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INTERVIEW/028: Die DPG stellt vor - Meßstudien zur Risikobewertung radioaktiver Strahlung ...     Dipl.-Phys. Aikaterini Anesiadou im Gespräch (SB)




Verteilung der Cs-137 Aktivität in Europa nach dem Tschernobyl Fallout - Karte: With courtesy of De Cort et al. (1998): 'Atlas of Caesium Deposition on Europe after the Chernobyl Accident', EUR report nr. 16733, EC, Office for Official Publications of the European Communities, Luxembourg

Noch 1998 waren in ganz Europa erhöhte Cäsium-137 Aktivitäten zu messen. In Bayern und kleineren Regionen in Norddeutschland war die Belastung am stärksten.
Karte: With courtesy of De Cort et al. (1998): 'Atlas of Caesium Deposition on Europe after the Chernobyl Accident', EUR report nr. 16733, EC, Office for Official Publications of the European Communities, Luxembourg

Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima stellten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie eine einfache Rechnung auf: Sie teilten die Laufzeit aller Kernreaktoren weltweit von der Inbetriebnahme des ersten zivilen Reaktors bis heute durch die Zahl der bisherigen Kernschmelzen. Die Laufzeit der Reaktoren summiert sich auf 14.500 Jahre; die Zahl der Kernschmelzen beträgt vier - eine in Tschernobyl und drei in Fukushima. Daraus ergibt sich, daß es in 3.625 Reaktorjahren zu einem GAU kommt, dem größten anzunehmenden Unfall wie ihn die Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (International Nuclear Event Scale, INES) definiert. Selbst wenn man dieses Ergebnis auf einen GAU in 5.000 Reaktorjahren aufrundet, sind katastrophale nukleare Unfälle bei dem derzeitigen Kraftwerksbestand von weltweit 422 Reaktoren etwa einmal in 10 bis 20 Jahren zu erwarten und könnten 200 mal häufiger auftreten, als in der Vergangenheit geschätzt.

Zudem ermittelten die Mainzer Forscher, daß die Hälfte des radioaktiven Cäsium-137, das eine Halbwertszeit von über 30 Jahren hat, bei einem solchen "größten anzunehmenden Unfall" mehr als 1.000 Kilometer weit transportiert wird. Ein Viertel der radioaktiven Partikel würde sogar erst nach weiteren 2.000 Kilometern auf die Erde abregnen oder im Boden deponiert werden. [1] Danach wird Westeuropa - inklusive Deutschland - wahrscheinlich einmal in etwa 50 Jahren mit mehr als 40 Kilobecquerel radioaktivem Cäsium-137 pro Quadratmeter belastet. Dabei handelt es sich um einen Stoff, den es vor den Kernspaltungsexperimenten des Menschen auf der Erde nie gegeben hat, der aber aufgrund seiner hohen Wasserlöslichkeit leicht in die Nahrung gelangt, sich in allen Körperorganen ansammelt und 40 bis 200 Tage im Körper verbleibt. Da es auch bei langen Halbwertszeiten keine Garantie dafür gibt, daß ein Stoff nicht zerfällt, sind auch geringe Mengen von Cäsium-137 ein enormes Gesundheitsrisiko, sofern sie in den Körper eines Organismus eingedrungen sind.


Sandkrug ist ein Ortsteil der Gemeinde Hatten im Landkreis Oldenburg, Niedersachsen, und Fischerhude eine bekannte Künstlersiedlung - Foto: © 2017 by Schattenblick,Quelle: Poster von A. Anesiadou et al.

Sandkrug und Fischerhude im Westen und im Osten von Bremen wurden bereits 1992 für Bodenproben ausgesucht.
Foto: © 2017 by Schattenblick,Quelle: Poster von A. Anesiadou et al.

Vor diesem Hintergrund bekommt die Arbeit einer jungen Physikerin der Universität Bremen ein ganz anderes Gewicht. Aikaterini Anesiadou schreibt derzeit in der Landesmeßstelle für Radioaktivität am Institut für Umweltphysik (IUP) Bremen an ihrer Masterarbiet zur Langzeit-Tiefenverlagerung von Cäsium-137 in Böden. [2] Mit der für Laien scheinbar unattraktiven Untersuchung einer nur 70 cm tiefen Bodenschicht, in der die Migration von Cäsium-137 anhand von aufwendigen Messungen und mathematisch komplizierten Interpretationen das Kernthema bildet, soll die Grundlage dafür geliefert werden, in Zukunft möglicherweise mit Hilfe von Computersimulation die Ausbreitung und Verteilung von radioaktiven Stoffen im Boden vorhersagen zu können. Das ist allerdings noch Zukunftsmusik.

