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POLITIK/008: Jenseits der Konventionen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111

Jenseits der Konventionen

von Elisabeth Wacker


Die gesetzlichen Bestimmungen sind eindeutig: Die Interessen der Kinder mit Behinderung sollen bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben genauso berücksichtigt werden wie die der Kinder ohne Behinderung. Doch die Kluft zwischen gefordertem Idealzustand und Lebensrealität ist tief.


Vor 25 Jahren unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen (UN). Im Jahr 1992 trat es in Kraft. Nun also sind nicht nur Eltern und Familien die Garanten oder Gefährder des kindlichen Wohls, sondern Staaten wachen explizit gerade über die besonders Schutzbedürftigen unter den Schutzbedürftigen, wie beispielsweise zur Adoption stehende Kinder, Flüchtlingskinder oder junge Menschen mit Behinderung (Artikel 23 der UN-Kinderrechtskonvention: UNKRK). Für behinderte Kinder und Jugendliche - wie für alle behinderten Menschen - gilt außerdem die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die als sogenannte lex specialis der Kinderrechtskonvention vorgeht (www.kinderrechtskonvention.info/behinderte-kinder-3595).

Dieses im Jahr 2006 beschlossene und im Jahr 2008 in Kraft getretene »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« verfolgt einen Mainstreaming-Ansatz. Das bedeutet, es mahnt, bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Menschen mit und ohne Behinderung zu berücksichtigen. Denn ebenso wie es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, sind auch Menschen mit oder ohne Beeinträchtigungen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen und administrativen Entscheidungen betroffen (www.behindertenrechtskonvention.info).


Die Datenlage über die Lebenssituation beeinträchtigter Kinder ist mangelhaft

Bezogen auf Kinder betont die UN-BRK deren Gleichberechtigung (Art. 7) und die Pflicht, alle erforderlichen Anstrengungen für das Kindeswohl zu unternehmen. Dazu zählt auch, Rahmenbedingungen zu schaffen (sogenannte begleitete Elternschaft oder Elternassistenz), die es Eltern mit Beeinträchtigungen ermöglichen, ihr Recht auf Elternschaft wahrzunehmen (Zinsmeister 2012). Dies würde sich auch positiv auswirken auf die laut einer österreichischen Studie etwa 3,5 Prozent pflegender Kinder und Jugendlicher im Alter von 5 bis 17 Jahren, die wegen einer chronischen Erkrankung, Behinderung und/oder Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds Unterstützungsarbeit leisten (BMASK 2013). Hochgerechnet auf Deutschland würde dies etwa 340.000 pflegende Kinder betreffen.

Kinder mit Beeinträchtigungen wachsen öfter in belasteten Familienverhältnissen auf als Kinder ohne Beeinträchtigungen: Beispielsweise leben sie signifikant häufiger mit nur einem Elternteil zusammen (BMAS 2013). Belastungen sollen gemildert werden über Leistungen wie Kinderpflegekrankengeld, sozialmedizinische Nachsorge und sogenannte Familienunterstützende Dienste (nach §§ 39, 45a SGB XI: Pflegeversicherung; §§ 53, 54 SGB XII: Eingliederungshilfe; § 35a SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe). Über deren Wirkung liegen allerdings kaum evidenzbasierte Kenntnisse vor.

Folgt man der UN-BRK (Art. 3), so wird ausdrücklich die Pflicht hervorgehoben, die sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Wahrung ihrer Identität zu beachten. Und hierzu wird ihnen explizit auch eine aktive Rolle zugemessen: Die Vertragsstaaten der Konvention sollen Menschen mit Behinderung - auch Kinder (Art. 4, Abs. 3 UNBRK) - aktiv miteinbeziehen. Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch sollen strafrechtlich verfolgt werden (Art. 16, Abs. 5 UN-BRK), unter anderem auch Eingriffe in die Fruchtbarkeit von Kindern mit Behinderungen.


