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THEORIE/044: Was ist Zeit? - Teil 1 (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 11/12 - November 2012
Zeitschrift für Astronomie

Was ist Zeit?
Teil 1: Von kosmischen Zyklen zum kosmologischen Zeitpfeil

Von Andreas Müller



Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären will, weiß ich es nicht.
Aurelius Augustinus, Confessiones, XI 14

Der Wecker klingelt. Aufstehen! Wir starten in den Tag und planen unser Programm mit einem wesentlichen Werkzeug: der Uhr. Sie zeigt uns ganz selbstverständlich die Zeit an. Doch was ist Zeit überhaupt? Die uns im Alltag geläufigen Zeitbegriffe sind mit wiederkehrenden kosmischen Vorgängen verknüpft - mit dem Auf- und Untergang der Sonne, dem Mondzyklus und der Umlaufbewegung der Erde. Es gibt aber auch eine Merkwürdigkeit: Die Zeit kennt nur eine Richtung.


IN KÜRZE

• Bereits die antiken Philosophen um Aristoteles dachten über das Wesen der Zeit nach. Galilei und Newton sprachen von einer absoluten Zeit.
• In der Physik geht die Zeit in Bewegungsgleichungen ein. Sie beschreiben mathematisch die Dynamik von Systemen.
• Die Zeit hat nur eine Richtung. Wir erleben sie als unbeeinflussbar.


Im Alltag unterliegen wir dem Diktat der Zeit. Sie signalisiert uns, wann wir aufstehen und unsere Termine wahrnehmen müssen. Sie ist unser Hilfsmittel, das uns nicht nur bei der Gestaltung des Tages, sondern auch bei der Planung von Wochen, Monaten und Jahren, ja sogar des ganzen Lebens, unterstützt. Die Zeit ist jedoch weit mehr als ein praktisches Werkzeug, und es ist eine naturwissenschaftlich und philosophisch äußerst spannende Herausforderung, ihr Wesen zu hinterfragen: Was ist Zeit? Und warum verrinnt sie selbst dann, wenn wir nicht auf die Uhr schauen?

Wir erleben Zeit als absolut und unbeeinflussbar. Wenn wir überlegen, woran wir ihren Ablauf festmachen, dann wird sofort klar, dass wir das Verrinnen der Zeit anhand von Veränderungen bemerken: Die Bewegung von Gegenständen in unserer Umgebung, das tägliche Wandern der Sonne am Himmel, die Veränderungen der Natur während der Jahreszeiten, das Wachsen von Kindern und unser eigenes Altern - all das signalisiert uns, dass die Zeit voranschreitet. Wir nehmen dabei den Fluss der Zeit ganz bewusst wahr, denn wir haben die Fähigkeit, uns an Vergangenes zu erinnern. Daher können wir aus Fehlern und Erfolgen der Vergangenheit lernen. Wir erleben den Moment der Gegenwart - wissen wir doch, dass er schon im nächsten Moment Vergangenheit sein wird. Genauso können wir unsere Zukunft aktiv gestalten, indem wir mit Hilfe der Zeit planen.


Die Zeit der großen Denker

Veränderungen sind also offenbar entscheidend, oder man könnte auch sagen, Bewegungen sind wesentlich. Mit dieser Begrifflichkeit sind wir den Denkern der Antike sehr nahe gekommen, allen voran Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), dessen natur- und geisteswissenschaftliches Gedankengut bis ins Mittelalter dominierte. Im aristotelischen Denken finden sich Veränderung und Bewegung im griechischen Begriff »kinesis«.

Nach Aristoteles ist alles Seiende bewegt. Er folgerte, dass es ein erstes Bewegendes geben müsse, welches das Seiende bewegt. Dabei muss das Bewegende selbst unbewegt sein, weil es sonst nicht ein erstes Bewegendes wäre. Diesen unbewegten Beweger identifiziert Aristoteles mit Gott. Er bezieht damit eine Gegenposition zu Platon, dessen Schüler er war, denn der platonische Gottesbegriff ist derjenige vom selbst bewegten Beweger. Aristoteles vollzieht damit einen Übergang von der Ontologie, der Lehre vom Sein, zur Theologie, der Lehre von Gott.

