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INTERVIEW/035: Experimentierhalle SHELL - am kleinsten Teil hängt der Rest ...     Prof. Dr. Erika Garutti und Prof. Dr. Peter Schleper im Gespräch (SB)


"Wenn wir auf der Grundlage unserer Naturgesetze versuchen, von Mikrosekunden nach dem Urknall ausgehend weiterzurechnen, gibt es keine Galaxien, weil in unseren Naturgesetzen keine Dunkle Materie vorkommt. Für diese gewaltige Diskrepanz zwischen dem, was wir in Laborexperimenten messen und wie unsere Natur tatsächlich beschaffen ist, hätten wir schon lange eine Lösung finden müssen."
(Prof. Dr. Peter Schleper zum Problem in der Grundlagenphysik am 8. Juli 2019)

"Am stärksten werden wir uns hier in Hamburg auf die Suche nach einer kleinen, besonders leichten Art theoretisch postulierter Dunkler Materie konzentrieren, den Axionen. Diese erhalten ihre gravitative Attraktion durch ihre große Menge. Wir haben ausgerechnet, daß dafür in einem Behälter von einem Liter 10¹⁸ Axione enthalten sein müssen."
(Prof. Dr. Erika Garutti zum Experiment MADMAX am 8. Juli 2019)



Eingang zum frischgestrichenen alten Bunker, in den zwei neue Räume und 3,4 Meter dicke Wände aus Stahlbeton jede elektromagnetische Wechselwirkung mit der Außenwelt abschirmen. - Foto: © 2019 by Schattenblick

Die Suche nach Dunkler Materie beginnt im stillsten Raum von Hamburg.
Foto: © 2019 by Schattenblick

Die neue Experimentierhalle SHELL am DESY in Hamburg soll ein besonders dunkles Kapitel in der Astronomie endlich zu einem befriedigenden Abschluß bringen. Denn daß es noch etwas anderes als sichtbare Materie im Universum geben muß, leiteten Wissenschaftler schon vor 80 Jahren aus dem Mißverhältnis zwischen errechneten und beobachteten Zusammenhängen bei der Rotation von Sternen in Galaxien ab. Offenbar werden Galaxien durch die Gravitation einer unsichtbaren Materie zusammengehalten, über die man bis heute nichts weiß. Auch Beobachtungen, daß an Galaxien vorbeifliegendes Licht stärker abgelenkt wird, als die Masseberechnungen für diese Galaxien vorgeben, wurden bereits 1933 dahingehend interpretiert, daß es neben der bekannten Masse etwas Unsichtbares geben muß, das dieses Licht anzieht. Seither sprechen Forscher von "Dunkler Materie".

Die meisten Physiker glauben, daß es sich um bisher noch unbekannte, winzige Elementarteilchen handelt, die diese ungeheure Kraft entfalten. Allerdings mußten diejenigen, die sich seit Jahrzehnten mit der Fahndung befassen, bisher jeden noch so vielversprechenden Kandidaten aus dem Teilchenzoo ad acta legen, weil er am Ende doch nicht in die Falle ging. Einer der möglicherweise letzten Optionen, die Dunkle Materie doch noch mit Hilfe einer Vielzahl unsichtbarer Teilchen zu erklären, scheint nun das Axion zu sein, nach dem zwei Experimente am Hamburger DESY suchen werden, die am 8. Juli 2019 in einem feierlichen Akt der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Auch die Suche nach diesem Teilchen hat lange auf Eis gelegen, weil man sich von Experimenten mit massereicheren Kandidaten ein schnelleres Ergebnis versprochen hatte. Doch der Erfolg blieb aus.

Darüber, warum es sich die Grundlagenforschung trotz vieler kostspieliger Mißerfolge nicht nehmen lassen will, das Rätsel der Dunklen-Materie-Teilchen zu lösen, sprach der Schattenblick nach der offiziellen Einweihung der Experimente mit der Teilchenphysikerin Prof. Dr. Erika Garutti, Leiterin des Experiments MADMAX, und Prof. Dr. Peter Schleper, stellvertretender Sprecher des Exzellenzclusters Quantum Universe, die beide darüber hinaus an namhaften Experimenten am LHC in CERN und am DESY in Hamburg beteiligt sind. Sie wollen die Suche nach der Dunklen Materie auf die Sprünge helfen und damit das wissenschaftliche Verständnis der Natur einen Quantensprung nach vorne bringen.