Die Teilhabe am täglichen Leben in der Familie gilt als Königsweg

Eine Realitätsprüfung fällt aufgrund einer brüchigen Datenlage schwer, aber folgende Anhaltspunkte lassen sich heranziehen: Nach der UN-BRK soll immer das Kindeswohl ausschlaggebend sein (Art. 23, Abs. 2). Familiäre oder familienähnliche Betreuung wird dabei als Königsweg angesehen (Art. 23, Abs. 5). Ist der Verbleib in der Herkunftsfamilie nicht möglich, werden nach § 54 Abs. 3 SGB XII Leistungen für eine Pflegeperson gewährt, wenn sie Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch die stationäre Unterbringung vermieden werden kann. Informationen über die Anzahl entsprechend betreuter Kinder mit Beeinträchtigungen sowie über die hierfür entstandenen Kosten werden in der Sozialstatistik nicht gesondert ausgewiesen. Von seelisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen unter 27 Jahren (nach § 35a SGB VIII) weiß man, dass 11.400 zum Jahr 2013 in betreuten Wohneinrichtungen lebten.

Das bedeutet gegenüber dem Jahr 2008 (8.820 Personen) einen Zuwachs von 29 Prozent. Im Bereich des unterstützten Wohnens erhielten laut Sozialhilfestatistik im Jahr 2013 insgesamt 4.795 unter 18-Jährige Leistungen, davon 9 Prozent ambulant und 91 Prozent stationär. Da Kinder und Jugendliche generell ihre Wohnsituation nicht ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten verändern können, lassen sich aus diesen Zahlen jedoch keine Aussagen zu Teilhabechancen am Leben in der Familie oder erfahrener Fremdbestimmung ableiten.


Auf dem Weg zu mehr Inklusion in Schulen und Kindertageseinrichtungen

Art. 24 der UN-BRK erkennt das Recht auf Bildung nach dem Prinzip der Gleichberechtigung an und fordert ein einbeziehendes (inklusives) Bildungssystem auf allen Ebenen sowie lebenslanges Lernen, das schrittweise eingeführt werden soll. Erkennbar ist, dass Kindertageseinrichtungen verstärkt zu Orten frühkindlicher Bildung weiterentwickelt werden und daran auch Kinder mit Beeinträchtigung partizipieren. Die Zahl der Kindertageseinrichtungen, in denen Kinder mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam betreut werden, ist von rund 14.300 im Jahr 2009 auf knapp 17.900 im Jahr 2014 gestiegen. Dies entspricht einer Zunahme von 25 Prozent. Zugleich ist der Anteil der eingliederungshilfeberechtigten Kinder, die in Tageseinrichtungen für behinderte Kinder betreut werden, laut der Kinder- und Jugendhilfestatistik des Statistischen Bundesamts von 19 Prozent im Jahr 2008 auf 13 Prozent im Jahr 2011 kontinuierlich gesunken.

Die Betreuungsquoten in den Kindertageseinrichtungen unterscheiden sich in den Bundesländern stark: Die Spanne reicht von 1,2 Prozent in Bayern bis zu 7 Prozent in Berlin. Ausgestaltung und Organisation der schulischen Bildung ist in Deutschland Aufgabe der Bundesländer. Im Jahr 2011 haben die zuständigen Kultusministerinnen und -minister mit einer gemeinsamen Empfehlung »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen« die Grundlage einer bundesweiten Entwicklung für das Recht von Kindern mit Behinderung auf Bildung geschaffen (KMK 2011). Die meisten Länder haben ihre Schulgesetze rechtlich angepasst, wenn auch in sehr unterschiedlicher Reichweite (Mißling/Ückert 2014). Im Einzelnen sind Aussagen zu Beschulungstrends von Kindern mit Beeinträchtigung begrenzt, da die Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) Kinder nicht erfasst, die eine Beeinträchtigung haben, aber keine sonderpädagogische Förderung erhalten. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler ist in den letzten Jahren insgesamt zurückgegangen, die Fälle sonderpädagogischer Förderung aber sind im Zeitraum von 2005 bis 2012 leicht gestiegen (von circa 487.000 auf 495.000). Gleichzeitig ist die sogenannte Förderquote (das heißt der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung an allen Schülerinnen und Schülern) kontinuierlich gewachsen: von 5,7 Prozent im Jahr 2005 auf 6,6 Prozent im Jahr 2012. Zwischen Förderquoten in Mecklenburg-Vorpommern mit 10,1 Prozent und etwa 5 Prozent in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz liegen erhebliche Unterschiede. Deren Ursachen (beispielsweise bei der Bedarfsfeststellung oder Angebotsgestaltung) sind nicht empirisch geprüft.