Am zweiten Tag der DPG-Frühjahrstagung in Bremen stellte sie ihr Poster mit dem Titel "Re-examination of 137Cs soil profiles in Northern Germany" vor, das sie gemeinsam mit Marievi E. Souti und Dr. Helmut Fischer in Kooperation mit Prof. Dr. Gerald Kirchner vom Zentrum für Naturwissenschaft und Friedensforschung, Universität Hamburg, erarbeitet hat und das den derzeitigen Forschungsstand ihrer Master-Thesis umfaßt. Untersucht wurden die naturbelassenen Böden in Sandkrug und Fischerhude [3] östlich und westlich von Bremen, die sehr unterschiedliche Filtrier- und Transporteigenschaften besitzten. Obwohl diese Region von dem Fallout des Tschernobyl-GAUs keine überdurchschnittliche Kontamination erfahren hat, kann noch heute radioaktives Cäsium in Bodenschichten von 48 und 72 cm Tiefe gemessen werden, mit Werten von 29,5 bis 0,1 Becquerel/Kilogramm bzw. 11,5 bis 0,1. Diese Werte gelten gemeinhin nicht mehr als gesundheitsbedenklich.

Im Verlauf der Postersession war Aikaterini Anesiadou bereit, die Problematik ihrer Untersuchungen näher zu erläutern:


Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Derzeit müssen noch einige Diskrepanzen in den Meßergebnissen aufgeklärt werden, Aikaterini Anesiadou vor dem ersten Zwischenergebnis ihrer Masterarbeit.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Könnten Sie uns Ihre Studie ein wenig erläutern und was Sie mit Hilfe Ihrer Cäsium-Messungen in Norddeutschland herausgefunden haben?

Aikaterini Anesiadou (AA): Wir haben hier - genau wie der Titel des Posters sagt -, anhand neuer Cäsium-137-Messungen im Boden versucht, die Verteilung an zwei Stellen in Norddeutschland als Querschnittsanalysen so darzustellen, daß sie mit entsprechenden Profilen, die von Prof. Gerald Kirchner in den 1990er Jahren gemacht wurden, verglichen werden können.

Bei den beiden Standorten Fischerhude und Sandkrug handelt es sich um ausgesprochen typische norddeutsche Böden. [3] Dennoch sind sie im Hinblick auf ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften sehr verschieden. Die aktuellen Messungen wurden 2014 durchgeführt und anschließend die Meßergebnisse aus beiden Regionen miteinander verglichen, um sie dann mit den Daten ins Verhältnis zu setzen, die vor längerer Zeit erstellt worden sind.

Vielleicht muß ich dazu sagen, daß Cäsium-137 kein natürlich vorkommendes, sondern ein künstliches Radionuklid ist. Die Konzentrationen, die hiervon in Norddeutschland gemessen werden können, stammen zum größten Teil von dem weltweiten Fallout, der auf den Einsatz von Atombomben sowie die verschiedenen Nuklearwaffentests zurückgeht, die in größerem Umfang um 1960 herum durchgeführt wurden. Der Rest geht auf die Katastrophe in Tschernobyl von 1986 zurück.

Daher nahmen wir an, daß sich in unseren Profilanalysen der Böden vor allem zwei deutlich unterscheidbare Peaks zeigen würden, eines für die Zeit der Kernwaffenversuche und eines für den Gau in Tschernobyl, weil die Ereignisse fast 30 Jahre auseinander liegen. Entsprechende Grafiken hatten auch schon die Auswertung der Messungen ergeben, die Prof. Kirchner schon 1992 in Sandkrug und 1994 in Fischerhude gemacht hatte.

In Sandkrug, einem sehr sandreichen Boden liegt eines der beiden 1992er Peaks in einer Tiefe von 20 Zentimeter, das wir dem aus Tschernobyl stammenden Fallout zuordnen, und in 58 bis 60 Zentimeter unter der Oberfläche das zweite von Kernwaffenversuchen stammende, bei dem die Cäsium-137 Isotope bereits tiefer in den Boden abgesunken sind.