Diese dreidimensionale Karte bietet einen ersten Blick auf die webartige großflächige Verteilung der Dunklen Materie, einer unsichtbaren Materieform, die den größten Teil der Masse des Universums ausmacht. - Grafik: by NASA/ESA/Richard Massey (California Institute of Technology) [Gemeinfrei]

Von einem wolkenartigen Gebilde aus unsichtbaren Axionen erhoffen sich Physiker Stützfunktion für das Universum, für ihre Theorien und vieles mehr.
Grafik: by NASA/ESA/Richard Massey (California Institute of Technology) [Gemeinfrei]

Schattenblick (SB): Normalerweise erwartet man bei dem Attribut "dunkel" etwas, von dem das Licht dahinter abgeschattet wird. Gilt das auch für die "Dunkle Materie"?

Prof. Dr. Peter Schleper (PS): Nein, es geht nicht um einen Abschattungseffekt. Es geht um Teilchen, die keine elektromagnetische Wechselwirkung haben. Sie haben keine elektrische Ladung und könnten Licht gar nicht abschirmen.

SB: Das heißt, "transparent" wäre dann vielleicht sogar der zutreffendere Begriff?

PS: "Transparent" würde das sehr gut beschreiben.

SB: Wie stellt man sich die Dunkle Materie vor? Sind die Teilchen, nach denen Sie suchen, auch auf der atomaren Ebene zu finden? Sind sie in irgendeiner Weise mit Atomen vergleichbar?

PS: Atome bestehen aus elementaren Teilchen, etwa Quarks, die in den Kernteilchen, den Protonen und Neutronen, vorkommen oder Elektronen. Und aus ähnlichen elementaren Teilchen sollte eigentlich auch die Dunkle Materie bestehen. Also von der Seite gibt es keinen Unterschied. Aber die Natur der Teilchen ist völlig anders, so daß sie eben auch nicht in Atomen gebunden sind. Ein Elektron ist ja normalerweise in einem Atom gebunden. Wasserstoff besteht aus einem Proton und einem Elektron. Doch bei der Dunklen Materie ist das anders.

SB: Trotzdem erwartet man, daß sie Gravitationskräfte entfaltet, um dann sogar Galaxien zusammenzuhalten ...

PS: Das ist zu erwarten. Gravitation kommt vornehmlich von der Masse, auch ein bißchen von der Energie, aber in dem Bereich, den wir betrachten, hängt die Graviationswirkung von der Masse der Teilchen ab. Deshalb erwarten wir auch, daß diese Teilchen, die wir untersuchen, eine Masse haben. Also ähnlich, wie auch ein Elektron eine Masse besitzt.


Porträt des Wissenschaftlers vor der Tür des Bunkers, in dem die Experimentierhalle SHELL (SHielded Experiment haLL) untergebracht ist. - Foto: © 2019 by Schattenblick

'Wir haben kein Naturgesetz für Dunkle Materie, in dem festgelegt wird, was die Dunkle Materie bewirkt. Wir haben nur Ideen, wie man es formulieren kann.' (Prof. Dr. Peter Schleper)
Foto: © 2019 by Schattenblick


Porträt der Wissenschaftlerin - Foto: © 2019 by Schattenblick

'Die Axionen durchdringen unser gesamtes Universum und wir sind mitten drin.'(Prof. Dr. Erika Garutti)
Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Dr. Erika Garutti (EG): Eine interessante Herausforderung für uns Wissenschaftler bei den Dunkle-Materie-Kandidaten, auf die wir uns in Hamburg konzentrieren wollen, ist ihre unglaublich geringe Masse. Im Vergleich zu einem Elektron, das mit 500 Kilo-Elektronenvolt/c² [keV/c²] oder 500.000 Elektronenvolt/c² [eV/c²] bereits sehr klein ist, suchen wir Axionen im Mikro-Elektronenvolt-Bereich zwischen 40 und 400 Mikro-Elektronenvolt/c² [µeV/c²]. Das ist eine unglaublich große Differenz. Ihre gravitative Attraktion erhalten diese winzigen Teilchen durch ihre große Anzahl. Wir haben ausgerechnet, daß dafür in einem Behälter von einem Liter 10¹⁸ Axione enthalten sein müssen. Wir haben es also mit ungewöhnlich vielen sehr leichten Teilchen zu tun.