Der Anstieg der Teilnahme der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung am Unterricht in einer Regelschule auf 28 Prozent im Schuljahr 2012/13 ermöglicht Vermutungen über einen fortschreitenden Inklusionsprozess, aber keine Aussagen über die Qualität des Unterrichts und Bildungserfolge. Festzuhalten ist zudem, dass - wie bei den Förderquoten - auch bei der Teilhabe in Regelschulen in den Bundesländern erhebliche Unterschiede bestehen (die Spreizung reicht von Bremen mit durchschnittlich 62 Prozent bis zu Niedersachsen mit 15 Prozent). Am häufigsten werden Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung an Regelschulen unterrichtet (47 Prozent), am seltensten kommt dies im Bereich Krankheit und geistige Entwicklung vor (7 Prozent). Rund die Hälfte aller Regelschulbesuche fallen auf die Grundschulzeit, im Gymnasium sind es nur noch etwa 6 Prozent (Bezug Schuljahr 2012/2013). Deutschlandweit sinkt die Zahl der Förderschulen in den letzten Jahren (von 2009: 3.306 auf 2013: 3.191); zugleich sind sie die Schulform mit dem häufigsten Ganztagsangebot (von 2009: 60,6 Prozent auf 2013: 65,1 Prozent erhöht).

Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung (nach § 54 SGB XII) sollen den Kindern, die beeinträchtigt beziehungsweise von einer Behinderung bedroht sind, einen Schulbesuch ermöglichen. Sie werden für den Besuch einer Regelschule und auch für den Besuch einer Förderschule erbracht (zum Beispiel für Schulbegleitung, Sonderbeförderung oder Mehrkosten bei Klassenfahrten); entsprechende Leistungen werden inzwischen häufiger gewährt: Laut Sozialstatistik stieg die Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger zwischen den Jahren 2007 und 2013 von 44.394 auf 54.281. Die Wirkung dieser schulischen Förderung lässt sich unter anderem beim Einstieg in die Ausbildung erkennen. Hier wird deutlich, dass junge Menschen, die keinen Hauptschulabschluss haben, besonderen Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule in den Beruf begegnen. Im Jahr 2012 kamen knapp drei Viertel der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss zunächst in einer Maßnahme im Übergangssystem unter (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014). Im selben Jahr beendeten nach der KMK-Statistik beinahe drei Viertel der Förderschülerinnen und -schüler ihre Schulzeit ohne Hauptschulabschluss. Auch im Bereich der akademischen Ausbildung zeigen sich Aufnahmedefizite und Benachteiligungen für beeinträchtigte Jugendliche (DSW 2011).


Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist von Beginn an entscheidend

Der Zugang zur Gesundheitsversorgung (Art. 25) kann als Indikator dienen für Chancen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung, weitere Behinderungen gering zu halten oder zu vermeiden. Maßnahmen, um möglichst frühzeitig Funktionseinschränkungen und Entwicklungsverzögerungen zu erkennen (insbesondere im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen für Kinder unter acht Jahren) erreichen laut der vom Robert Koch-Institut durchgeführten »Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland« (KiGGS) 81 Prozent aller Kinder. 16 Prozent nutzen sie teilweise, nur 3 Prozent nehmen an keiner entsprechenden Untersuchung teil (RKI/BZgA 2008). Mit dem Sozialstatus der Familien sinkt auch die Teilnahmehäufigkeit (RKI 2010). Die Chance, vor dem Schuleintritt heilpädagogische Leistungen der Frühförderung sowie medizinische Leistungen zur Früherkennung und Frühbehandlung zu erhalten, ist durch die gemeinsame Zuständigkeit der Sozialhilfeträger und Krankenkassen im Prinzip gleich gegeben, aber die Angebote von interdisziplinären Frühförderstellen sowie sozialpädiatrischen Zentren variieren in den Ländern und Kommunen erheblich (ISG 2012). Mit dem Eintritt in die Schule enden sie.


