
Teilhabe und Assistenz

Ziel der Leistungen zur sozialen Teilhabe im § 76 SGB IX ist, "eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern [...] und [...] zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen". In der Begründung hierzu schreibt der Gesetzgeber u.a.: "Leistungen zur sozialen Teilhabe gewinnen insbesondere vor dem Hintergrund der mit den besonderen Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen verbundenen Zielsetzungen der Ermöglichung einer individuellen Lebensführung sowie der Förderung gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung."

Ein Teil der bisherigen Leistungen zur Eingliederungshilfe von behinderten Menschen, wie z.B. das "Betreute Wohnen", heißt nun "Assistenzleistungen" und ist in § 78 SGB IX geregelt. Sie haben das Ziel der selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung. Sie umfassen vor allem Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen.

"Assistenz" ist ein Begriff, der hinsichtlich sozialer Teilhabe von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen nicht besonders passend ist. Gemeindepsychiatrische Angebote der Eingliederungshilfe sind eher sozialtherapeutisch orientierte Hilfen, die sich kaum als "Assistenz" bezeichnen lassen. Sie bestehen aus motivierenden, trainierenden und stützenden Komponenten und Programmen, haben Grenzen setzende und spiegelnde Elemente sowie reflektierende und analysierende Inhalte, die je nach Bedürfnissen und Situation zum Tragen kommen. Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung - als Grundelement aller erforderlichen Maßnahmen - steht hierbei im Mittelpunkt.

Auf diese Aspekte wird zum Teil in der Gesetzesbegründung eingegangen. Neben Hinweisen auf die Vielfältigkeit möglicher Leistungen werden insbesondere auch die qualifizierten Assistenzleistungen betrachtet: "Dies berücksichtigt der neue Leistungstatbestand, indem pädagogische und psychosoziale Leistungen mit einbezogen werden. Diese Assistenzleistungen sollen insbesondere die Selbstbestimmung, Selbstverantwortlichkeit, Selbständigkeit und soziale Verantwortung des Menschen mit Behinderungen stärken. Entsprechende qualifizierte Assistenzleistungen können beispielsweise die Beratung und Anleitung zur Lebensgestaltung und Planung bei der Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen sowie der Gestaltung der Partnerschaft sein. [...] Dabei reicht es aus, dass die angestrebten Ziele in weiter Ferne erreichbar sind."

Deutlich wird insbesondere in dem Zusammenhang mit der Begründung des Teilhabebegriffes sowie der Assistenzleistungen, dass es bei einer Unterstützung nicht nur um eine gewisse Selbstständigkeit bei Alltagserledigungen oder der Entwicklung von "Alltagskompetenzen" geht, sondern dass Teilhabeleistungen/Assistenzleistungen immer auch ausgerichtet sind auf das soziale Umfeld bzw. auf den Sozialraum. Die Leistungen können sich nicht in der Vermittlung von "Kompetenzen" erschöpfen, sondern sollen, wie die Gesetzesbegründung formuliert, die Menschen "befähigen" - damit bezieht sich die Gesetzesbegründung auf den Capability-Ansatz. Befähigungen sind jedoch mehr als Kompetenzen, denn sie erlauben es Menschen, ihre Ressourcen so ein- und umzusetzen, dass es den eigenen Vorstellungen einer erstrebenswerten Lebensführung entspricht.

Dies bedeutet, dass Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe darauf ausgerichtet sein müssen, ihre Klientinnen und Klienten bei der Wahrnehmung ihrer gewünschten Rechte und Rollen und beim Erlangen der entsprechenden Ressourcen zu unterstützen. Hierbei wird die Unterstützung bei der Wahrnehmung von (sozialen) Rechten ein Schwerpunkt von Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe werden (müssen).