Bezogen auf den Zeitbegriff, beschrieb Aristoteles das »Jetzt« als Übergang von der Vergangenheit, dem »Nicht-mehr-Sein«, in die Zukunft, dem »Noch-nicht-Sein«. Das »Jetzt« verschwindet augenblicklich und wird abgelöst von einem darauf folgenden »Jetzt«, so dass die »Jetzte« gewissermaßen ein Kontinuum bilden. Hierbei entstand die Redeweise vom »Fluss der Zeit«, weil sie von der Zukunft durch das »Jetzt« in die Vergangenheit »fließt«.

Einen entscheidenden Durchbruch in unserem Verständnis des Zeitbegriffs verdanken wir Galileo Galilei (1564-1642) und Sir Isaac Newton (1643-1727). Die beiden Universalgelehrten haben unser Verständnis von der Natur im 16. und 17. Jahrhundert entscheidend geprägt. Hinsichtlich des Zeitbegriffs sind ihre Arbeiten auf dem Gebiet der klassischen Mechanik und der Schwerkraft bedeutend. Sowohl Galilei als auch Newton führten physikalische Experimente durch. Diese beschrieben sie durch mathematische Gleichungen, in denen die Zeit als Variable eine große Rolle spielt. Die Physiker nennen sie Bewegungsgleichungen - wir stoßen also wieder auf den aristotelischen Begriff der Bewegung: kinesis.

Im Allgemeinen handelt es sich bei den Bewegungsgleichungen um Differenzialgleichungen, die beschreiben, wie sich der Ort eines Körpers unter der Einwirkung einer äußeren Kraft ändert, beispielsweise beim Hin- und Herschwingen eines Pendels unter dem Einfluss der Schwerkraft (siehe Bild S. 38 der Druckausgabe). Die mathematischen Lösungen einer Bewegungsgleichung geben darüber Aufschluss, an welcher Stelle sich das Pendel zu einem beliebigen Zeitpunkt befindet, wie schnell es dann schwingt und wie stark es gerade beschleunigt wird. Dieser mathematische Formalismus ist sehr mächtig und besitzt weitreichende Anwendungen in Naturwissenschaft und Technik.

Der Zeitbegriff, der das Fundament dieser Theorie bildet, ist aus unserer alltäglich erfahrbaren Perspektive sehr plausibel, denn die Zeit gilt in der klassischen Mechanik als absolut: Sie ist unbeeinflussbar - oder, wie Newton es in seinem 1687 erschienenen Hauptwerk »Philosophiae Naturalis Principia Mathematica«, formulierte: »Die absolute, wahre Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.« Ein solcher Ansatz für das Wesen der Zeit ist überaus erfolgreich, aber es sollte sich zeigen, dass mit der modernen Physik des 20. Jahrhunderts das Verständnis des Zeitbegriffs weiterentwickelt werden musste.


Kosmische Taktgeber

Bevor wir uns dem Wesen der Zeit zuwenden, betrachten wir sie zunächst als Alltagsphänomen. Zeiten messen wir mit Uhren, für die wir einen Taktgeber und einen Zähler benötigen. Ähnlich wie ein frei schwingendes Pendel schwingt auch eine mechanische Pendeluhr gleichmäßig mit einer konstanten Periode hin und her und gibt damit einen Takt vor. Nun benötigt man nur einen Zähler, der registriert, wie oft ein Takt, also eine ganze Periode, in die zu messende Zeitspanne hineinpasst. Die Pendeluhr ist somit eine technisch weiterentwickelte, künstliche Form einer natürlichen Uhr wie das frei schwingende Pendel.