SB: Eine kleine Zwischenfrage: Was kennzeichnet diese Peaks? Sprechen Sie von den Cäsiumkonzentrationen oder von einer noch vorhandenen meßbaren Radioaktivität?

AA: Wir messen die Radioaktivität von Cäsium-137 in Becquerel (Bq) pro Kilogramm Trockenmasse der getrockneten Bodenproben. Für jeden Standort haben wir um die 70 Bodenproben aus etwa zwei Zentimeter dicken Bodenschichten abgetragen und präpariert. Das jeweils erste Peak stammt von einer Probe, die nicht tief im Boden, sondern verhältnismäßig nahe der Bodenoberfläche gezogen wurde. Es korreliert mit dem Unfall von Tschernobyl, während für das andere aus einer tieferen Bodenschicht die oberirdischen Atomtests in den 1950er und 1960er Jahren verantwortlich sind. Die radioaktiven Zerfallsprodukte haben sich seinerzeit in der Atmosphäre verteilt, sind dann mit den Luftströmungen unter anderem bis hierher gewandert und von Wind und Wetter als radioaktiver Staub oder Regen im Boden deponiert worden.

In unserer Grafik ist die Bodentiefe, in der die jeweilige Radioaktivität gemessen werden kann, auf der x-Achse eingetragen, die Radioaktivität auf der y-Achse und so kann man die Menge an Radioaktivität im Verlauf der Bodentiefe, von der Oberfläche des Standorts bis zu etwa 70 Zentimetern Tiefe, vergleichen.


Die Atomruine 2013. Seit Ende 2016 umgibt sie eine neue Schutzhülle. Sie soll 100 Jahre halten und Bergung und Entsorgung des strahlenden Inventars ermöglichen. Wie das zu schaffen ist, wissen die Ingenieure noch nicht. - Foto: © 2013 by Arne Müseler [arne-mueseler.de] CC-BY-SA-3.0

Vor 31 Jahren explodierte am Lenin-Kernkraftwerk bei Tschernobyl Reaktor 4 in vollem Betrieb. Der kaum für möglich gehaltene Super-GAU war eingetreten. Die Strahlung ist bis heute meßbar.
Foto: © 2013 by Arne Müseler [arne-mueseler.de] CC-BY-SA-3.0

SB: Wie erkennen Sie bei Ihren Messungen, daß es sich um das Fallout von Tschernobyl handelt? Schätzen Sie das bereits aus dem Abstand zur Oberfläche ab?

AA: Nein, wir können das Tschernobyl-Peak eindeutig an den Spuren des Cäsium-134-Profils identifizieren, dessen Aktivität wir ebenfalls überprüfen. Dabei handelt es sich um ein weiteres kurzlebigeres Cäsium-Isotop, das eine wesentlich geringere Halbwertszeit von nur zwei Jahren besitzt. Wenn wir solche Isotope überhaupt messen können, dann stammt der radioaktive Eintrag aus einer Zeit, die noch nicht lange zurückliegt.

Als Prof. Kirchner 1992 die ersten Proben genommen hat, lag der Tschernobyl-Fallout nur sechs Jahre zurück, und war somit ein relativ neuer Eintrag in den Boden. Das ursprüngliche Profil zeigt somit auch deutliche Mengen an Cäsium-134. Mit Hilfe eines derart eindeutigen Markers wissen wir dann ziemlich sicher, daß das erste Peak dem Tschernobyl-Fallout zuzurechnen ist. Jetzt aber, etwa 20 Jahre danach, ist das Profil, das ich aus den neuen Daten erstellt habe, die in der gleichen Region gemessen wurden, im Vergleich mit den früheren Daten aus anderen Gründen immer noch sehr interessant. Man sieht hier mehr oder weniger eine ganz ähnliche Kurve, aber auch einigen Werte, die aus der Reihe fallen.

SB: Ja, man würde eigentlich erwarten, daß die Werte für die Aktivität nach 20 Jahren doch um einige Becquerel unter den früheren Werten liegen. Doch der Kurvenverlauf auf Ihrem Poster scheint sich zumindest nach 5 Zentimetern wieder an die alten Meßergebnisse anzunähern. Haben Sie dafür bereits eine Erklärung?

