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INTERVIEW/017: Die DPG stellt vor - fortschreitendes Verständnis (Teil 2) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)


Realität und Phantasie

Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos (SMuK) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 13. - 17. März 2017 an der Universität Bremen

Prof. Dr. Domenico Giulini darüber, warum es nahezu unmöglich ist, Theorien zu bestätigen, warum manche Lösungen besser in der Schublade bleiben und warum man auf denkbaren, geschlossenen Zeitkurven der modernen Physik konsequenterweise nie auf der Reise in die Vergangenheit seine Großmutter umbringen würde ...



Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt und auf deren Körper die Beispiele für die verschiedenen Größendimensionen vom subnuklearen Maßstab bis zum Universum abgebildet sind. Ihr Maul trägt das Zeichen GUT, 'great unified theory' - Grafik: © 2011 by Abrams and Primack, 'The New Universe and the Human Future'

Alles endet im Kreis
Kosmischer Ouroboros, Große Vereinheitlichende Theorie des Makrokosmos und Mikrokosmos oder kosmisches Werden und Vergehen in der 'geschlossenen, zeitartigen Kurve' der Raumzeit.
Grafik: © 2011 by Abrams and Primack, 'The New Universe and the Human Future'

Schon immer haben Naturforscher, vor allem Astronomen und Physiker, das Bild, das sich der Mensch von der Welt und dem Kosmos macht, mit Theorien und Berechnungen untermauert, um diese relativ bald darauf - aufgrund von neuen Beobachtungen und Erkenntnissen - durch andere Theorien abzulösen und ad absurdum zu erklären. So entsprach das im Mittelalter entworfene geozentrische Weltbild, in dem die Erde den Mittelpunkt des Universums bildete, der Alltagserfahrung. Durch Beobachtungen und Berechnungen von Nikolaus Kopernikus (1473-1543) und weiteren mathematischen Ergänzungen von Johannes Kepler (1571-1630) aus denen sich elliptische Planetenbewegungen ergaben, galt diese Vorstellung als überholt und wurde durch das einfachere heliozentrische Weltbild ersetzt. In das ließ sich später Isaac Newtons (1643-1726) Gravitationstheorie gut einfügen, allerdings nicht ohne gewisse grundsätzliche Anpassungsmaßnahmen, die als größere Genauigkeit interpretiert wurden. Eine davon ist, daß die Sonne nicht der Mittelpunkt der Milchstraße blieb, sondern um den Schwerpunkt des Sonnensystems "eiert", was man als "Baryzentrum" beschreibt.

Auch die korrigierte heliozentrische Sicht konnte sich so nicht halten, als neben der Milchstraße weitere Galaxien entdeckt wurden. Ein Kompromiß blieb zunächst die um ihren Schwerpunkt rotierende Milchstraße als galaktisches Zentrum. Auch diese Sicht wird der modernen Kosmologie sowie der Einsteinschen Relativitätstheorie (1905) zufolge inzwischen wieder in Frage gestellt.

Laut Prof. Domenico Giulini, der in der Ablösung von Theorien vor allem den Fortschritt im Verstehen sieht, ist es - wie er im ersten Teil des Interviews sagt -, vielleicht etwas vermessen, daß die moderne Physik heute nach etwas sucht, mit dem sich nicht nur die größten kosmischen Raumdimensionen, sondern auch die Welt des Mikrokosmos bis in die elementarsten Bausteine der Materie gewissermaßen unter einen alles vereinheitlichenden, harmonisch-theoretischen Hut bringen lassen.

Während im ersten Teil des Interviews vor allem die Welt des Allerkleinsten thematisiert wurde, die teilweise mit Kniffen und Tricks in einen beobachtbaren Maßstab gebracht werden muß, geht es im letzten Teil des Interviews um immer größere Dimensionen und die alles verbindende Raumzeit ...


Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Domenico Giulini im Interview
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Unsere Weltsicht ist in vielem von den Vorstellungen aus der Physik geprägt. Gibt es populäre Interpretationen der inzwischen überholten Theorien, die sich hartnäckig in unserem Weltbild halten und die Sie vielleicht als Physiker gerne ändern würden?

Prof. Dr. Domenico Giulini (DG): Da sprechen Sie tatsächlich etwas an. Die Gewohnheit, Bilder, Begriffe und veraltete Theorien der Einfachheit halber immer weiter zu verwenden, weil sie manchmal eingängiger und intuitiver sind und oft mehr der Alltagserfahrung entsprechen, obwohl wir eigentlich genau wissen, daß sie nicht mehr stimmen, ist weit verbreitet. Und in einigen Fällen nerven diese hergebrachten Redewendungen den Spezialisten auch, weil sie ein Mißverständnis, das längst ausgeräumt sein müßte, über Zeiten hinweg weiter transportieren. Das geht mir nicht anders. Ich bin ja eher im Bereich der Relativitätstheorie unterwegs und so stören mich vor allem Dinge, die im Widerspruch dazu stehen. Zum Beispiel geht mir die Art, wie darüber gesprochen wird, was die Gravitation mit der Zeitmessung macht, manchmal ein bißchen gegen den Strich. Ich denke da an Sprechweisen wie "bewegte Uhren gehen langsamer" oder "im Gravitationsfeld gehen Uhren langsamer", die strenggenommen wirklich falsch sind.