SB: Sitzen wir dann ständig in einem Feld aus Axionen? Sind diese Teilchen überall vorhanden?

EG: Wir befinden uns tatsächlich in einem Axionfeld, so wie wir uns auch gleichzeitig in einem elektromagnetischen Feld oder sogar einem Higgs-Feld aufhalten. Das ist der theoretische Hintergrund dieser beiden Experimente. Die Axionen durchdringen unser gesamtes Universum und wir sind mitten drin. Wir interagieren einfach kaum oder gar nicht mit diesem Axionfeld, weil es, wie gesagt, nicht elektromagnetisch interagiert.

SB: Das Hamburger Exzellenzcluster will sich mit den 95 Prozent der Materie im Universum befassen, die noch unbekannt ist. Ergebnisse des Planck-Satelliten gehen davon aus, daß das Universum zu 4,9 Prozent aus gewöhnlicher Materie und zu 26,8 Prozent aus Dunkler Materie besteht. [1] Das ist etwa fünfmal soviel. Wie kommt man zu diesen präzisen Angaben bei derart superunsichtbaren Stoffen?


Materie- und Energie-Anteil des Universums zum jetzigen Zeitpunkt und zur Entkopplungszeit, 380.000 Jahre nach dem Urknall. (Beobachtungen der WMAP-Mission u. a.). Die Bezeichnung 'Atome' steht für 'normale Materie'. - Grafik: NASA / WMAP Science Team [Gemeinfrei]

Die wahrnehmbare Welt ist nur ein winziges Stück im Universum.
Grafik: NASA / WMAP Science Team [Gemeinfrei]

PS: Also, die einfachste Methode, das zu messen, besteht darin, daß man sich Galaxien anschaut und die Rotationsgeschwindigkeiten dieser Galaxien ausmißt. Daran erkennt man, daß alle Galaxien eigentlich instabil sein müßten und auseinanderfliegen, weil sie so schnell rotieren. Um zu erklären, daß sie trotzdem stabil erscheinen, ist die Annahme, daß es im Zentrum dieser Galaxien und auch mit einer gewissen Verteilung im Umfeld darum Dunkle Materie gibt, die zusätzlich Gravitation darstellt und die auch die Sterne auf ihren Bahnen um das Zentrum der Galaxie hält. Das ist wohl einer der schönsten Beweise für die Dunkle Materie. Aber es gibt noch weitere.

So wird Licht beispielsweise von sehr fernen Galaxien gekrümmt, so daß man es in, an oder um Galaxien herum reisen sehen kann. Wenn wir das von der Erde aus beobachten, sehen wir Ringe, die von dem Licht ferner Galaxien gebildet werden. Und wenn man dann berechnet, wie stark diese Bögen sein dürfen - das hat Einstein über die allgemeine Relativitätstheorie vorausgesagt - dann stellt man fest, daß die Galaxie, die eine solche starke Krümmung bewirkt, viel schwerer sein müßte, als unsere Masseberechnungen der jeweiligen Galaxien vorgeben. Das heißt, sie müßte schwerer sein als die Summe aller Sterne und schwerer als alle Gase in der Galaxie. Das wäre schon der zweite große Beweis.


Ein massiver Haufen gelblicher Galaxien. Die Schwerkraft der Billionen Sterne des Clusters - plus Dunkle Materie - wirkt wie eine 2 Millionen Lichtjahre breite Linse im Weltraum. Diese Gravitationslinse beugt und vergrößert das Licht der weit dahinter liegenden Galaxien. - Foto: 2002 by NASA, N. Benitez (JHU), T. Broadhurst (Racah Institute of Physics/The Hebrew University), H. Ford (JHU), M. Clampin (STScI),G. Hartig (STScI), G. Illingworth (UCO/Lick Observatory), the ACS Science Team and ESA [Gemeinfrei]

Der zweite große Beweis für das Vorhandensein von Dunkler Materie zeigt sich in Form von starken Gravitationslinsen, wie sie vom Hubble-Weltraumteleskop in 'Abell 1689' beobachtet werden.
Foto: 2002 by NASA, N. Benitez (JHU), T. Broadhurst (Racah Institute of Physics/The Hebrew University), H. Ford (JHU), M. Clampin (STScI),G. Hartig (STScI), G. Illingworth (UCO/Lick Observatory), the ACS Science Team and ESA [Gemeinfrei]

Dazu kommen noch einige seltener erwähnte Beweise, die alle zu dem Ergebnis kommen, daß es Dunkle Materie gibt. Das ist nicht die Frage. Wir haben sie gemessen. Wir wissen sogar auf ein paar Prozent genau, wieviel davon da sein muß. Daraus leiten wir beispielsweise den Faktor fünf ab, von dem Sie gesprochen haben.