Natürlich ist es in der psychosozialen Arbeit bisweilen auch so, dass Menschen aktiv unterstützt werden müssen, um überhaupt Perspektiven oder Vorstellungen vom "guten Leben" für sich entwickeln zu können. Zu dem hiermit verbundenen Paternalismusproblem lässt sich in Anlehnung an Brumlik (1990) formulieren, dass "das zentrale operative Merkmal legitimierbarer paternalistischer Eingriffe darin [bestehe], dass sie entmündigende (Neben-)Wirkungen minimieren und den Betroffenen bei geringstmöglicher Kontrolle optimal nützen".

Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe müssen gleichsam darauf ausgerichtet sein, personenzentriert einen Abbau von Barrieren zu bewerkstelligen. Dies bezieht sich sowohl auf die materielle und die institutionelle Umwelt als auch auf die informelle Umwelt, z.B. bei Konflikten, Stigmatisierungen etc. Für Professionelle fängt diese Arbeit gewissermaßen "zu Hause" in der eigenen Einrichtung an (Zugangsbarrieren, Hausordnung etc.). Eine auf Teilhabe abzielende - personenzentriert an Capabilities bzw. Befähigungen ansetzende - und sozialräumlich ausgerichtete psychosoziale Arbeit versucht die gesellschaftlichen Kontextbedingungen so zu gestalten, dass Möglichkeitsräume und unterstützende Umfeldbedingungen eröffnet werden, die durch die Individuen aktiv wahrgenommen werden können. Insofern muss die "Aktivierung" nicht nur auf "Leistungssteigerung" im Sinne einer "Selbstoptimierung" (Bröckling 2007) abzielen, sondern eher im Sinne eines Empowerments auf Befähigung. Es geht bei einer inklusiven, auf soziale Teilhabe gerichteten psychosozialen Arbeit nicht allein darum, individuelle Ansprüche "passgenau" zu bedienen oder Individuen "fit" zu machen, sondern individuelle Ansprüche in soziale Ereignisse zu verwandeln und Menschen in Handlungszusammenhänge zu verstricken. Die Möglichkeiten sind gegeben, da die Leistungen sich im neuen Recht nicht mehr auf bestimmte Orte beziehen.

Teilhabe als Gegenseitigkeit und Zugehörigkeit

Dies hat Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung, die sich nicht mehr nur auf die "Begegnung eines individuellen Ichs mit einem Du" im Sinne Bubers beschränken kann, sondern - gewissenmaßen als eine Triade - das "Soziale" als Offenheit und Quelle des Zustroms neuer Impulse immer miteinbeziehen muss. Gerade eine Unterstützung, die auf Anerkennung und Selbstwirksamkeit ausgerichtet ist, muss immer auch "den Sozialraum" im Blick haben, da wesentlich nur aus diesem Anerkennung, Wertschätzung sowie Erfahrungen von Selbstwirksamkeit kommen können. Psychosoziale Arbeit, die auf Teilhabe im Sinne zwischenmenschlicher Beziehungen ausgerichtet ist, kann nicht zum Ziel haben, dass Menschen keine Unterstützung mehr benötigen, sondern im Gegenteil, dass sie in Unterstützungssettings auf Gegenseitigkeit eingewoben werden - und sich hier "zugehörig" fühlen.

Leistungen zur sozialen Teilhabe zielen also darauf ab, die Lebenslagen der betroffenen Menschen zu verbessern. Dies muss nicht notwendig nur die Förderung und Vermittlung individueller Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen umfassen, sondern auch die Stärkung der materiellen Grundlage (indirekt) sowie Barrierenabbau und Ressourcenstärkung des Umfeldes beinhalten.


Christian Reumschüssel-Wienert,
Diplom-Soziologe, Diplom-Sozialwirt;
Referent für Psychiatrie/Queere Lebensweisen beim Paritätischen Wohlfahrtsverband LV-Berlin; Vorsitzender der BGSP; Mitglied EV-DGSP, Fachausschuss Psychiatrie 4.0
E-Mail: reumschuessel@paritaet-berlin.de


Hinweis

Eine stark erweiterte Version mit Zitationen und Literaturhinweisen ist verfügbar unter: www.dgsp-ev.de

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, Oktober 2017, Seite 24 - 26
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.dgsp-ev.de
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang