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MELDUNG/056: Computersimulationen gegen Menschenstaus (FZ Jülich)


Forschungszentrum Jülich - 24. September 2011

Computersimulationen gegen Menschenstaus

Frühwarnsystem für Massenveranstaltungen erfolgreich getestet


Jülich, Düsseldorf, 24. September 2011 - Bei einem Bundesligaspiel in der Düsseldorfer Esprit Arena haben Jülicher Simulationswissenschaftler heute zusammen mit mehreren Projektpartnern die Ergebnisse des Hermes-Projekts vorgestellt. Der rechnergestützte Hermes-Evakuierungsassistent kann die Personenverteilung exakt erfassen und kritische Stauungen vorhersagen, bevor sie überhaupt entstehen. Das Testsystem wurde für den Einsatz bei Großevents und in Gebäudekomplexen konzipiert. Es soll die Einsatzkräfte im Krisenfall mit zusätzlichen Informationen zur Einschätzung der Lage und Veranlassung vorbeugender Maßnahmen unterstützen.

Im dichten Gedränge auf Großveranstaltungen wie zuletzt während der Loveparade 2010 in Duisburg kam es in der Vergangenheit immer wieder zu tragischen Unfällen. In dem seit 2008 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Hermes-Projekt haben Wissenschaftler unter der Leitung des Forschungszentrums Jülich zusammen mit Partnern aus privaten Firmen, Feuerwehr und Polizei ein Frühwarnsystem zur Verhinderung und Entschärfung solch kritischer Situationen entwickelt. Das System kann die Laufwege zehntausender Besucher bis zu 15 Minuten im Voraus simulieren und die Sicherheitskräfte vorzeitig vor dem Auftreten gefährlich hoher Personendichten warnen. Zusätzlich ist es mit dem Gefahrenmanagementsystem des Objekts verbunden. Dadurch kann es im Fall einer bevorstehenden Räumung wie bei einem Brand den besten Fluchtweg für die Zuschauer ermitteln.

Zur Erfassung der Personenverteilung im Testbereich wurden etwa 100 Kameras in einem Viertel des Zuschauerraums angebracht. Im Rahmen des Projekts wurden dazu spezielle 3D-Kameras entwickelt, die kaum größer sind als eine Webcam. Sie registrieren jeden Besucher, der die Ein- und Ausgänge passiert. Aus Datenschutzgründen speichern sie nur Zählwerte und keine Bilder. Ausgehend von diesen Daten simuliert eine Software auf einem eigens für Hermes eingerichteten Parallelrechner mit 208 Prozessoren den weiteren Verlauf der Personenverteilung. "Wie sich Menschen in Gefahr verhalten, ist schwer vorherzusehen. Darum ist es unser Ziel, den Normalfall zu simulieren und im Voraus zu erkennen, ob es zu kritischen und potenziell gefährlichen Zuständen, wie beispielsweise einem lange anhaltenden, großen Gedränge kommen kann", berichtet Projektleiter Prof. Armin Seyfried vom Jülich Supercomputing Centre. Die Ergebnisse werden über ein Kommunikationsmodul visualisiert, das auch Informationen zur aktuellen Gefahrenlage wie rauchgefüllte Stadionbereiche berücksichtigt. So erhalten die Einsatzkräfte die Möglichkeit, schon im Vorfeld vorbeugend einzugreifen.

Eine Arbeitsgruppe um Prof. Jürgen Pohl von der Universität Bonn hatte im Vorfeld mit den beteiligten Einsatzkräften der Feuerwehr, des Sicherheitsdienstes und der Polizei eine Bedarfsanalyse vorgenommen und ermittelt, welche Abteilung welche Informationen im Ernstfall benötigt. Laut Hans-Joachim Kensbock-Rieso, Einsatzleiter der Polizei im Düsseldorfer Stadion, könnte das aus dem Hermes-Projekt hervorgegangene Assistenzsystem in kritischen Situationen tatsächlich wichtige, zusätzliche Hinweise liefern: "Wenn Ausgänge blockiert oder einzelne Bereiche überfüllt sind, können sich kaum vorhersehbare, gefährlich lange Schlangen bilden. Mit Hilfe eines solchen Assistenten können die Einsatzkräfte jederzeit mitverfolgen, wie viele Leute sich in den jeweiligen Bereichen aufhalten." Die Software unterstützt die Entscheidungsträger bei der Analyse verschiedener Strategien zur "Entfluchtung". Der kürzeste Weg ist nicht immer zwangsläufig der beste. Manchmal müssen Gruppen erst einmal von naheliegenden Ausgängen weggelenkt werden, um eine spätere Überlastung einzelner Streckenabschnitte zu vermeiden.