Das stimmt nur dann, wenn man es mit mehreren Uhren zu tun hat. Relativ zu der einen geht die andere langsamer, aber jede geht natürlich gemäß ihrer Konstruktion. Das heißt, sie geht immer gleich schnell. Das ist doch gerade der Witz einer guten Uhr, daß sie keine Gangabweichung zeigt. Es kann also nicht sein, daß die Gravitation mit universeller Hand in ein Uhrwerk eingreift und es verlangsamt. Man kann auch nicht sagen, daß sie zwar eigentlich ihrer Bauart gemäß laufen will, aber irgendeine mysteriöse Kraft sie aufhält und das verhindert. Dieses Mißverständnis vermittelt sich dabei und kann - wenn man nicht daran denkt, daß es sich nur um eine Sprechweise handelt - zu völlig falschen Vorstellungen führen.

In der Quantenmechanik gibt es auch Ähnliches. Aber das läßt sich ehrlich gesagt noch schwerer vermitteln, weil es wirklich an die Grenzen unserer umgangssprachlichen Möglichkeiten geht. Denn die Quantenmechanik entwirft ein Bild von dem Zustand, in dem Materie sein kann, das mit den üblichen Zuständen von Materie, die wir in unserer Umwelt erfahren, sehr wenig zu tun hat. Dennoch nutzen wir sie: Halbleiter in der Mikroelektronik sind klassisch nicht zu verstehen, sondern nur mit Hilfe der Quantenmechanik. Aber das, was da ganz unten in irgendeiner Platine abläuft, kümmert uns meist nicht. Hauptsache, das Handy funktioniert.

SB: Welche weiteren Elemente oder wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten Ihrer Ansicht nach in unserem physikalischen Weltbild unbedingt enthalten sein?

DG: Auf jeden Fall gehört in ein physikalisches Weltbild ein Begriff von Realität. Physiker sollten nicht nur die Vorstellungen aus ihren Köpfen untersuchen, sondern auch die außerhalb von ihnen objektiv existierende Welt. Unsere realistische Vorstellung gerät allerdings schon durch die Quantenmechanik in arge Bedrängnis. Doch wir Physiker brauchen eine gewisse Bodenhaftung. Wenn mir die Vorstellung genommen würde oder auch nur das Vertrauen, nicht mehr realistisch über die Welt denken zu dürfen, dann könnte ich nicht arbeiten. Es gibt Geisteswissenschaftler, die von der Geschichtsschreibung behaupten, sie fände nur in unseren Köpfen statt und ob Napoleon jemals auf der Welt gewesen ist oder ob sich durch irgendeine Art Synergieeffekt oder Zufall nur irgendwelche Leute dazu verstiegen haben, von dieser Person zu berichten, die nie existiert hat, kann niemand wirklich beweisen.

Klar könnten die Dokumente alle gefälscht sein, durch göttliche Hand oder wie auch immer. Aber wenn ich das annehme, dann schaffe ich eigentlich meinen Job als Historiker ab. Das gleiche gilt für den Beruf des Physikers. Wenn ich nämlich davon ausgehe, diese Welt gäbe es nicht so, wie sie ist, sondern alles um uns herum wäre nur ein Riesenschatten oder eine Illusion, dem nichts Objektives mehr zugrunde liegt, dann würde ich sagen, sollte man den Job so schnell wie möglich abschaffen und was Sinnvolleres machen.


Geozentrisches Weltbild im Mittelalter aus der Schedelschen Weltchronik -Quelle: Liber chronicarum mundi 1493 (gemeinfrei)

Wie sich die Bilder gleichen: Sowohl das geozentrische Weltbild ...
Quelle: Liber chronicarum mundi 1493 (gemeinfrei)


Die Erde in vier Phasen bei der Umkreisung der Sonne, dargestellt in verschiedenen Symbolkreisen - Zeichnung: Andreas Cellarius (1596-1665) aus Harmonia Macrocosmica 1660 (gemeinfrei)

... wie auch das heliozentrische Weltbild beruhen auf der Harmonie des Kreises.
Zeichnung: Andreas Cellarius (1596-1665) aus Harmonia Macrocosmica 1660 (gemeinfrei)

SB: Also in den Konflikt, vielleicht befürchten zu müssen, sich quasi selbst abzuschaffen, wenn man sich gedanklich auf ein bestimmtes Terrain begibt, kann man auch als Physiker geraten?

DG: Es gibt Physiker, die denken sogar noch pragmatischer. Die behaupten, die Quantenmechanik entwerfe tatsächlich ein Bild, das den Realismus zu sehr strapaziert, und weil sie an solchen philosophischen Fragestellungen überhaupt kein Interesse haben, streben sie Theorien an, die ihnen die Vorhersage von Meßergebnissen erlauben. Denen ist es vollkommen "Wurst", ob hinter der Theorie ein Realismus steckt oder ob sie nur ein praktisches Handwerkszeug nutzen. Solche harten Pragmatisten oder Positivisten, wenn man so will, die gibt es auch.

Aber ich würde dann doch in aller Vorsicht und ohne jemanden zu nahe treten zu wollen, die Vermutung äußern, daß so etwas niemand wirklich glaubt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man so über die Straße gehen kann, wenn man die Welt nur für die eigene Einbildung hält. Solipsismus nennt man diese These in der Philosophie, daß nur das eigene Ich existiert. Ich halte das für Lippenbekenntnisse.

SB: Oder Gedankenspiele. Man hat als Laie häufiger den Eindruck, daß in der Physik aus mathematischer Abstraktion oder einem Spiel mit Gedanken und Überlegungen etwas wird, was konkretere Formen annimmt und sich dann verselbständigt.

DG: Ja genau.

SB: Wie kommt man eigentlich auf solche Ideen oder überhaupt auf die manchmal doch recht phantastisch anmutenden Lösungen physikalischer Fragestellungen?

DG: Wir haben natürlich starke Krücken, an denen wir uns entlanghangeln. Die Physik ist keine allgemeine Naturphilosophie mehr. Sie war es mal, und so hieß Newtons berühmtes Buch "De principia" auch noch "die mathematischen Prinzipien in der Naturphilosophie" und nicht "die mathematischen Prinzipien der Physik".

Heute gilt vor allem immer das Kriterium der formalen Konsistenz. Das bedeutet, daß wir nicht irgendwelche Vorstellungen aufschreiben, sondern immer versuchen, etwas so zu machen, daß es auch mathematisierbar ist.

Ich denke aber, Ihre Frage zielt noch in eine andere Richtung. Im Entstehungsprozeß, also im eigentlich kreativen Akt, wenn man eine Theorie neu erfindet, ist das natürlich ein völlig freier schöpferischer Akt mit allen Irrationalitäten, die auch andere schöpferische Akte haben. Dafür gibt es sogenannte Prinzipien der Heuristik, das ist die Lehre des Auffindens neuer Gesetzmäßigkeiten, an die man sich halten kann. Jede neue Theorie sollte weiterhin gewisse grundsätzliche Bedingungen erfüllen. So muß beispielsweise die Energieerhaltung weiterhin gewährleistet sein oder der Begriff der Lokalität soll noch gelten, der etwas schwieriger zu beschreiben ist. An diesen Grundpfeilern hangelt man sich entlang und braucht dann aber im buchstäblichen Sinne Phantasie und Einfälle. Es muß einem der richtige Gedankenblitz kommen. Klack. Mit einem Mal habe ich ein Bild und denke, ja, so könnte es sein. Eine geometrische Figur entsteht im Kopf oder ein mathematischer Zusammenhang fällt einem ein.

So etwas läßt sich durchaus visualisieren, wenn man Mathematik kennt. Denn die mathematische Zeichensprache ist auch eine Form von Strukturwahrnehmung. Wenn ich beispielsweise als jemand, der darin geübt ist, eine mathematische Formel ansehe, dann lese ich nicht von links nach rechts, a² + b² = c², sondern ich sehe bereits an der Struktur, daß dies eine Gleichung von der bestimmten Art ist, die mir ungefähr Folgendes sagt. Ganz ähnlich wie ein Musiker, der auf ein Notenblatt guckt, auch nicht jeden einzelnen Punkt ablesen muß, sondern sofort aus der Struktur der Notenfolgen und der Einteilung des Blattes erkennt, um was es sich ungefähr handelt. So geht es uns auch. Ob man dann gerade entspannt in der Badewanne liegt oder im Schwimmbad seine Runden dreht, plötzlich sieht man seine Formeln vor sich und weiß, da ist etwas falsch, weil irgendwelche Konsequenzen dieser Formel nicht stimmen können. Man erkennt dann einfach im Kopf, wenn ich den einen Therm auf die linke Seite pflanze und diesen da auf die rechte oder dies und das noch verändere oder wegkürze, dann käme etwas Verständlicheres heraus. Das funktioniert tatsächlich ganz bildlich.

SB: Man sagt ja, so ähnlich sei Kekulé in der Chemie auf die Struktur des Benzolrings gekommen.

DG: Ja, daran habe ich auch gerade gedacht. Ob die Geschichte wahr ist, daß er im Traum darauf gekommen ist, weiß man nicht, aber unplausibel ist es nicht.

SB: So etwas erlebt man in der Physik also auch?

DG: Ja natürlich, das passiert dauernd.

SB: Bei soviel Willkür versteht man auch, warum es für Physiker so spannend wird, wenn ihre Gedankenkonstrukte dann tatsächlich auch praktisch bestätigt werden sollen - wie bei dem Bose-Einstein-Kondensat-Fallexperiment, von dem Sie sprachen.

DG: Ja. Obwohl dieses Experiment mit dem Bose-Einstein-Kondensat sozusagen erstmal nur die Aussicht auf einen weiteren Test einer anderen Theorie ergibt, die mit der Entstehung des Bose-Einstein-Kondensats gar nichts zu tun hat, nämlich die Gravitationstheorie.

Aber im Prinzip läßt sich eine Theorie auch gar nicht im Experiment bestätigen. Ein Physiker lernt daraus nicht, daß die Theorie stimmt, sondern er lernt immer nur, daß sie falsch ist. Wenn es nur ein einzelnes Experiment gibt, was einer theoretischen Voraussage wirklich nachprüfbar widerspricht, dann kann diese Theorie so nicht richtig sein. Wenn ich aber tausend Experimente mache, die keinen Widerspruch zur Theorie liefern, dann kann ich daraus nicht schließen, daß die Theorie richtig ist, denn das 1001. Experiment könnte ja genau diesen einen Widerspruch erbringen, den man bis dahin nicht erreicht hatte. Wie der Philosoph Karl Popper mal gesagt hat, zeigt sich der wissenschaftliche Charakter einer Theorie nicht an ihrer Verifizierbarkeit, die ist nämlich unmöglich, sondern an ihrer Falsifizierbarkeit. Und das ist der wissenschaftliche Kern eines aufrechten Naturforschers. Der muß immer angeben können, unter welchen Bedingungen er zugibt, daß seine Theorie falsch ist. Wenn er das nicht kann, dann gilt er als unwissenschaftlich.

Als im November 1915 Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie nach acht Jahren Arbeit fertig entwickelt hatte, gab er in verschiedenen Städten eine Reihe von öffentlichen Vorträgen, in denen er versuchte, seine Theorie den Kollegen nahezubringen, darunter auch in Wien. In diesem Wiener Auditorium saß nun als noch ganz junger Student Karl Popper. Nachdem Einstein zum Ende seines Vortrags die drei klassischen Tests der Allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben hatte: die Lichtablenkung an der Sonne, die Rotverschiebung, sowie die Periheldrehung des Merkur, soll er laut Popper gesagt haben, '...und wenn diese drei Effekte nicht eintreten werden, dann muß ich meine Theorie zurückziehen'. Popper soll tief beeindruckt gewesen sein, daß jemand nach einer solchen umfassenden Gedankenleistung wie die Allgemeine Relativitätstheorie ohne zu zögern und vor Zeugen zu diesem Schritt bereit gewesen sei. Doch genau so muß es sein.

Natürlich ist es in der Praxis nicht immer so einfach. Wenn tatsächlich mal ein Widerspruch auftritt, dann läßt sich doch meist noch hier und da ein bißchen was drehen, so daß letztlich doch alles wieder zusammen paßt. Aber vom Prinzip her sollte es so sein und das ist die Leitlinie, an der wir uns orientieren. Deswegen muß man auch verstehen, daß wir regelrecht euphorisch reagieren, wenn neue Methoden entwickelt werden, etwas Grundlegendes im Experiment zu testen. Natürlich kann es sein, daß wir auf diese Weise irgendwann auch mal die Allgemeine Relativitätstheorie falsifizieren. Das wäre sehr traurig, weil es eine wunderschöne Theorie ist, aber wir hätten natürlich auch viel gelernt.

SB: Einstein hat sich seinerzeit vehement gegen die Realisation einiger Möglichkeiten ausgesprochen, die damals durch die Fortschritte in der Nuklearforschung machbar zu werden schienen und dann ja auch durchgeführt wurden, etwa die Konstruktion einer Atombombe. Können Sie sich als Wissenschaftler, der vor allem Theorien auf dem Reißbrett entwickelt, vorstellen, daß Sie die Beantwortung einer theoretisch-physikalischen Frage mit Blick auf die möglichen technischen Folgen zurückhalten würden?

DG: Auf jeden Fall. Dafür muß ja gar nicht erst ein apokalyptisches Szenario heraufbeschworen werden. Es ist noch gar nicht lange her, daß es in der Schweiz eine ganz ähnliche Situation gegeben hat. Als in den letzten zehn Jahren der Large Hadron Collider (LHC) am CERN angeschaltet wurde, diskutierte man die Befürchtung, daß möglicherweise durch die hohen Energien, mit denen die Teilchen im Schwerpunktsystem aufeinanderprallen, ein sogenanntes Mini-Schwarzes-Loch entstehen könnte. Man muß sich das so vorstellen: Ein Teilchen kommt von links, ein Teilchen kommt von rechts, die knallen zusammen. Da sie etwa gleich schwer sind, bedeutet das, jedes entstehende Überbleibsel dieser Kollision zerplatzt in Stücke oder bleibt liegen und das wäre dann möglicherweise der Ursprung eines winzig kleinen Schwarzen Lochs. Daraus ergeben sich natürlich sofort weitere Fragen: 'Wenn ein Mini-Schwarzes-Loch entsteht, mag es ja am Anfang noch klein sein, aber wäre das nicht ungeheuer gefräßig. Und fressen die dann nicht zunächst einmal mich, dann mein Labor, dann CERN, dann die Schweiz, dann Europa und schließlich die ganze Welt auf? Was machen wir dann, wenn so ein Fall eintritt? Einige Wissenschaftler aus den Kreisen der Nichtphysiker sprachen sich klar dagegen aus und meinten: Das muß sofort gestoppt werden. Man dürfe etwas, dessen Folgen nicht vorauszusehen sind, wie die Möglichkeit, daß ein Schwarzes Loch entstehen kann, gar nicht erst probieren. Allerdings haben gerade die Leute, die das am meisten propagiert haben, bei dieser Gelegenheit versucht, ihre eigene Sichtweise und private Theorie zu Schwarzen Löchern zu vermitteln, die physikalisch gesehen leider kompletter Unsinn war. Und so konnten die Befürworter des CERN-Experiments diese Bedenken in Verbindung mit den wissenschaftlichen Fehlern sehr schnell und einfach vom Tisch fegen. Das ursprüngliche Anliegen fand ich aber sehr berechtigt, zumal es damals einen Artikel in einem hochrangigen Fachjournal gab, der mit dem Titel "LHC As A Black Hole Factory" überschrieben war. Ihre Befürchtungen kamen also nicht von ungefähr, wenn ernstzunehmende Physiker so etwas in die Welt setzen. Kein Wunder, daß man sich als Anwohner des CERN oder als Bürger von Genf angesichts solcher Aussichten Sorgen machte.