AA: Im Großen und Ganzen sehen wir hier schon einen gewissen Unterschied in den Meßwerten und zumindest an der Oberfläche wesentlich geringere Aktivitäten, die sich durch den radioaktiven Zerfall, der bereits im Verlauf der 20 Jahre stattgefunden hat, erklären lassen. Allerdings scheinen sich die höchsten Werte für die Radioaktivität immer noch auf die ersten 10 Zentimeter nahe der Oberfläche zu konzentrieren.

Während die beiden Profile aus der Region Fischerhude erwartungsgemäß einen Unterschied in der gemessenen Radioaktivität aufweisen, verlaufen die beiden Kurven für Sandkrug nicht wie erwartet parallel und decken sich - wie Sie richtig beobachtet haben - sogar an einigen Punkten. Wir vermuten, daß das mit einer langsameren Migration der fraglichen Isotope aufgrund der unterschiedlichen Bodenbeschaffenheit zusammenhängt. Aber wir stecken eigentlich auch noch mitten in der Analyse und haben noch nicht alle Messungen interpretiert.

Bislang kann ich auch nicht mehr als die Meßergebnisse vorstellen, die natürlich so vorliegen, wie sie in den Diagrammen aufgetragen worden sind. Was die genauen Hintergründe für den Verlauf und die Besonderheiten der einzelnen Kurven oder Ergebnisse betrifft, so gibt es dafür noch keine gesicherte Erklärung.

Wir haben nur ein paar erste lose Ideen und Hypothesen dazu, die noch weiter überprüft werden müssen. So wissen wir beispielsweise, daß Cäsium-137 dazu neigt, sich an manche Sedimente oder Bodenteilchen stärker zu binden als an andere. Auf diese Weise wird es an der Abwanderung im Bodenprofil gehindert. Das könnte einer der Gründe dafür sein, warum wir in Sandkrug keine stärkere Migration feststellen konnten.

Auch das andere Muster im tieferen Bereich des Bodens gibt uns noch einige Rätsel auf. Ich weiß nicht, ob man das als Laie erkennt, aber während man im alten Profil, wie erwartet, zwei gut zu unterscheidende Peaks finden kann, scheint ein eindeutiges zweites Peak bei den neueren Messungen von 2014 zu fehlen. Bei den Messungen der Bodenschicht zwischen 50 und 70 Zentimeter Tiefe sieht man zwar einige Ergebnisse, die fast mit den alten identisch sind, aber wir können sie nicht eindeutig den Atomwaffenversuchen zuordnen und auch sonst nicht erklären. Wie es zu dieser Diskrepanz kommt, ob irgendetwas mit dem Boden passiert ist, wissen wir noch nicht. Aber wir sind dabei, das weiter zu erforschen.


Cäsium-137- und Cäsium-134-Messungen in Sandkrug von 1992 und 2014 ergeben eine leicht schwankende, abfallende gedachte Linie zwischen den Aktivitäten, die teilweise übereinander liegen. -Quelle: Anesiadou A. et al 'Re-Examination of Cs-137 soil profiles in Northern Germany', Grafik: © 2017 Aikaterini Anesiadou, Foto: © 2017 by Schattenblick

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Die Messungen in Fischerhude zeigen anfangs deutlich unterscheidbare parallele Kurven, die sich in größerer Bodentiefe stärker vermischen. -Quelle: Anesiadou A. et al 'Re-Examination of Cs-137 soil profiles in Northern Germany', Grafik: © 2017 Aikaterini Anesiadou, Foto: © 2017 by Schattenblick

Für Laien kaum zu bemerken: Ein eindeutiges Peak für die Atomwaffentestversuche scheint bei den Meßwerten von 2014 zu fehlen.
Quelle: Anesiadou A. et al 'Re-Examination of Cs-137 soil profiles in Northern Germany', Grafik: © 2017 Aikaterini Anesiadou, Foto: © 2017 by Schattenblick

Interessanterweise sind keine dieser Ergebnisse oder keine der offenen Fragen auch auf die jüngeren Messungen aus der anderen Region übertragbar. Hier sehen die Meßergebnisse ganz anders aus. Die Bodenzusammensetzung des Bodentyps aus Fischerhude enthält wesentlich mehr organische Bestandteile. Darüber hinaus ist er sehr naß, was ein schnelleres Wandern von Teilchen ermöglicht.

Auch in den älteren Messungen sehen wir hier nur ein einziges eindeutiges Peak in der oberen Bodenschicht, das wir aufgrund der parallel laufenden Cäsium-134-Verteilung dem Tschernobyl-Ereignis zuordnen können. In den jüngeren Messungen sehen wir nun ein Tschernobyl-Peak, das in den letzten zwanzig Jahren tatsächlich etwa 15 Zentimeter in tiefere Bodenschichten abgewandert ist, ganz anders als in Sandkrug, wo die Hauptbelastung immer noch an der Oberfläche geblieben ist. Man sieht zwischen den einzelnen Kurven eine deutliche Differenz. Davon abgesehen können wir auch hier keine stark hervorstechenden Werte für die Kernwaffenversuche ausmachen. Die Werte in den tieferen Schichten sind kaum zu unterscheiden und liegen fast alle auf einer Höhe, haben also die gleiche Radioaktivität. Warum das so ist, wissen wir noch nicht.

Was wir aber in diesem Diagramm sehen können, ist der sehr abrupte Abfall des Kurvenverlaufs an einer bestimmten Stelle und zwar sowohl bei den alten Meßwerten wie bei den jüngeren Meßwerten. Das könnte daran liegen, daß wir es hier in dieser Bodentiefe mit einer besonderen Bodenmatrix zu tun haben, das heißt, daß der Boden an dieser Stelle sehr sandig ist. Grobkörniger Sand hat eine besonders gute hydraulische Leitfähigkeit, so daß das Wasser hier sehr gut abfließen kann.

SB: Die im Wasser gelösten Cäsium-Isotope werden auf diese Weise abtransportiert, also einfach in den Untergrund oder ins Grundwasser gespült?

AA: Genau. Das ist vermutlich die Erklärung dafür beziehungsweise meine derzeitig favorisierte Vermutung, warum die Aktivität hier plötzlich so stark abnimmt. Ob sie stimmt kann ich erst sagen, wenn ich mit der Ausarbeitung meiner Thesis fertig sein werde.

SB: Sprechen Sie von der Abschlußarbeit Ihres Studiums?

AA: Ja genau das ist meine Masterarbeit.

SB: Heißt das auch, daß etwas Vergleichbares von anderen Wissenschaftlern noch nicht gemacht worden ist?

AA: Nein. Soviel ich weiß, sind ähnliche Untersuchungen noch nie von jemandem gemacht worden. Prof. Kirchner, der die früheren Untersuchungen durchführte, ist an dieser Grundlagenforschung sehr interessiert, möglicherweise ergeben sich aus dem Thema nach Abschluß meiner Masterarbeit auch noch Folgefragen für weitere Projekte.

Zu unserer Studie gehört zudem die Entwicklung eines Simulationsmodells, das heißt, wir versuchen aus den Meßdaten Modellierungen zu erstellen, um damit möglicherweise einmal Voraussagen für ähnliche Belastungen machen zu können.

Ich habe mich für eine spezifische, mathematische Berechnungsgrundlage - ein Simulationsmodell auf der physikalisch-mathematischen Grundlage einer sogenannten eindimensionalen Konvektions-Dispersionsgleichung (Wissenschaftsenglisch: CDE - Convection dispersion equation) - entschieden. Und in dieses möchte ich meine Meßdaten, aber ebenso Kirchners Daten eingeben, um dann zu sehen, welche Ergebnisse dabei herauskommen und ob das Modell in der Lage ist, repräsentative Daten für die Modellierung künftiger Entwicklungen zu erzeugen. Wir brauchen Modelle, die sich nicht nur für die Abbildung des Ist-Zustands, sondern auch für Vorhersagen eignen.

Ich habe bislang nur eine sogenannte Kurvenanpassung (Wissenschaftsenglisch: Curve-fitting) für die 2014 in der Region Sandkrug gemessenen Werte durchgeführt, die vielversprechend zu sein scheint. Genaugenommen konnten wir die vertikale Wanderungsgeschwindigkeit für Cäsium-137 aus den Meßwerten berechnen, so daß sich aus den beiden Peaks jeweils ergibt, wie schnell Cäsium-137 im Profil transportiert wurde und wie dicht oder weit gestreut es sich im Boden verteilt.

Wir haben daraus nun zwei Datensets abgeleitet. Eines in das aus Kirchners Daten erstellte, in das die 1992er Analysen eingegangen sind, und eines mit den von mir erarbeiteten Ergebnissen. Kirchners Daten ergeben zwei unterschiedliche Wanderungsgeschwindigkeiten für den Tschernobyl- und für den Atomwaffen-Fallout. Damit vergleichen wir nun meine Ergebnisse.