Die Nachfrage nach inklusiven Sportmöglichkeiten ist größer als das Angebot

Kinder mit Beeinträchtigungen sollen unter anderem gleichberechtigt mit anderen Kindern an Spiel-, Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten teilnehmen können (nach Art. 30, Abs. 5, Buchstabe d der UN-BRK). Die wenigen Zahlen, die Aussagen über die Einbindung in kulturelle Kontexte erlauben, weisen hingegen in eine andere Richtung: Eine Umfrage zur Inklusion im Sport zeigt, dass die Nachfrage nach inklusiven Sportmöglichkeiten größer ist als das Angebot (Klenk & Hoursch AG 2014). Hier liegen aber keine altersspezifischen Angaben vor. Insgesamt gibt es keine soliden Daten zu der Frage, in welchem Umfang Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in ihrer Teilhabe an musischen, künstlerischen oder sportlichen Aktivitäten eingeschränkt sind.


Die wesentlichen Barrieren befinden sich in den Köpfen der Menschen

Gibt es also eine Wirkungsgeschichte der Konventionen, womöglich sogar ihrer Wechselwirkungen, und wie wäre sie zu bewerten? Die National Coalition, ein Zusammenschluss von mehr als 100 bundesweit tätigen Organisationen und Initiativen mit dem Ziel, die UN-KRK in Deutschland bekannt zu machen und ihre Antidiskriminierungsziele voranzubringen, tadelt in einer Stellungnahme, dass immer noch eine Mehrheit der Kinder mit Beeinträchtigungen in Sondereinrichtungen versorgt würden (National Coalition 2009). Außerdem wird auf bauliche und auf Barrieren der Kommunikation hingewiesen, die Menschen mit Beeinträchtigung im öffentlichen Raum überwinden müssen.

Wesentliche Barrieren sind aber in den Köpfen, in den Vorannahmen und der Dominanzkultur einer fiktiven Normalität, also einer Vorstellung, was Menschen können sollen, wie sie aussehen sollen, wie sie sich verhalten sollen und was man von ihnen erwartet. Hier muss das Bewusstsein wachsen, zunächst das Augenmerk auf das jeweilige Kind zu richten und nicht ausschließlich auf dessen Beeinträchtigung. Aktuell machen Familien mit einem beeinträchtigten Kind häufig Erfahrungen, die es ihnen zusätzlich erschweren, einen Alltag der Teilhabe und Chancengerechtigkeit in der Kindheit und Jugend anzustreben und einzufordern: »Eltern, die ihr Kind mit Behinderung auf dem Weg zum Erwachsenwerden in die Mitte der Gesellschaft begleiten wollen, erleben in vielfältiger Weise, dass ihr Sohn, ihre Tochter in erster Linie für behindert und erst dann eventuell für ein Kind gehalten wird« (Hausmanns 2010, S. 143).


Es gibt eine Differenz zwischen Realität und zugesicherten Rechten

Die Kinderrechtskonvention sichert beeinträchtigten Kindern zu, dass sie besondere Behandlung, Erziehung und Fürsorge erhalten, damit sie das für sie erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit verwirklichen können. Dabei sei ihre Würde zu wahren, ihre Selbstständigkeit zu fördern und ihre aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft zu erleichtern (Art. 23 UN-KRK). Es wird unterstrichen, dass diese Rechte allen Kindern zustehen, auch denjenigen, die eine Beeinträchtigung haben - beziehungsweise behindert werden.

Der Dritte und Vierte Staatenbericht zur Umsetzungspolitik aus dem Jahr 2009 rückt die Themenfelder Kinderschutz, Gesundheit, Bildung und Partizipation in den Mittelpunkt. Betont wird, dass Kinder und Jugendliche ihrem Alter gemäß in Entscheidungen, die ihren Lebensalltag sowie ihre gesellschaftliche Teilhabe betreffen, intensiver eingebunden werden sollen. Außerdem gelte es, die Frühförderung von Kindern mit Behinderung in Kindertageseinrichtungen und in Schulen zu stärken und die Umsetzung der Inklusion in Bildung und Gesellschaft zu verwirklichen.