Zudem sollte meiner Ansicht nach die Beweislast, daß nichts passieren kann, nicht den Besorgten obliegen, sondern natürlich den Physikern, die dieses Experiment machen wollen. Doch Verstand und Vernunft gehen ja nicht immer im Gleichschritt.

SB: Haben Physiker manchmal Probleme damit, Laien zu verstehen, wenn es zum Beispiel um solche Dinge geht?

DG: Wenn sie sich Mühe geben, nein. Und umgekehrt, wenn sie die Laien nicht verstehen, geben sie sich nicht hinreichend Mühe. Ich sage immer, wer begrifflich denkt, der versteht auch die begrifflichen Schwierigkeiten. Aber man muß das natürlich in gewisser Weise reflektieren und da fehlt ihnen oft die Geduld. Gut, manchmal gibt es auch schlagende Argumente auf der Seite der Physiker, die dem Laien einfach nicht einleuchten. Ich halte beispielsweise eine Formel wie a² + b² = c² für eine wunderbare Sache, weil man keine Zahlen braucht, um sie zu verstehen. Mein Sohn sagt dann zu mir, das nützt mir gar nichts, setz doch mal Zahlen ein, damit ich mir darunter etwas vorstellen kann...

Als Physiker würde ich sagen, es gibt zum einen immer Mißverständnisse zwischen Menschen, wenn Absichten nicht offen ausgesprochen werden. Wenn es gewissermaßen eine 'hidden agenda' gibt bzw. einen Hintergedanken. Aber daran haben wir dann selber Schuld. Es gibt auch Dinge, die lassen sich nicht ohne Mathematik erklären. Ansonsten sollte jeder Physiker einem Laien alles mehr oder weniger plausibel erklären können.

SB: Kommt es oft vor, daß Begriffe aus der Physik in den Alltag der Laienwelt übernommen werden, die dann gar nicht mehr das bedeuten, für das es in den klaren, präzisen Abmessungen der Physik vielleicht mal gedacht war?

DG: In der Umgangssprache werden ständig Begriffe gebraucht, die in der Physik eine ganz spezifische Definition haben, welche in der Alltagssprache verloren geht oder eine zusätzliche Deutung erhält. Wir sprechen beispielsweise von einem "Kernkraftwerk". Der Begriff "Kraft" ist an der Stelle falsch. "Kraft" ist physikalisch etwas anderes als "Energie". "Atomkraftwerk" ist eine sogar noch schlechtere Wortwahl. Die Energie, die gewonnen wird, stammt aus dem Atomkern und nicht aus der Atomhülle. Man müßte also "Kernenergie" sagen, das wäre richtiger. Doch "Kern-" und "Atomkraft" halten sich als Begrifflichkeiten. Vermutlich kommt das von dem ursprünglichen Ausdruck für Energie, die man früher als "lebendige Kraft" bezeichnet hat. Wenn jetzt allerdings eine Diskussion geführt wird, in der es so ein bißchen ins Esoterische geht, in der von 'Kraftfeldern in meinem Körper', 'Kraftfeldern in meinem Geist', 'Kraftfeldern von Wasserlinien, die mit Wünschelruten gefunden oder getestet werden sollen', die Rede ist, dann kommen die Begrifflichkeiten durcheinander. Da stehe ich dann als Physiker und verstehe wiederum nichts, von dem, was dort behauptet oder erklärt wird und würde am liebsten bei jedem physikalischen Begriff der verwendet wird, dazwischengrätschen, um zu sagen: Stopp, stopp, stopp, so kann das gar nicht funktionieren. Und dann würden mich die Vertreter dieser alternativen Theorien vermutlich für sehr arrogant halten, weil ich sie nicht verstehe.

SB: Wenn die Mathematik neue Dimensionen und Möglichkeiten eröffnet, die man sich vielleicht auch bildlich vorstellen muß, wächst dann auch das Interesse an Science Fiction?

DG: Ich bin kein typischer Science Fiction-Leser. Es gibt viele meiner Kollegen, die wie die Protagonisten in "The Big Bang Theory", die Science Fiction lesen und alles kennen. Dazu gehöre ich nicht. Solaris von Stanislav Lem hat mich allerdings beeindruckt. Auch den Film "Interstellar" fand ich in vielerlei Hinsicht sehr gut. Darin kommt eine Menge moderne, sagen wir mal, Grenzphysik vor, das heißt Physik am Rande dessen, was wir wirklich noch behaupten dürfen, wollen und können. Mir hat gefallen, was der Film mit diesem Stoff gemacht hat, wenn auch manches physikalisch gesehen nicht ganz korrekt behandelt wurde. Der Film hatte einen sehr guten, wissenschaftlichen Berater, der Spezialist in der Realtivitätstheorie ist.