Normalerweise stellen wir, wenn wir dieses Simulationsprogramm verwenden, zunächst sicher, daß die Geschwindigkeits- oder die ursprünglichen Verteilungswerte gleiche Ergebnisse über Raum und Zeit haben und miteinander übereinstimmen. Aber bei genauerer Betrachtung ergeben sich aus unseren Gleichungen einige bemerkenswerte Diskrepanzen, die noch zu untersuchen sind und für die wir noch keine Erklärung haben.

So läßt sich etwa aus den älteren Messungen, unter Berücksichtigung des Zerfalls, eine Cäsium-137-Belastung von ca. 5.800 Becquerel pro Quadratmeter ableiten, dagegen aus den Messungen von 2014 nur eine ursprüngliche Belastung von 3.500 Becquerel pro Quadratmeter. Wir erforschen noch, ob es an der Bodenbeschaffenheit liegt oder ob vielleicht auch die mathematischen Grundlagen des Modells unseren Ansprüchen noch nicht genügen.

Ansonsten ist das eine unglaublich spannende und interessante Sache, an der wir arbeiten. Wir sehen an diesen beiden verschiedenen Bodentypen, wie sie reagieren, wie Cäsium darin weiterwandert, inwiefern das unseren Erwartungen entspricht beziehungsweise sich Modelle darauf anwenden lassen.

SB: Diese oberen Bodenschichten, die Sie untersuchen, sind auch die Bereiche, die normalerweise landwirtschaftlich bearbeitet werden. Da fragt man sich sofort, ob sich aus Ihren Modellen auch mögliche Auswirkungen auf landwirtschaftliche Produkte errechnen lassen? Außerdem stellt sich auch die Frage, inwiefern sich das Durchackern und -pflügen des Bodens auf Ihre Meßergebnisse auswirkt?

AA: Letzteres kann ich auf jeden Fall ganz ausschließen, da es sich um völlig unbearbeitete, geschützte Naturbereiche handelt. Es wurde dort noch nie gepflügt. Das ist natürlich ein wichtiger Faktor, denn die Bodenbearbeitung würde die Werte doch sehr verfälschen. Darüber hinaus wären die Ergebnisse nicht so gradlinig aus den Meßergebnissen abzuleiten, das würde die Arbeit mit Modellen sehr erschweren, beziehungsweise sogar unmöglich machen. Daher ist es wichtig zu erwähnen, daß hier tatsächlich innerhalb des fraglichen Zeitraums überhaupt keine Bodenbearbeitung stattgefunden hat. Es handelt sich um reine Weidegras- und Mähwiesen.

SB: Welches weitere Ziel verfolgen Sie mit Ihrer Forschung? Könnten Sie sich vorstellen, daß auch andere Gebiete vielleicht mit anderen Bodentypen entsprechend untersucht werden, um Karten über die radioaktiven Belastungsprofile in ganz Deutschland zu erstellen?

AA: Ehrlich gesagt, in meiner derzeitigen Masterarbeit habe ich es ausschließlich mit dem Vergleich von diesen beiden Standorten und Bodentypen zu tun. Mehr würde den Umfang meiner Ausarbeitung sprengen, denn es ist nicht so einfach, wie es vielleicht scheint, diese Berechnungen durchzuführen und vor allem auch die Ergebnisse komplett zu bewerten und in Hinsicht auf mögliche Modellierungen zu interpretieren. Das ist sehr zeitaufwendig.

Ich möchte derzeit noch keine Spekulationen darüber anstellen, was in Zukunft erforscht werden könnte oder wohin diese Forschung geht. Das hängt davon ab, was meine beiden Studienleiter damit vorhaben. Ich könnte mir aber eine Fortsetzung und Ausweitung auf andere Bereiche durchaus interessant vorstellen.

SB: Bei dem Tschernobyl-Fallout und anderen radioaktiven Einträgen in die Umwelt ist ja nicht nur diese Form von Cäsium-137 beteiligt. Es wurden noch zahlreiche andere radioaktive Isotope freigesetzt. Haben Sie in Ihren Bodenproben weitere Isotope gefunden?

Und wie können Sie sich bei Ihren neueren Messungen so sicher sein, daß es sich tatsächlich um die gleichen Isotope aus Tschernobyl handelt, die von Kirchner untersucht wurden, wenn die vergleichenden Messungen für Cäsium-134 hier fehlen. Könnte es sich dann nicht auch um radioaktives Cäsium aus anderen Quellen handeln?