Wir kennen eine Reihe von natürlichen Uhren, denen interessanterweise kosmische Zyklen zu Grunde liegen. Zunächst gibt es den Wechsel von Tag und Nacht, ein Vorgang, der regelmäßig im Abstand von rund 24 Stunden wiederkehrt und dessen Periode wir »Tag« nennen. Er wird von der Rotation unseres Heimatplaneten Erde vorgegeben. Als Konsequenz dieser Drehung rotiert der Himmel scheinbar um die Erde, so dass es zum Sonnenauf- und -untergang und dem damit verbundenen Wechsel von Tag und Nacht kommt. Sieben Tage bilden den Zyklus von einer Woche, und rund vier Wochen ergeben einen Monat. Im Begriff »Monat« steckt das Wort »Mond«. Dies ist kein Zufall, denn unser Erdtrabant durchläuft einen leicht zu beobachtenden natürlichen Zyklus von Neumond, zunehmendem Mond, Vollmond, abnehmendem Mond und wieder Neumond, der rund 28 Tage dauert.

Nach Ablauf von 365 Tagen ist die Zeitspanne von einem Jahr erreicht. Auch dies ist ein natürlicher kosmischer Zyklus, der dadurch festgelegt ist, dass die Erde die Sonne nach einem Jahr vollständig umrundet hat. Während dieses Umlaufs steht die Erdachse nicht immer in der gleichen Orientierung zur Sonne, denn sie ist gegenüber der Erdbahnebene um 23,5 Grad geneigt. Astronomen bezeichnen diesen Winkel als die »Schiefe der Ekliptik«. So kommt es, dass die Sonnenstrahlen während eines Laufs der Erde um die Sonne zeitweise die Nordhalbkugel und zeitweise die Südhalbkugel senkrecht treffen (siehe Bild S. 38 der Druckausgabe). Wenn dies geschieht, ist auf der jeweiligen Halbkugel Sommer und auf der gegenüberliegenden Halbkugel Winter. Bevor diese Extreme des Sonnenstands erreicht werden, gibt es die Jahreszeiten Frühjahr beziehungsweise Herbst.

Von der Erde aus betrachtet, variiert wegen der »Schiefe der Ekliptik« die scheinbare Höhe der Sonne über dem Horizont. Die tägliche Bahn der Sonne am Firmament heißt Tagbogen, und dieser verändert sich von Tag zu Tag. Als Konsequenz der geneigten Erdachse haben wir im Sommer lange Tagbögen mit entsprechend langen Tagen und kurzen Nächten. Im Winter gibt es kurze Tagbögen mit entsprechend kurzen Tagen und langen Nächten. Somit verändert sich im Verlauf eines Jahres auch der Schattenwurf, beispielsweise eines Turms: Er wirft den längsten Schatten im Winter und den kürzesten im Sommer (siehe Bild S. 38 der Druckausgabe).

Tag, Monat und Jahr sind also kosmisch bedingte Zyklen. Zur Messung längerer Zeitspannen können wir mitzählen, wie viele Tage, Monate, Jahre verstrichen sind, wobei der Uhrentakt vorgibt, für welche Zeitspannen die jeweilige Uhr zum Einsatz kommt. Kurze Zeitspannen können wir mit den kosmischen Uhren nicht mehr so leicht messen, so dass es sinnvoll ist, künstliche Uhren mit kürzeren Perioden zu bauen, wie die erwähnte Pendeluhr. In der Geschichte der Zeitmessung treten jedoch auch Sand-, Wasser- und Öluhren auf, bei denen das beständige Fließen eines Materials von einem Behälter in einen anderen gemessen wurde und als Zeitmaß diente. Moderne Uhren sind die Quarzuhr, die das Schwingungsverhalten eines Quarzkristalls zur Kontrolle der Zeitmessung nutzt, und die Atomuhr, die auf der elektromagnetischen Strahlung basiert, die bei Übergängen zwischen verschiedenen Energieniveaus des Atoms entsteht (siehe Kasten).

KASTEN


Präzision aus dem Mikrokosmos: die Atomuhr

Wie jede Uhr, so benötigt auch eine Atomuhr einen Taktgeber. Hier ist es das Schwingen einer elektromagnetischen Welle, die ein Atom von einem energetisch niedrigeren in einen höheren Zustand anregt. Die Frequenz der vom Atom aufgenommenen Strahlung ist mit einigen Milliarden Schwingungen pro Sekunde sehr hoch - und gerade dies macht die Atomuhr zum genauesten Zeitmesser der Welt. Einem Vorschlag des Physikers Isidor Rabi (1898-1988) folgend, realisierte der Physiker und Chemiker Willard Frank Libby (1908-1980) die erste Atomuhr im Jahr 1946.