SB: Juckt es ihnen manchmal selbst in den Fingern, solche Ideen oder Möglichkeiten auszuspinnen oder in SF-Phantasien zu Ende zu denken? In Ihrem Tutorium sprachen Sie bereits von einem Tunnel durch zwei verbundene Schwarze Löcher in der Raumzeit. Da entstehen doch sofort Geschichten im Kopf.

DG: Die es ja auch schon gibt. In Interstellar fliegen die Protagonisten durch das Schwarze Loch in eine auf konventionellen Wegen sehr weit entfernte Region. Aber sie gelangen in kurzer Zeit durch diesen Tunnel dahin. Nach der Allgemeine Relativitätstheorie, der ART, läßt sich das nicht ausschließen. Das heißt, aus bestimmten Detailgründen geht so etwas natürlich nicht. Aber ich kann auch nicht behaupten, das würde prinzipiell nie möglich sein. Mathematiker nennen es mehrfach zusammenhängende Räume. Das Prinzip kennt man eigentlich. Man kann zwei Dimensionen scheinbar perspektivisch an die Wand malen. Ich kann einen Raum malen, in dem man auf zwei verschiedenen Wegen von einem Punkt zu einem anderen gelangt, wobei die eine Strecke lang, die andere kurz ist. Das ist keine abwegige Vorstellung in der Geometrie. Und da die Allgemeine Relativitätstheorie mit der Geometrie von Raum und Zeit eng zusammenhängt, ist die Möglichkeit, daß so etwas passiert, auch in Raum und Zeit denkbar. Aber wie so etwas aussieht, kann ich auch nicht besser beantworten, als es in Interstellar versucht wurde.

SB: Gibt die Relativitätstheorie immer noch Stoff für Visionen oder hat man Ihre Möglichkeiten inzwischen ausgeschöpft?

DG: Also Studenten finden sie immer noch supercool. Vorlesungen über Allgemeine Relativitätstheorie gehören zu den bestbesuchtesten, obwohl sie relativ anspruchsvoll sind. Die Erörterung dieser Problematik beflügelt nach wie vor die Phantasie. Das macht sehr viel Spaß. Es ist aber handfeste Physik. Das darf man nicht vergessen und die wirkt sich auch im Alltag aus. Wenn Sie die Allgemeine-Relativitätstheorie-Rechnungen nicht berücksichtigen, dann ist Ihr GPS-System nach einer Stunde funktionsunfähig, weil der Uhrenvergleich zwischen den Uhren notwendig ist. Es ist durchaus real, was in Interstellar dargestellt wurde, daß jemand, der sich in die Nähe eines Schwarzen Lochs begibt, dort eine Zeitlang verweilt und dann wieder zurückkommt, weniger gealtert ist als derjenige, der die ganze Zeit zu Hause und weit vom Schwarzen Loch entfernt geblieben ist. Wir können das im Labor mit Atomuhren messen und zwar in einem Abstand von einem Meter:

Eine Uhr steht auf dem Boden, die andere steht auf dem Tisch. Sie stellen die vom Boden auf den Tisch, lassen sie eine Weile da oben stehen, dann kommt sie wieder zurück. Die am Boden stehende ist dann weniger gealtert, als die auf dem Tisch. Wenn man näher am Gravitationszentrum ist, altert man relativ weniger zu einem, der das nicht tut. Und das bedeutet in der Konsequenz, Sie können sich sozusagen relativ zu Ihren Freunden und Bekannten jung halten, indem Sie zehn Jahre in der Nähe eines Schwarzen Lochs verbringen. Dann kommen Sie jung und frisch wieder zurück und alle anderen sind Tattergreise geworden. Aber Sie haben nicht den Eindruck, daß die Zeit weniger schnell verflossen ist. Ihrer Wahrnehmung nach waren Sie nur fünf Tage fort, für die anderen sind es aber 90 Jahre gewesen.

SB: Verstehe ich das richtig, daß man in so einem Fall für sich selbst aber keine Zeit dazugewonnen hat, beziehungsweise auch nicht mehr "erlebt" hätte?

DG: Genau. Man hat überhaupt nichts davon, außer daß man sich vielleicht hämisch freut, daß der Freund aus der Schulzeit jetzt so viel älter ist. Sehen Sie, die Erklärungen aus der Allgemeinen Relativitästheorie dafür, daß Sie weniger altern als der, der zu Hause bleibt, haben nichts damit zu tun, daß Ihre Uhr langsamer geht, sondern sie beschreiben es als Wege in der Raumzeit. Sie und ich starten vom gleichen Ereignis. Sie steigen beispielsweise hier in Bremen in ein Raumschiff des OHB und fliegen damit zu einem Schwarzen Loch. Dort bleiben Sie eine Weile. Wenn Sie zurückkommen, sind hier 60 Jahre vergangen und wir treffen wieder an einem bestimmten Zeitpunkt am gleichen Ort zusammen.