Die Frage, die sich uns nun stellt, ist aber: "Gibt es außer Gravitation irgendetwas anderes, mit dessen Hilfe Dunkle Materie mit uns interagieren kann und das wir mit Hilfe eines Meßinstruments messen können? Dies brachte eine Idee auf, die speziell für Axionen relevant zu sein scheint. Denn offenbar können sie sich in ganz besonders starken Magnetfeldern in jeweils ein Lichtteilchen oder Photon, umwandeln. Diese Photonen sind zwar keine Lichtteilchen im optischen Lichtbereich, die wir direkt sehen könnten, aber sie sind in einem bestimmten Radiowellenbereich meßbar. Genau das wollen wir hier versuchen

SB: Gehen Sie davon aus, daß die Dunkle Materie in den Galaxien ebenfalls der normalen Physik wie etwa den Fliehkräften unterworfen ist?

PS: Ja. Absolut.

SB: Muß man das so verstehen, daß die unsichtbare Masse zum einen die Funktion hat, für den Zusammenhalt der Galaxien zu sorgen, und zum anderen dafür, den Fliehkräften zu widerstehen und auch alles andere zusammenzuhalten. Das ist nicht voneinander zu trennen?

PS: Sie können das im Grunde auch mit Erde und Mond vergleichen. Wenn Sie die Geschwindigkeit des Mondes bei seiner Bahn um die Erde messen würden, dann müßte der Mond genau genommen wegfliegen, es sei denn, die Erde ist sehr schwer und vor allem schwerer als der Mond. Es handelt sich um ein und dasselbe Prinzip der Kepplerschen Bewegung von Materie um ein Zentrum herum.

SB: Gibt es bereits eine vereinfachte, bildhafte Vorstellung, wie ein Axion der Dunklen Materie aussehen könnte, eine Art Axionenmodell? Oder handelt es sich dabei um ein rein theoretisch-physikalisches Konstrukt?

EG: Ich glaube, wir müssen uns die Axionen wie eine Flüssigkeit oder ein Wolkenfeld vorstellen, das um uns herum schwebt. Das ist momentan das beste Bild, das wir davon haben.

PS: Ein anderes wäre vielleicht noch das einer Gaswolke. In einer Gaswolke sind einzelne Bestandteile des Gases, etwa die Sauerstoffteilchen in der Luft, nicht miteinander verbunden. Trotzdem bilden sie ein gemeinsames Gas. Und so stellt man sich das Axionfeld und seine Quanten, das sind die einzelnen Axionen, wie ein Gas innerhalb der Galaxie vor. Im Zentrum dichter als an den Rändern, aber relativ weit nach außen gestreckt. Ob es auch so spiralförmig ist, wie wir das bei unserer Galaxie und bei vielen anderen Galaxien beobachten können, wissen wir nicht. Das wäre aber eher unwahrscheinlich, weil die Spiralform wieder von anderen Mechanismen abhängt.

SB: Wenn ich das, was Sie über das Axion wissen, einmal laienhaft zusammenfasse, dann handelt es sich bei Dunkler Materie vor allem um etwas, das man überhaupt noch nicht kennt. Was sich aber höchst wahrscheinlich wie ein Gas verhält und für das ganz normale physikalisch-mechanische Naturgesetze gelten. Müssen die neuen Teilchen darüber hinaus unter neuen physikalischen oder noch zu entdeckenden Quantengesetzmäßigkeiten betrachtet werden, weil Axione mal als Welle und dann im Magnetfeld als Teilchen auftreten?