In einer Atomuhr wird zur Absorption das Element Cäsium (133Cs) genutzt. Ein Cäsiumatom besteht aus einer Elektronenhülle und einem Atomkern. Diese Konfiguration von Teilchen kann zwei bestimmte Energiezustände einnehmen, die sich hinsichtlich ihres Eigendrehimpulses (Spin) unterscheiden. In der Physik heißen diese beiden Zustände »Hyperfeinstrukturniveaus«. Bestrahlt man die Cäsiumatome mit Mikrowellen einer bestimmten Frequenz, so können sie die Energie der Strahlung aufnehmen und auf das energetisch höhere Hyperfeinstrukturniveau wechseln. Salopp sagt man auch: »Der Spin von Cäsium wird umgeklappt.« Dieses Umklappen geschieht nur bei passender Wellenlänge der Mikrowellen, dem Resonanzfall. Die Wellenlänge liegt dann bei 3,26 Zentimetern, was einer Frequenz von 9,19 Gigahertz, also rund 9 Milliarden Schwingungen pro Sekunde, entspricht. Präzise sind es 9.192.631.770 Schwingungen, die das Mikrowellenfeld innerhalb einer Sekunde durchführt. Dies ist der Taktgeber der Atomuhr, der die Länge der Zeiteinheit »Sekunde« definiert.

In der Praxis werden Cäsiumatome in einem Ofen verdampft und mit Hilfe eines Magnetfelds sortiert, um sicherzustellen, dass sie in einem ganz bestimmten energetischen Zustand vorliegen (siehe Grafik in der Druckausgabe). Danach wird der Cäsiumdampf in einen Hohlraumresonator geschickt, wo er durch Mikrowellen angeregt wird. Die Zahl der angeregten Cäsiumatome ist im Resonanzfall am größten. Diese Einstellung wird von der Apparatur gehalten, und die Schwingungsperioden werden gezählt. Nach genau 9.192.631.770 Schwingungsperioden ist dann eine Sekunde verstrichen.

Cäsium-Atomuhren sind so genau, dass 1967 die Zeitsekunde über dieses »Cäsiumnormal« definiert wurde. Eine Cäsium-Atomuhr der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig stellt die Referenz für alle Uhren in Deutschland dar. Über Funk steuert sie landesweit Uhren an, die auf diese Weise genau eingestellt, also synchronisiert, werden.

Die PTB-Physiker experimentieren auch mit anderen chemischen Elementen für die Atomuhr. Neuerdings kommt dabei Ytterbium zum Einsatz. Hierbei wird der Übergang nicht mit Mikrowellen, sondern sogar mit sichtbarem Licht bewerkstelligt. Da die Wellenlänge von Licht noch kürzer ist als diejenige von Mikrowellen, ist der »Ytterbium-Takt« kürzer. Dementsprechend genauer ist diese neue Generation von optischen Atomuhren und zwar auf 17 Stellen nach dem Komma.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wegen der geneigten Erdachse ändert sich im Jahreslauf die Länge des Tagbogens der Sonne. Deshalb sind die Tage im Sommer länger und im Winter kürzer. Basierend auf diesem Phänomen lässt sich ein einfacher Zeitmesser konstruieren: die Sonnenuhr.

- Aus einem Strahl von Cäsiumatomen filtert ein Magnet diejenigen Atome heraus, die sich im Grundzustand (-) befinden. Sie werden im Resonator mit Mikrowellen bestrahlt und dadurch auf ein höheres Energieniveau (+) angeregt. Die Anzahl der im Auffänger gesammelten angeregten Atome ist am größten, wenn die Frequenz fp der eingestrahlten Welle die für die Anregung der Cäsiumatome charakteristische Frequenz aufweist.