Wenn ich Ihren Weg in einem Raum-Zeit-Diagramm aufzeichne, dann haben Sie einfach nur einen anderen Weg durch die Raumzeit genommen als ich. Wir starten am selben Punkt und treffen dort auch wieder zusammen. Aber die Weglänge, die wir jeweils zurückgelegt haben, ist unterschiedlich lang. So etwas kennt man auch aus dem Alltag. Die Weglänge zwischen zwei Punkten hängt davon ab, ob Sie zum Beispiel direkt von Bremen nach Berlin fahren, oder ob Sie einen größeren Umweg über Hannover oder einen kleineren über Hamburg wählen. In allen Fällen kommt Ihr Auto mit einem unterschiedlichen Stand auf dem Kilometerzähler an.

Aber niemand würde daraus den Schluß ziehen, daß zum Beispiel Hamburg die mysteriöse Eigenschaft besitzt, die Räder Ihres Autos zu verkleinern, so daß sie sich öfter und schneller drehen müssen, weil der Abstand von Bremen nach Berlin immer der gleiche ist. Jeder würde sagen, daß es einfach daran liegt, daß die gewählte Route unterschiedlich lang war.

Und genauso ist es bei der Allgemeinen Relativitätstheorie auch. Das heißt, wir haben unterschiedlich lange Wege zurückgelegt, während unsere Uhren immer gleich gelaufen sind. Das ist die einzig richtige Erklärung. Zu sagen, die Uhr fängt auf einmal an zu rasen, weil man nicht zum schwarzen Loch fliegt, wäre Unsinn. Genauso wie Autos nicht plötzlich rasen. Die Allgemeine Relativitätstheorie hat eine ganz banale Erklärung: Längen von Wegen hängen vom Weg ab. Und Uhren sind nur die Instrumente, welche die Weglänge in der Raumzeit messen und nicht allein den durch den Raum.

SB: Sind wir da nicht eigentlich schon wieder bei recht newtonschen Vorstellungen angelangt, wenn man von zurückgelegten Strecken und Wegen spricht.

DG: Ja eben, die gibt es auch in der ART. Nur sind das keine Wege im Raum, sondern in der Raumzeit.

SB: Etwas, das man extra dafür neu erfinden mußte?

DG: Daß wir unsere Welt mit Raum und Zeit beschreiben, kennt jeder. Wenn Sie sich mit jemanden verabreden, machen Sie einen Zeitpunkt und einen Ort aus. Wenn eines der beiden falsch ist, treffen Sie sich nicht. Das heißt, Ereignisse werden durch vier Angaben, drei Raumangaben und eine Zeitangabe bestimmt. Mit Raummaß und Zeitmaß läßt sich in der newtonschen Physik bestimmen, wie weit zwei Ereignisse zeitlich und wie weit sie räumlich voneinander entfernt sind. Der einzige Unterschied zu diesem herkömmlichen Umgang mit Raum und Zeit in der Speziellen und der Allgemeinen Relativitästheorie ist, daß sie beide behaupten, daß dies so nicht stimmt. Es gibt kein Raum- und kein Zeitmaß, sondern nur ein Raumzeitmaß. Sie können nur vom Abstand der beiden Ereignisse in der Raumzeit reden. Sie können nicht auf geometrisch invariante Weise, also ohne irgendwelche Zusatzangaben zu machen, von der rein räumlichen Entfernung zweier Ereignisse sprechen, auch nicht von der rein zeitlichen. Letzteres ist schließlich das Nicht-Newtonsche daran. Bei Newton hat man immer gesagt, 'zwei Ereignisse haben einen festgelegten zeitlichen Abstand, egal, wo sie sind'. Also wenn auf dem Jupiter ein Vulkan explodiert, dann war es auf der Erde zwölf Uhr. Das kann ich unzweideutig genau sagen. Und dazu würde Einstein sagen, 'nein, das stimmt nicht, das kannst du eben nicht.' Wenn zwei Ereignisse räumlich getrennt laufen, dann gibt es kein objektives Verfahren, um zu unterscheiden, ob das eine oder das andere früher war. Das hängt ein bißchen von der Betrachtungsweise ab. Es ist relativ zu Ihrem Bewegungszustand. Daher spricht man von Relativitätstheorie. Und das ist eigentlich auch schon alles. Das ist nicht besonders spektakulär.

SB: Wie kann man sich denn den Weg durch die Raumzeit, wenn er so real wäre wie ein Spaziergang am Teich entlang, vorstellen? Oder ist die Strecke, die man normalerweise als Weg wahrnimmt, danach gar nicht real?

DG: Der Weg scheint Ihnen tatsächlich nur deshalb so schön plausibel, weil Sie ihn gespurt sehen. Wenn Sie mal an ein dichtes Schneetreiben denken, in dem alles weiß ist, so daß man überhaupt keine Tiefen mehr sehen kann, und Sie fahren da mit dem Auto durch oder auf Skiern, dann verliert man beispielsweise völlig das Gefühl für die Geschwindigkeit, weil Sie nicht sehen, wie schnell die Dinge an ihnen vorbeiziehen. Sie können nicht mal mehr unterscheiden, ob Sie fahren oder stehen. Sie merken nicht, wenn es bergauf geht. Versuchen Sie einmal den Weg, den Sie durch dieses völlig strukturlose Etwas nehmen, jemandem zu beschreiben. Das geht nicht. Dafür brauchen Sie Orientierungspunkte, die drumherum sind. An dem Kirchturm links vorbei, dann bei der Tanne rechts und dann am See entlang. Nur dann bekommt der Weg etwas Anschauliches.