In der Realität ist die Sorge für Kinder mit Behinderungen entlang der jeweils zugeordneten Sozialgesetzbücher zerteilt. Kranken- und Pflegeversicherung, Jugend- und Sozialamt oder Arbeitsagentur können am jeweiligen Kind zerren wie im Kaukasischen Kreidekreis - und das, obwohl im Jahr 2006 die Kultusministerkonferenz den Beschluss gefasst hat, alle zukünftigen Empfehlungen und Beschlüsse an der UN-Kinderrechtskonvention zu orientieren (National Coalition 2013).


Eine gemeinsame Aufgabe für die Kinder- und
Jugendhilfepolitik sowie die Behindertenpolitik

Wie passen Kinder mit Behinderung als Trägerinnen und Träger von Rechten, Entwicklungszusammenarbeit als Auftrag an die Leistungssysteme und Teilhabemanagement als Umsetzungsmethode nach der UN-BRK in ein Bild? Das Kindeswohl lässt sich nicht abtrennen von einer bestimmten Funktionalität des Kindes; es ist Subjekt, so wie es ist. Entsprechend muss es im So-Sein Erfahrungen sammeln, seine Reichweite erkennen, sich kennenlernen im Austausch mit der Umwelt. Dies ist die Persönlichkeitsentwicklung, die Partizipation bedeutet, verbunden mit Verstanden- und Geachtet-Werden.

Wenn es um die Verbesserung der Teilhabe- und Partizipationschancen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung geht, sind nicht alleine die Fragen gesundheitlicher Versorgung zentral. In der Herkunftsfamilie gilt es, die Armut als eine wesentliche Risikolage zu bekämpfen (Engelbert 2011). Die Schule muss eine Inklusionsorientierung erlangen (BMAS 2013; Moser 2012). Und die Angebote für Freizeitgestaltung müssen Möglichkeiten zur Begegnung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung bieten (BMAS 2013; Hurrelmann 2012).

Gesagt, getan? Es gibt einen »Nationalen Aktionsplan kindgerechtes Deutschland 2005-2010« zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention (siehe Artikel auf S. 18). Demnach sollen alle relevanten Gesetze auf ihre Passung zu den entsprechenden Teilhabezielen geprüft werden. Die zuständigen Bundesländer setzen dies in verschiedener Weise um. Dabei wird eine Mainstreaming-Baustelle erkennbar, wenn es beispielsweise um die Chancen zur Teilhabe am Bildungssystem geht. Denn es dürfte keinen Unterschied machen, in welchem Bundesland ein Kind Teil des Bildungssystems sein soll und will.

Ein wesentlicher Schritt wäre, Kräfte zu bündeln und sich die Mühe zu machen, beide UN-Konventionen gemeinsam zu betrachten. Dann ließe sich ein Bewusstsein für das Recht auf Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen (mit und ohne Behinderung) fördern, wie dies der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung fokussiert hat (BMFSFJ 2013). Und vielleicht entpuppt sich dies als eine gemeinsame Aufgabe von Kinder- und Jugendhilfepolitik sowie Behindertenpolitik. Es könnte der Mühe wert sein, die wesentlichen »großen Lösungen« im Lichte beider Konventionen zu finden (Wacker 2011). Der im Dezember 2015 vom Bundeskabinett beschlossene Bericht zur Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes lässt sich nicht nur als Prüfstein für erfolgte und erfolgreiche Maßnahmen zugunsten der Rechte von Kindern lesen und nutzen, sondern auch als Stein des Anstoßes, wenn man nach der Perspektive des Kindeswohls derjenigen schaut, die mit Beeinträchtigungen aufwachsen. Der beherzte Schulterschluss, bei allen gesellschaftlichen und politischen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Kindern mit und ohne Behinderung zu berücksichtigen und dabei auch eng mit den Organisationen und Institutionen der Eingliederungshilfe zusammenzuarbeiten, steht noch aus.


Die Autorin

Prof. Dr. Elisabeth Wacker, die unter anderem Theologie und Soziologie studiert hat, ist seit dem Jahr 2013 Ordinaria für Diversitätssoziologie an der Technischen Universität München und seit 2010 Max Planck Fellow mit der Fachgruppe »Inklusion bei Behinderung« am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München.
Kontakt: elisabeth.wacker@tum.de


Literatur

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(Zugriff: 03.02.2016)


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www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2015 - Nr. 111, S. 24-28
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2016

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