Schritte in eine neue Dimension
Zeitdauern werden immer relativ zu einer Startzeit gemessen, wobei die Festlegung dieses Zeitnullpunkts natürlich willkürlich ist. In unserer christianisierten, westlichen Welt ist der Bezugszeitpunkt die Geburt Jesu. Wir zählen, wie viele Jahre seither vergangen sind, und leben daher im Jahr »2012 nach Christus«. Ganz trivial ist es nicht, einen so lang zurückliegenden Zeitpunkt, der in einer Epoche liegt, in der es noch nicht so genaue Uhren gab, als Bezug zu verwenden, denn es gibt Unsicherheiten in der Überlieferung, wann genau sich die Geburt ereignete. Zudem wurde seither mehrfach der Kalender reformiert, beispielsweise bei der Umstellung vom Julianischen auf den Gregorianischen Kalender zum Ende des 16. Jahrhunderts.

Auch die Verwendung von Kalendern in unserer modernen Zeit ist keinesfalls einfach. So sind wir gezwungen, den Gang von irdischen, künstlichen Uhren immer wieder an den Gang der natürlichen, kosmischen Uhren anzugleichen, denn wir wollen ja nicht, dass es um zwölf Uhr mittags plötzlich Nacht ist oder dass es im Sommer schneit. Hierzu dienen Schaltsekunden und Schalttage, also zusätzliche Sekunden beziehungsweise Tage, die geeignet in die Kalender eingebaut werden. Solche Maßnahmen müssen national und global vereinbart werden. In Deutschland residieren die »Herren der Zeit« in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig und Berlin. Das PTB ist unser nationales Metrologie-Institut, das auch die Standards für andere Maße und Maßsysteme vorgibt und überwacht. Zur Einhaltung der gesetzlichen Zeit in Deutschland betreibt die PTB mehrere Atomuhren - die präzisesten Uhren der Welt.

Zeitnullpunkte und Zeitskalen sind allerdings vollkommen willkürlich und beruhen nur auf praktischen Vereinbarungen. Doch die Zeit als physikalisches Phänomen bleibt. Sie verstreicht, auch ohne dass eine Uhr mitzählt. Wir können sie zwar messen, aber warum schreitet die Zeit beständig, offenbar unaufhaltsam voran? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, sie als Dimension des Universums zu betrachten und mit den drei Raumdimensionen zu vergleichen. Hierbei offenbaren sich recht auffällige Unterschiede. Es gibt nur eine Zeitdimension, aber gleich drei Raumdimensionen, nämlich Länge, Breite und Höhe. In den Raumdimensionen können wir uns im Prinzip beliebig bewegen: vor und zurück, nach links und rechts sowie nach oben und unten. Im Unterschied hierzu können wir unsere Bewegungsrichtung bei der Zeit nicht beeinflussen. Noch gravierender ist, dass die Zeit nur eine »Vorwärtsrichtung« erlaubt und dass diese in die Zukunft weist. Insgesamt können wir also in allen drei Raumdimensionen nach Belieben vor- und zurückreisen, aber keine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen.

Warum ist das so? Betrachten wir dynamische Vorgänge in der Natur sehr genau, so bemerken wir, dass einige davon in der Zeit vorwärts wie rückwärts ablaufen könnten. Sehr deutlich wird das, wenn wir einen rückwärts ablaufenden Film sehen. Irgendwann bemerken wir dabei seltsame Vorgänge, die wir so noch nie in der Natur beobachten konnten: Da entmischt sich ein Milchkaffee, und die Milch formt einen Strahl, der auf wundersame Weise aus dem Kaffee in eine Milchtüte fließt; Porzellanscherben springen vom Boden auf und fügen sich zu einer Tasse zusammen, die perfekt auf einem Tisch zur Landung kommt; ein Fluss fließt stromaufwärts und bildet einen Wasserfall, der komischerweise einen Fels hinaufsteigt. Die Gemeinsamkeit dieser seltsamen, unnatürlichen Phänomene liegt darin, dass es für sie nur eine logische Reihenfolge gibt, in der sie eintreten können - nur eine Zeitrichtung. Solche Vorgänge sind eine heiße Spur zum Verständnis der Zeit!