Und ebenso können Sie das auch mit der Raumzeit machen. Wenn Sie sich ein altes Fotoalbum angucken, blättern Sie die Seiten durch. Dann haben Sie einen Weg Ihres Lebens in Raum und Zeit mit entsprechenden Orientierungspunkten wie "Ferien in Capri 1969", "Schulabschlußfeier 1978" und so weiter. Zudem sind die Alben noch chronologisch geordnet. Dann stapeln beispielsweise gleichzeitige Ereignisse in Schichten von Zeit, bis Sie dann oben in der Jetztzeit gelandet sind. Alle Bücher zusammengepackt, mit jeweils zweidimensionalen Bildern, die aber in der Zeit gestapelt sind, ergeben bereits etwas Dreidimensionales. Das ist nichts anders als die dreidimensionale Raumzeit. Und wenn Sie jetzt statt der Bilder dreidimensionale Räume oder dreidimensionale Bilder stapeln könnten, haben Sie sogar etwas Vierdimensionales. Dann wäre das Sammelsurium ihrer Fotoalben mit dreidimensionalen Bildern eine schöne Raumzeit ihres Lebensabschnittes. Das Dumme ist nur, es geht nur in eine Richtung. Man kann nicht zurückreisen. Sie können sich in der Zeit nicht so frei bewegen wie im Raum. Sie müssen nach vorne und dürfen nicht zurück.

SB: Ist das eine Theorie, die Sie logisch herleiten? Wäre es nicht auch ein Widerspruch, wenn Raumzeit einerseits wie ein Weg beschrieben wird, andererseits aber nur in eine Richtung verlaufen soll?

DG: In meinem Vortrag gestern früh hatte ich kurz über geschlossene, zeitartige Kurven in der Raumzeit gesprochen. Das sind Kurven, auf denen ein Beobachter existiert, der irgendwann immer wieder an einem identischen Punkt anfängt. Das heißt er wird älter und älter und dann ist er wieder jung und beginnt von vorn. Wenn man sich das mal genau überlegt, ist es gar nicht so widersprüchlich, wie man glaubt. Erstmal denkt man natürlich, daß Zeitreisen in die Vergangenheit kompletter Unsinn sind: Dann könnte ich ja meine Großmutter umbringen, die kann dann meine Mutter nicht zur Welt bringen. Damit hat es auch mich nicht gegeben. Das erscheint logisch völlig absurd.

Aber in einer Welt, in der es geschlossene, zeitartige Kurven gibt, muß natürlich die Entwicklungsgleichung für die Materie selbstkonsistent sein, so daß sich nach einer periodischen Durchlaufung eines Äons alles wiederholt. Da kommt kein Mensch auf die Idee, seine Großmutter umzubringen. Die Idee taucht gar nicht auf. Sie sind nicht frei. Wenn Sie denken, wir alle bestehen nur aus der Materie, dann sind die Materieentwicklungsgleichungen so, daß sie mit diesem Raumzeitmodell konsistent sind. Das sind eben Raumzeiten, in denen niemand mehr mordet, schon gar nicht die Großmutter. Das ist vielleicht etwas ungewohnt, aber es ist nicht logisch unmöglich.


Versuch, eine Zeitreise in Form eines Kreises darzustellen - Grafik 2005 by Vio, gemeinfrei

Geschlossene, zeitartige Kurven gehen wieder auf den Beginn zurück.
Grafik 2005 by Vio, gemeinfrei

SB: Das würde allerdings einige Probleme beantworten, die sich in der Science Fiction zu Zeitreisen und Zeitparadoxien stellen. Man schließt das Problem mathematisch oder in der theoretischen Physik mit einer einfachen Gleichung.

DG: Diese Problematik wurde auch am Ende des Films "Interstellar" angesprochen. Da findet der Held der Geschichte in einer Bibliothek am Ende das Buch, in dem für ihn eine Notiz aus der Vergangenheit hinterlegt wurde, zur Erinnerung, um aus der Vergangenheit Einfluß auf die eigene Situation und die weitere Zukunft nehmen. "Stay" steht darin, "Bleibe!". Doch das ist etwas, das nach den Gesetzen der modernen Physik nicht mehr haltbar wäre. Das würde nicht gehen.

SB: Das ist ein schönes und sehr beruhigendes Schlußwort, vielen Dank Herr Prof. Giulini, daß Sie sich Zeit für uns genommen haben.


Zur Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos sind bisher, mit dem kategorischen Titel "Die DPG stellt vor" versehen, im Pool NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT erschienen:

BERICHT/004: Die DPG stellt vor - Verantwortung der Wissenschaft ... (SB)
INTERVIEW/009: Die DPG stellt vor - unzureichend treibt voran ...    Prof. Dr. Claus Lämmerzahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Die DPG stellt vor - Schwingungen und Perspektiven ... Prof. Dr. Klaus Fredenhagen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/011: Die DPG stellt vor - fortschreitendes Verständnis (Teil 1) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/015: Die DPG stellt vor - Zusammenschau ...    Dr. Irena Doicescu im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Die DPG stellt vor - Vermächtnis der Vergleiche ...    Dipl. Ing. Stefanie Bremer im Gespräch (SB)

1. April 2017


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