PS: Nein, wir betrachten sie als ganz normale Quanten. Nur handelt es sich um andere Quanten, das heißt um einen Typ von Quanten, den wir noch nicht entdeckt haben. Wir haben Elektronen entdeckt, wir haben Neutrinos entdeckt, wir haben Quarks entdeckt und seit kurzem auch das Higgs-Teilchen. Und nun haben wir es mit einer ganz neuen Sorte von Teilchen zu tun. Das ist die Grundidee. Aber sie unterliegt genau den gleichen Gesetzen der Quantenmechanik. Das einzige, was vielleicht anders ist, ist die Wechselwirkung mit anderen Teilchen. Also, die Gesetze, welche Kräfte zwischen einem Axion und einem Atom wirken oder wie es mit einem Photon oder anderen Teilchen reagiert, sind sehr spezifisch für Axionen.

SB: Das heißt, Sie haben bereits konkrete Vorstellungen davon oder wissen im Grunde schon, wie diese Wechselwirkungen aussehen müßten, damit man sie als etwas für den Nachweis von Axionen Spezifisches detektieren kann, wenn es dazu kommt?

PS: Ja.

EG: Ja, das sind genau die Theorien, die wir im Moment überprüfen. Es gibt natürlich noch andere Vorstellungen, die sich auch nicht mit einem einzigen Experiment ausschließen lassen. Aber auf den Vorhersagen spezifischer Interaktionen für eine bestimmte Art von Photonen basiert beispielsweise unser Experiment. Und die versuchen wir zu messen. Falls ein Axion wirklich vollkommen anders mit Photonen und Materieteilchen reagiert, als wir das denken, dann wäre es tatsächlich nicht in unserem Experiment detektierbar.

SB: Das heißt, wenn sie mit dem BRASS oder mit dem MADMAX-Experiment ein Signal detektieren, dann können Sie das Ereignis so definieren, daß sich die gemessenen Werte oder beobachteten Erscheinungen auf das Auftreten eines Axions im Experiment zurückführen lassen? Sie legen sozusagen die entsprechenden Parameter selbst erst fest?

EG: Das sind sozusagen die Zeichen, mit denen die Vorhersagen einer bestimmten Reihe von Theorien bestätigt werden können.

PS: Darüber hinaus werden solche Ergebnisse sofort weltweit überprüft, das heißt, sobald wir etwas mit diesem Experiment entdecken werden, werden zahlreiche Wissenschaftler aus aller Welt versuchen, das gleiche noch einmal in anderen Experimenten aufzugreifen, um die Ergebnisse zu überprüfen und gegebenenfalls zu bestätigen.

EG: Doch mit zwei komplett unterschiedlichen Experimentalmethoden wie BRASS und MADMAX haben wir natürlich hier vor Ort die Möglichkeit, falls es zu einer Entdeckung kommt, sie quasi im eigenen Haus zu verifizieren.

SB: Könnte man sagen, daß am Ende dieses diffuse, feldartige, unsichtbare Gebilde, letztendlich die Masse-Diskrepanz von real meßbaren Planeten, unstimmige Galaxienbewegung und andere Ungereimtheiten im Universum zur Theorie erklärt?

EG: Genau. Deswegen sprechen wir von Dunkler Materie, weil es sich dabei jeweils immer um Eigenschaften einer Masse handelt. Es gibt auch noch einen weiteren dunklen Teil in unserem Universum, der nicht sichtbar ist, das ist Dunkle Energie. Aber die steht auf einem anderen Blatt.

PS: Für uns ist das nicht einmal etwas Besonderes. Denn wir haben viele Teilchen im Universum, die Masse haben. Alle reagieren aufgrund ihrer Masse gleich und wir können das ganz normal messen. Das gilt auch für die Axionen. Soweit es die Gravitation betrifft, unterscheiden sie sich nicht. Gravitation ist im Grunde ein allgemeines Prinzip, das eigentlich mit Raum und Zeit zusammenhängt und darüber auch indirekt wieder mit der Masse, aber das muß für alle Masseteilchen gleich sein. Nach Albert Einstein würde sich das Axion nicht von einem anderen Teilchen unterscheiden, was die Masse und die Gravitationskraft angeht

SB: Könnte dieses Axionfeld, das uns umgibt und von dem wir durchdrungen werden, auch körperlich-physiologische Auswirkungen haben oder medizinische Phänomene erklären?

