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ETHIK/002: Präimplantationsdiagnostik - Um Leid zu verhindern? (BEB)


BeB - Informationen, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe
Nr. 42, Dezember 2010

Um Leid zu verhindern?
Tabubruch: Die BeB-Bioethikbeauftragte über die Präimplantationsdiagnostik

Von Brigitte Huber


Alles begann mit dem ersten "Retortenbaby" 1978. Für seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin erhielt Robert Edwards kürzlich den Medizin-Nobelpreis. Zusammen mit seinem Kollegen Patrick Stepkoe entwickelte er die Methode der künstlichen Befruchtung weiblicher Eizellen im Reagenzglas (In-vitro-Fertilisation, IVF). Heute leben weltweit tausende von Kindern, die sonst nicht geboren wären. War diese Technik noch vor Jahren die Ausnahme für bestimmte Fälle, so wird sie heute immer häufiger angewendet. Ein Segen, gewiss, für ungewollt kinderlose Paare. Nebenfolge der IVF, die in Kauf genommen wird, ist das Entstehen von "überzähligen" Embryonen, die entweder "verworfen" oder auf unbestimmte Zeit für noch unbestimmte Zwecke konserviert werden.

Bald nach der IVF wurde die Methode der Präimplantationsdiagnostik (PID) entwickelt. Durch sie lassen sich bestimmte Erbkrankheiten feststellen, wie zum Beispiel Chorea Huntington, das Turner-Syndrom, das Fragile X-Syndrom oder Mukoviszidose, aber auch Trisomien wie das Down-Syndrom oder Trisomie 13 oder 18. Selten wird von den Risiken gesprochen, die mit dieser Methode verbunden sind. Dass sie beim Menschen ähnliche Schäden verursachen kann wie das Klonen bei Tieren und vor allem für die betroffene Frau äußerst stressreich ist und auch gesundheitliche Risiken mit sich bringt, dass die Baby-take-home-Rate höchstens 18 bis 20 Prozent beträgt - darüber wird weniger gesprochen als über die Chancen.

Bei dem Verfahren werden dem künstlich erzeugten Embryo einzelne Zellen entnommen und diagnostiziert. Werden Gendefekte festgestellt, wird der Embryo nicht in den Mutterleib übertragen. Diese Diagnostik war zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) in Deutschland (1990) bekannt und im Ausland bereits angewendet. In Deutschland galt die PID aufgrund des strengen ESchG als verboten, denn sie zielt darauf ab, behindertes Leben zu vermeiden, hat also selektiven Charakter; denn implizit werden Werturteile getroffen, welcher Embryo lebenswert oder nicht lebenswert ist.

Die Gesellschaft, ungewollt kinderlose Paare und die Ärzteschaft waren gespalten darüber, dass die PID im Ausland legal praktiziert wird und in Deutschland ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer medizinischen Indikation zwar erlaubt ist, nicht aber die PID, durch die diese "Unzumutbarkeit" für die Schwangere gar nicht erst entstehen würde. So ist es nicht verwunderlich, dass sich deutsche Paare mit einer schwerwiegenden genetischen Disposition, die unter Umständen zu einem schwer behinderten oder nicht lebensfähigen Kind führen würde, im benachbarten Ausland die Erfüllung ihres Kinderwunsches suchen.

Im Ausland wird die PID bereits zur Erkennung von Alzheimer- oder Krebserkrankung angewendet, zur Erzeugung von so genannten Retterkindern (etwa um Knochenmark zu gewinnen für ein schwer behindertes Geschwisterkind), also nicht nur bei einer sehr begrenzten Zahl von frühen schweren Behinderungen. Die Janusköpfigkeit der PID ist offensichtlich, für die einen ein Segen, für andere ein Tabubruch.

Um eine Klärung der rechtlichen Zulässigkeit der PID herbeizuführen, zeigte sich ein Berliner Gynäkologe, der dort ein Kinderwunsch-Zentrum betreibt, selbst an, nachdem er 2005 und 2006 bei drei Paaren PID durchgeführt hatte. In den Leib der Mütter implantierte er nur die gesunden, die genetisch geschädigten Embryonen ließ er absterben. Das Landgericht Berlin sprach den Arzt vom Vorwurf des Verstoßes gegen das ESchG frei, der Bundesgerichtshof bestätigte in seinem Grundsatzurteil vom Juli den Freispruch und schuf somit eine neue Rechtslage. Wie kam es zu dieser neuen Sichtweise?

Der Berliner Gynäkologe machte geltend, dass mit der PID nichts anderes geschehe als bei einer genetischen Untersuchung des Embryos während der Schwangerschaft. Die pränatale Diagnostik, auch die genetische Untersuchung des Ungeborenen, sei erlaubt, und die Spätabtreibung bei medizinischer Indikation (Unzumutbarkeit für die Schwangere) bleibe straffrei. Es könne keinem Ehepaar zugemutet werden, "sehenden Auges das Risiko einzugehen, ein krankes Kind zu erhalten" und die begonnene Schwangerschaft dann abzubrechen. Bei der PID werden dem Embryo nicht mehr totipotente Zellen entnommen, also Zellen, die sich nach der Einpflanzung in den Mutterleib zu einem ganzen Individuum entwickeln können, sondern Zellen im Stadium der Pluripotenz, das heißt zu einem Entwicklungszeitpunkt, da sich aus diesen Zellen lediglich unterschiedliche Gewebearten oder Organe entwickeln. Das ESchG verbiete die PID lediglich an totipotenten Zellen, die nach der Definition des Gesetzes Embryonen gleichgestellt sind!