AA: Ohne den gleichzeitigen Nachweis von Cäsium-134 läßt sich Cäsium-137 tatsächlich nicht eindeutig als Tschernobyl-Fallout identifizieren. Das wäre dann nur Spekulation, aber keine eindeutige Antwort.

Cäsium-134 hat nur eine Halbzeit von 2 Jahren. Deshalb ist es ein wichtiger Marker für radioaktive Einträge, die noch nicht so lange zurückliegen. Es ist nicht möglich, daß es von Atombombentests aus den 1950er und 60er Jahren stammt. Natürlich lassen sich auch weitere Isotope finden, die aus Atomwaffentests stammen könnten, zum Beispiel das Isotop Americium-241, das bei dem Zerfall von Plutonium-241 entsteht. Darauf bin ich in meinen Untersuchungen aber bisher nicht gestoßen. Daher ist die Bewertung meiner Meßergebnisse auch so kompliziert, weil ich eigentlich keine Möglichkeit habe, die einzelnen Werte genau zu identifizieren. Ich muß mich vor allem auf die Informationen der früheren Messungen stützen. Und von daher ist noch einiges zu entwirren, was mir rätselhaft erscheint. Aber ich arbeite mich langsam durch, denn das Projekt ist doch sehr wichtig.

SB: Vielen Dank, daß Sie sich die Zeit für uns genommen haben.


Die Karte gibt in Prozent an, wie hoch die jährliche Wahrscheinlichkeit einer radioaktiven Verseuchung von über 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter ist. In Westeuropa liegt sie bei etwa zwei Prozent in einem Jahr. -Quelle: Daniel Kunkel, MPI für Chemie, 2011

Die Gefahr einer radioaktiven Kontamination mit Cäsium-137 ist auch nach dem Atomausstieg größer als man denkt.
Quelle: Daniel Kunkel, MPI für Chemie, 2011


Anmerkungen:


[1] http://www.mpic.de/

[2] Weitere Infos zum Projekt hier:
http://www.radioaktivitaet.uni-bremen.de/de/?Mitarbeiter

[3] Der Boden in Sandkrug entspricht einem sogenannten Gley-Podsol, das ist eine Übergangsform aus Gley, der sich aus eiszeitlichen Flußablagerungen oder Geschiebesand gebildet hat und aus Podsol, nährstoffarme Sande, aus denen Mineralien wie Humus ausgewaschen sind. In Fischerhude dagegen ist der sogenannte Gleyboden genauer laut WRB (World Reference Base for soils) sogenannter Umbric Gleysol typisch. Dieser ist bis in eine Tiefe von 70 cm stärker mit organischen Torf und erst nach unten hin mit Anteilen von Feinsand durchsetzt.


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT zur DPG-Frühjahrstagung in Bremen erschienen:

BERICHT/004: Die DPG stellt vor - Verantwortung der Wissenschaft ... (SB)
BERICHT/005: Die DPG stellt vor - Endlichkeit nicht vorgesehen ... (SB)
BERICHT/006: Die DPG stellt vor - Weltraumgravitationsforschung in spe ... (SB)
BERICHT/007: Die DPG stellt vor - Hoffnung Weltraum, ein Versprechen ... (SB)

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INTERVIEW/010: Die DPG stellt vor - Schwingungen und Perspektiven ...    Prof. Dr. Klaus Fredenhagen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/011: Die DPG stellt vor - fortschreitendes Verständnis (Teil 1) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Die DPG stellt vor - das Mögliche auch nutzen ...    Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/014: Die DPG stellt vor - unbekannten Emissionen auf der Spur ...    Dr. Stefan Schmitt im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/016: Die DPG stellt vor - Vermächtnis der Vergleiche ...    Dipl. Ing. Stefanie Bremer im Gespräch (SB)
INTERVIEW/017: Die DPG stellt vor - fortschreitendes Verständnis (Teil 2) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)
INTERVIEW/018: Die DPG stellt vor - die Sonne im Blick ...    Prof. Dr. Katja Matthes im Gespräch (SB)
INTERVIEW/019: Die DPG stellt vor - Wissenschafts- und Selbsterkenntnis ...    Prof. Dr. Hardi Peter im Gespräch (SB)
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30. Mai 2017


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