PS: Persönlich glaube ich das nicht. Die Wechselwirkungsstärke mit beispielsweise Photonen, die wir hier nachzuweisen versuchen, ist so extrem klein, daß wir mit unseren Sinnen davon niemals Auswirkungen auf den Körper wahrnehmen könnten. Über Ihre persönliche Lebensdauer hinweg würde das nicht einmal ein Atom in Ihrem Körper aus der Bahn bringen. Und deswegen ist da keinerlei medizinische Wirkung zu erwarten.

SB: Wie erklären Sie der Öffentlichkeit, unter anderem auch, um den doch sehr kostspieligen, apparativen Aufwand zu rechtfertigen, warum es wichtig ist, nach Dunkler Materie zu forschen?

PS: Ganz einfach: Als Kolumbus nach Amerika gesegelt ist, hat er das noch damit gerechtfertigt, daß er Gold, Gewürze oder sonst etwas in Indien finden wollte. Doch er ist völlig woanders gelandet. Daß die Entdeckung Amerikas und damit eines riesigen Kontinents auf der anderen Seite unseres Planeten fundamental zu unserem heutigen Weltbild gehört, steht meines Erachtens außer Frage. Hätte er nicht segeln sollen, nur weil er nicht nach Indien gekommen ist? Also, grundlegend die Natur zu erforschen, ist - glaube ich - etwas, das die Kultur der Menschheit ausmacht, spätestens seit der Zeit der Aufklärung oder seit dem Mittelalter auch hier in diesen Breiten. Daß man versucht, die Natur zu verstehen, in allen ihren Facetten, definiert zu einem guten Teil den Unterschied zwischen Menschen und Tieren. Das ist für mich tatsächlich ein philosophisches Argument.

EG: Absolut. - Meine persönliche Motivation dafür, jeden Tag aufzustehen, hierher zu kommen, mich mit vielen technischen Problemen zu konfrontieren und sie eventuell zu lösen, also dafür, jeden Tag weiterzuforschen, ist, daß man am Ende eben oft eine Lösung findet, die auch für die Gesellschaft immer ein Zugewinn, ein Surplus an Wissen bedeutet.

SB: Inwiefern bietet die Grundlagenforschung, abgesehen von Fortschritten in der Modellbildung hinsichtlich der Dunklen Materie und ihrer Funktion im Universum, Perspektiven auf mögliche Nutzanwendungen?

PS: Es gibt zahlreiche Aspekte, auf die sich Grundlagenforschung positiv auswirkt. Wir entwickeln permanent neue Technologien, die wir für unsere Experimente brauchen, die dann Jahre, oder manchmal auch Jahrzehnte später, in Standardtechnologie übergehen. Denken Sie an ein einfaches Beispiel: Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie. Warum muß ich wissen, daß der Raum gekrümmt ist? Ich sehe es ja in meinem täglichen Leben nicht. Nun, heute würde kein Satellit mehr funktionieren und uns unter anderem vernünftige Daten der Lokalisierung geben, wenn man nicht die Raumkrümmung mit berücksichtigen würde. Da haben wir es mit einer Theorie zu tun, die zunächst einmal weit von der Wirklichkeit entfernt zu sein scheint und die man noch nicht einmal sieht, und 80 Jahre später ist sie für technologische Anwendungen unabdingbar.

Oder nehmen Sie das World Wide Web, das aus großen Experimenten, schlußendlich am CERN, entwickelt wurde. Daß es inzwischen eine gewaltige kommerzielle Geschichte geworden ist, wissen wir alle, das brauche ich gar nicht zu erwähnen, es war aber ursprünglich überhaupt nicht dafür konzipiert worden. Es war nur eine Technologie, die wir benutzen wollten. Fertig.

SB: Da hat noch keiner an den Schattenblick gedacht.

EG: Genau!

PS: Ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist darüber hinaus die Ausbildung!

Es geht nicht nur um die Entwicklung von Technologie, sondern vor allem auch um die Ausbildung unserer Studenten. Wir versuchen unsere Studenten und Doktoranden mit den schwierigsten und anspruchsvollsten Aufgaben zu konfrontieren, die wir uns ausdenken können. Und dabei trainieren wir sie hoffentlich für eine Zukunft, für zukünftige Herausforderungen, die sich ihnen nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in kommerziellen oder industriellen Anwendungen für die Allgemeinheit stellen. Das ist der zweite große Aspekt. Aber meine persönliche, ganz große Triebfeder ist tatsächlich, herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält. So ähnlich, wie man dazu gekommen ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie der Urknall passiert ist, wie die Evolution zustande gekommen ist, Ereignisse, die unser Leben bis jetzt beeinflussen, so muß ich auch das verstehen.