Der BGH schloss sich dieser Interpretation des ESchG an. Doch wo es eine Auslegung gibt, gibt es immer auch eine zweite. Das Gesetz kennt diese Unterscheidung nicht. Durch das Urteil wird eine liberale Haltung vorgegeben, ein bislang geteilter Konsens unterminiert, demzufolge jedem Menschen aufgrund seines Menschseins eine Würde zukommt. Gerade in dem überaus sensiblen Bereich der Entstehung menschlichen Lebens ist der Staat in besonderer Weise gefordert, klare Grenzen zu ziehen zwischen dem technisch Machbaren und dem ethisch Verantwortbaren.

Die willkürliche Unterscheidung zwischen totipotenten und pluripotenten Zellen nach IVF ist interessegeleitet, mit dem Ziel der Aussonderung unerwünschter genetischer Eigenschaften. Es dürfen nicht alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen ausgeschöpft werden, ohne die daraus entstehenden gesellschaftlichen Folgen durchdacht zu haben. Der moralische Status des Embryos ist noch nicht hinreichend geklärt! Der Lebensschutz auch für früheste menschliche Entwicklungsstadien ist nicht teil- oder abstufbar. Der Wunsch nach einem gesunden Kind ist nachvollziehbar, und doch kann es kein Recht auf ein gesundes Kind geben. Die Fortschrittshörigkeit hat dazu verführt, dass wir den künstlich erzeugten Embryo auf einen "Zellhaufen" reduzieren und dann zwischen totipotenten und pluripotenten Zellen unterscheiden, damit wir über ihn verfügen können. Ungewollte Kinderlosigkeit wird nicht mehr schicksalhaft angenommen, sondern wird als Krankheit verstanden, die geheilt werden kann. Hat der Mensch "faustische Pakte mit den Wissenschaften" geschlossen, wie der emeritierte Mediziner Linus Geisler 2004 vermutete? Wurde mit dem BGH-Urteil einem neoliberalen Menschenbild das Wort geredet, das in vielen Bereichen ethische Minenfelder aufzeigt?

Nach dem Ciba-Geigy-Symposium in London im November 1962 unter dem Titel "Der Mensch und seine Zukunft" bezeichnete Jeremy Rifkin, US-amerikanischer Soziologe, Ökonom und Publizist (schrieb kritische Bücher über die Auswirkungen des wissenschaftlichen und technischen Wandels auf Arbeitswelt, Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt) das 21. Jahrhundert als "biotechnische Zeitalter" (gleichnamiges Buch 2007). Der Glaube an die Macht der Gene zog sich wie ein roter Faden durch das Symposium. "Die Verbesserung der genetischen Qualität des Menschen durch eugenische Verfahren würde eine große Last an Leiden und Qual von den Schultern der Menschheit nehmen und zur Steigerung der Lebensfreude und der Tüchtigkeit beitragen" (Julian Huxley). Der Nobelpreisträger und Genetiker J. Muller bekräftigte: "Was wir in diesem Augenblick brauchen, wäre eine Verstärkung der genetischen Selektion". Er empfahl bereits damals die in der Tierzucht erprobte Methode der künstlichen Befruchtung und gezielte Verwendung von Spermien ausgewählter Spender. Der Traum der Wissenschaftler von 1962 hat sich bereits teilweise erfüllt. Selektion verhindere Leid, sei kostensparend und entlaste die Solidarkassen, heißt es von ihren Befürwortern. Haben sie bedacht, dass sie mit verantwortlich gemacht werden können für eine strukturelle Entwürdigung von Menschen mit Behinderungen? "Was wir die Macht des Menschen nennen, ist in Wirklichkeit die Macht in den Händen von Einzelnen", und "jede von Menschen neu erlangte Macht ist gleichzeitig Macht über Menschen", schreibt der irische Autor C.S. Lewis.

Das BGH-Urteil über die Vereinbarkeit der PID mit dem ESchG wird den Gesetzgeber zwingen, eine gesetzliche Regelung herbeizuführen. Die Politik erarbeitet bereits Gesetzentwürfe. Haben wir den Rubikon überschritten? Wenn die Gesellschaft den Lebensschutz ernst nimmt, muss sie diesen für die frühesten menschlichen Entwicklungsstadien beachten. Lebensschutz ist nicht teil- oder abstufbar. Der Lebens- und Würdeschutz beginnt mit dem frühest vertretbaren Zeitpunkt, nämlich der Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle, alle anderen zeitlichen Festlegungen wären willkürlich und interessegeleitet. Die Verwirklichung eines Kinderwunsches darf nicht auf Kosten des Grundrechts der Menschenwürde und des Lebens gehen.

Die Kernfrage ist: Sollen Kinder einem bestimmten Kriterienkatalog entsprechen? Wer hätte das Recht, diesen festzulegen? Erfahrungen im Ausland haben gezeigt, dass es keinen Halt gibt auf der abschüssigen Bahn, auf der wir uns befinden. Aus den seltenen Fällen schwerwiegender Erbanlagen ist dort längst ein immer größer werdender Katalog entstanden und - auch das kann festgestellt werden - ein lukrativer Markt.


Brigitte Huber
b.huber-beb@gmx. de


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Quelle:
Verbands-Informationen, Nr. 42, Dezember 2010, S. 35-36
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V. (BEB)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2011