Zur Vorhersage der Laufwege von mehreren zehntausend Besuchern haben Wissenschaftler aus dem Forschungszentrum Jülich und den beteiligten Universitäten in Wuppertal, Köln und Bonn verschiedene Fluchtszenarien untersucht. Als theoretische Grundlage nutzten die Wissenschaftler dazu physikalische Modelle aus der Statistischen Physik und Vielteilchenphysik. "Die Modelle wurden ursprünglich entwickelt, um die Bewegung von Atomen und Molekülen in Flüssigkeiten und Gasen zu beschreiben, und dann an das Verhalten von Fußgängern angepasst", erklärt der beteiligte Kölner Physiker Prof. Andreas Schadschneider. Um den Ansatz auf das Verhalten von Fußgängern abzustimmen, wurden in dem Projekt mehr als 200 Experimente mit teilweise bis zu 400 Teilnehmern durchgeführt.

Das Hermes-Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit einem Etat von 5,4 Millionen Euro gefördert und ist Teil des Sicherheitsforschungsprogramms der Bundesregierung "Forschung für die zivile Sicherheit". 13 Projektpartner sind an der Entwicklung und den Tests des Assistenten beteiligt: Neben den Forschungseinrichtungen, bestehend aus dem Forschungszentrum Jülich, der Bergischen Universität Wuppertal, der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Universität zu Köln, sind auch öffentliche Einrichtungen und Entscheidungsträger der Feuerwehr und Polizei sowie die privaten Firmen Imtech Deutschland GmbH & Co. KG, PTV Planung Transport Verkehr AG, TraffGO HT GmbH, Vitracom AG, Special Security Service SSSD GmbH und der Betreiber der Düsseldorfer Esprit Arena, die Multifunktionsarena Immobiliengesellschaft mbH & Co. KG beteiligt.



Projektpartner

Forschungszentrum Jülich GmbH, Jülich Supercomputing Centre (JSC), Jülich
www.fz-juelich.de/jsc
Bergische Universität Wuppertal, Abteilung Bauingenieurwesen, Lehrstuhl für Baustofftechnologie und Brandschutz, Wuppertal
www.btbs.uni-wuppertal.de
Imtech Deutschland GmbH & Co. KG, Hamburg
www.imtech.de
Multifunktionsarena Immobiliengesellschaft mbH & Co. KG (ESPRIT arena), Düsseldorf
www.espritarena.de
PTV Planung Transport Verkehr AG, Karlsruhe
www.ptv.de
TraffGO HT GmbH, Duisburg
www.traffgo-ht.com
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Geographisches Institut, Bonn
www.geographie.uni-bonn.de
Universität zu Köln, Institut für Theoretische Physik, Köln
www.thp.uni-koeln.de
Vitracom AG, Karlsruhe
www.vitracom.de
Feuerwehr Düsseldorf
www.duesseldorf.de/feuerwehr
Polizeipräsidium Düsseldorf
www.polizei-nrw.de/duesseldorf
Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste NRW, Neuss
www.polizei-nrw.de/lzpd
Special Security Service SSSD GmbH, Bergheim
www.specsecserv.de


Weitere Informationen zum Hermes-Projekt:

Forschungszentrum Jülich - Hermes-Projekt:
http://www2.fz-juelich.de/jsc/appliedmath/ped/projects/hermes

Fußgängerforschung am Jülich Supercomputing Centre (JSC):
http://www2.fz-juelich.de/jsc/appliedmath/ped/

BMBF - Bekanntmachung Hermes-Projekt:
http://www.bmbf.de/pubRD/SuRvM_Bekanntm._600x800_D_HERMES.pdf

BMBF - Artikel "Evakuierungsassistent für Großveranstaltungen"
http://www.bmbf.de/_dpsearch/highlight/searchresult.php?URL=http://www.bmbf.de/de/14841.php&QUERY=hermes

Das Forschungszentrum Jülich...
... betreibt interdisziplinäre Spitzenforschung, stellt sich drängenden Fragen der Gegenwart und entwickelt gleichzeitig Schlüsseltechnologien für morgen. Hierbei konzentriert sich die Forschung auf die Bereiche Gesundheit, Energie und Umwelt sowie Informationstechnologie. Einzigartige Expertise und Infrastruktur in der Physik, den Materialwissenschaften, der Nanotechnologie und im Supercomputing prägen die Zusammenarbeit der Forscherinnen und Forscher. Mit rund 4 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehört Jülich, Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, zu den großen Forschungszentren Europas.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 24. September 2011
Forschungszentrum Jülich GmbH
Wilhelm-Johnen-Straße, 52428 Jülich
Postanschrift: 52425 Jülich
Telefon-Sammel-Nr. 02461 61-0, Telefax-Sammel-Nr. 02461 61-8100
E-Mail: info@fz-juelich.de.
Internet: http://www.fz-juelich.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2011