SB: Wenn wir in der Vergangenheit mit Grundlagen-Wissenschaftlern gesprochen haben, dann haben sie uns immer gesagt "ganz egal, was dabei herauskommt, wir sind am Ende ein Stück weiter."

EG: Richtig! Auch wir hätten in jedem Fall viel gelernt.

SB: Trotzdem möchte ich auch Sie beide fragen, was machen Sie, wenn Sie in Ihren Experimenten hier nun doch keine Axionen fangen können? Von dem früheren Kandidaten, dem WIMP-Teilchen hat man sich inzwischen bereits etwas abgewendet ...

PS: Ganz und gar nicht ...

EG: Einige WIMP-Teilchen kann man inzwischen ausschließen, aber viele Optionen, es zu finden, sind noch offen. Das gleiche wird vermutlich auch bei der Suche nach Axionen passieren. Wir werden einen Teil der Kandidaten möglicherweise nach und nach ausschließen müssen. Daraus erschließen sich weitere Potentialversuche. Man lernt dabei immer etwas auf dem Weg. Schon das Wissen, daß sich in dem erschlossenen Bereich die Dunkle Materie nicht befindet, ist ein gutes Ergebnis. Denn das Spektrum, in dem wir suchen, ist tatsächlich sehr groß. Man muß ein Stück nach dem anderen davon ausschließen. Und was die Technologie betrifft - Sie haben vorhin im Labor gesehen, welche technologischen Herausforderungen sich allein an unser Experiment stellen -, ganz gleich, ob wir nun ein Axion nachweisen oder auch nicht, wir werden technologisch etwas entwickelt haben, das auch für andere Experimente relevant ist.

PS: Es ist wichtig zu verstehen, daß wir ein Riesenproblem in der Physik haben.

Wenn wir auf der Grundlage unserer Naturgesetze derzeit versuchen, von Mikrosekunden nach dem Urknall ausgehend weiterzurechnen, gibt es keine Galaxien, weil in unseren Naturgesetzen keine Dunkle Materie vorkommt. Wir haben kein Naturgesetz für Dunkle Materie, wir haben nur Ideen, was das Naturgesetz sein könnte und wie man es formulieren kann. Aber wir haben kein Naturgesetz, in dem festgelegt wird, was die Dunkle Materie bewirkt. Damit gibt es keine Galaxien. Wenn es keine Galaxien gibt, dann gibt es aber auch keine Zusammenballungen von ausreichend Materie, um einen Stern zu bilden. Wenn es keine Sterne gibt, wie unsere Sonne, dann gibt es keine Energiequellen im Universum und dann gibt es nichts "Lebenswertes" und uns, die Menschheit, schon gar nicht.

Für diese gewaltige Diskrepanz, zwischen dem, was wir in Laborexperimenten messen und wie unsere Natur tatsächlich beschaffen ist, hätten wir schon lange eine Lösung finden müssen.

Wir haben mehrere Fragestellungen, für die es noch keine Erklärungsmöglichkeit gibt. Das eine ist die Dunkle Materie, das andere ist die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie. die Entstehung der diversen Phasen bei der Entstehung des Universums. Das ist ein Riesenproblem. Und dieses Problem wird von Jahr zu Jahr drastischer, weil wir auf anderen Gebieten weiter fortschreiten und beispielsweise in der Quantenphysik exzellente Laborexerimente durchgeführt haben, mit denen wir sogar das Higgs-Teilchen entdecken konnten.

Dazu sehen wir in astrophysikalischen Experimenten, daß es Dunkle Materie gibt. Wir finden das immer genauer und immer überzeugender und immer mehr Experimente, die ihre Ergebnisse wirklich auf nur noch ganz kleine Fehlermargen präzisieren.

Es scheint undenkbar, daß wir an die Dunkle Materie-Problematik einfach nicht herankommen. Und sie wird immer größer. Wenn wir im Axion-Bereich keine Dunkle Materie entdecken - vielleicht gibt es noch die eine oder andere Möglichkeit, unsere Sensitivität weiter zu steigern -, aber wenn wir auch dann keine Dunkle Materie nachweisen, was bedeuten würde, daß es sie tatsächlich nicht gibt, dann ist wieder eine Option verbraucht, mit der man aufgrund von Messungen in unseren Laboren mit Hilfe der Quantenphysik und der Gravitation die Natur erklären kann. Und das wäre ein Drama, eigentlich sogar eine Katastrophe. Wir befinden uns so gesehen in einer absoluten Krisenzeit der Naturwissenschaft.


Prof. Garutti erklärt den Prototyp des künftigen Meßgeräts, der sich noch in der Entwicklungsphase befindet - Foto: © 2019 by Schattenblick

'Das Spektrum, in dem wir suchen ist tatsächlich sehr groß. Man muß ein Stück nach dem anderen davon ausschließen.' (Prof. Dr. Erika Garutti)
Foto: © 2019 by Schattenblick

SB: Könnte es auch eine Mischung aus verschiedenen Axionensorten geben? Also so etwas wie die Isotope bei den Atomen?

EG: Ja, diese Möglichkeit besteht durchaus. Dunkle Materie könnte auch aus mehreren unterschiedlichen Axionen mit jeweils unterschiedlichen Massen bestehen. Es wird nur immer schwieriger, dies zu detektieren. Denn wenn mehr davon existieren, dann ist der Einzelanteil einer Sorte in einer Probe entsprechend geringer. Und das könnte Probleme für den Nachweis mit sich bringen.

PS: Es könnte sogar sein, daß die Dunkle Materie aus einer Mischung von WIMPs und Axionen besteht. Es könnten auch noch weitere, bisher unauffindbare Kandidaten wie Neutralinos dazwischen sein.

SB: Es gibt ja einen gleichnamigen Action-Film "MAD MAX" von 1980. Darin geht es drunter und drüber, mit vielen Crashs, waghalsigen Stunts und unvorhergesehenen Ereignissen. Erwarten Sie das auch von Ihrem Experiment?

EG: Du liebe Güte, ich muß mich erstmal bei der MADMAX-Regie entschuldigen. Ich habe den Film nämlich noch nicht gesehen. Das ist eine Bildungslücke, die wir auf einem unserer nächsten Kollaborations-Meetings unbedingt schließen müssen. Allerdings hat auch diese MADMAX-Kollaboration noch einiges vor sich. Wir erwarten auch sehr turbulente Momente, wo wir viel zu tun haben werden. Neben guten Ergebnissen müssen wir auch Crashs und Mißerfolge einkalkulieren. Wir werden auch wie in allen Experimenten viele technische Probleme lösen und kreative Einfälle haben müssen. Und auch an unvorhergesehenen Ereignissen wird es uns sicher nicht mangeln.

PS: MADMAX ist ein technologisch extrem herausforderndes Experiment und es gibt automatisch Rückschläge, um nicht zu sagen Teilkatastrophen, die man dann wieder reparieren muß. Aber glücklicherweise ist es ein extrem friedliches Experiment. Das möchte ich noch mal betonen. Man sitzt still und beobachtet die Natur in ihrer reinsten Form. Und so gesehen hoffe ich, daß wir möglichst weit weg sind von MAD MAX, Endzeitszenarien und anderen Dingen dieser Art.

SB: ... im stillsten Raum Hamburgs, in den kein Radiolärm eindringen und kein Handyanruf die Konzentration stören kann...
Frau Prof. Garutti, Herr Prof. Schleper, vielen Dank für Ihre Mühe, das Phänomen der Dunklen Materie für uns zu beleuchten.


Anmerkung:

[1] https://desy-cms.desy.de/activities/physics/susy/dm_amp_susy


Bisher sind zur Einweihung der Experimentierhalle SHELL auf dem Campus Bahrenfeld in Hamburg am 8. Juli 2019 im Schattenblick unter
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BERICHT/011: Experimentierhalle SHELL - Axione und Begründungen ... (SB)

INTERVIEW/035: Experimentierhalle SHELL - am kleinsten Teil hängt der Rest ...     Prof. Dr. Erika Garutti und Prof. Dr. Peter Schleper im Gespräch (SB)
INTERVIEW/036: Experimentierhalle SHELL - zur Jagd auf die Axionen ...    Prof. Dr. Dieter Horns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/037: Experimentierhalle SHELL - Koordination und Bau experimenteller Meßtechnik ...    Michael Matysek im Gespräch (SB)


16. Juli 2019


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