Das Merkwürdige an ihnen ist, dass sie die Reihenfolge von Ursache und Wirkung umdrehen. Es ist nun einmal so, dass erst die Milch in den Kaffee strömt und sich dann die Flüssigkeiten mischen; erst fällt die Tasse vom Tisch, und dann kommen die Scherben; Wasser fällt natürlicherweise im Schwerefeld der Erde und kann somit nicht einfach bergauf fließen. Das dahinter liegende Prinzip »Erst die Ursache, dann die Wirkung« wird wissenschaftlich »Kausalität« genannt. Die seltsamen Phänomene im rückwärts laufenden Film verstoßen gegen das Gesetz der Kausalität - sie sind »akausal«. Diese Überlegungen bilden den ersten Schritt, um dem so genannten Zeitpfeil auf die Spur zu kommen, welcher der Zeit ihre Richtung vorgibt. Der Grund für seine Existenz lässt sich mit den Mitteln der Physik verstehen.


Die Schwester der Zeit

In der Physik gibt es Größen, an denen sich ablesen lässt, ob ein Vorgang akausal und damit verboten ist - oder ob er erlaubt und natürlich ist. Die dafür zuständige Disziplin ist die Wärmelehre oder Thermodynamik, in der die Physiker Naturgesetze gefunden haben. Eines davon, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, besagt, dass eine Größe namens Entropie, die ein physikalisches System beschreibt, entweder gleich bleibt oder zunimmt - aber sie kann niemals abnehmen! Was beschreibt aber nun diese rätselhafte Größe Entropie, und wie können wir sie anschaulich verstehen?

Stellen Sie sich vor, Sie sind glücklicher Besitzer einer Packung mit Legosteinen. Sie haben die Packung gerade geöffnet, und die Legosteine liegen verstreut am Boden. Davon machen Sie ein Foto und betiteln es mit »Makrozustand 1«. Jetzt mischen Sie einmal kräftig die verstreuten Steine mit der Hand durch. Sie machen wieder ein Foto und nennen es »Makrozustand 2«. Vergleichen Sie die Fotos von »Makrozustand 1« und »Makrozustand 2«, wird es Ihnen schwerfallen, einen Unterschied festzustellen (siehe Bild S.40 der Druckausgabe).

Wir könnten diese Betrachtung mit dem Begriff der Ordnung, vielmehr Unordnung, verbinden. Beide Makrozustände weisen nur ein geringes Maß an Ordnung auf - oder anders gesagt: Die Unordnung ist sehr hoch. Der Physiker bringt diesen Befund in Zusammenhang mit der Entropie und sagt: »Die Entropie ist sehr hoch.« Nehmen wir weiterhin an, dass Sie nun die Bausteine zu einem konkreten, möglicherweise sehr ansehnlichen Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Damit bringen Sie Ordnung in das System und kombinieren die Legosteine auf eine eventuell sogar einzigartige Weise. Das Maß an Ordnung des Kunstwerks, beispielsweise ein Haus aus Lego, ist sehr hoch. Dementsprechend ist das Maß an Unordnung äußerst gering, und der Physiker sagt: »Die Entropie ist sehr klein.«

Nun schlagen wir den Bogen zum rückwärts laufenden Film. Haben Sie schon einmal gesehen, dass sich Legosteine von selbst zu einem Kunstwerk zusammensetzen? Sicher nicht. Aber lassen Sie einmal ein Lego-Haus aus einem Meter Höhe auf den Boden fallen, dann zerlegt es sich auf natürliche Weise von selbst. Kinder sind von diesem Vorgang so sehr fasziniert, dass sie das Experiment häufig wiederholen. Drücken wir das Ganze mit dem Begriff der Entropie aus, so müssen wir feststellen, dass sich die Entropie natürlicherweise erhöht, aber die Entropie wird sich nicht ohne Weiteres in der Natur von selbst verringern.

Wir haben nun mit Hilfe eines ganz anschaulichen Beispiels den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in der Praxis betrachtet. In voller Schönheit heißt dieses Gesetz: »Die Entropie kann in einem geschlossenen System gleich bleiben oder zunehmen, aber niemals abnehmen«. In dem großen geschlossenen System, in dem wir leben, im Universum, nimmt die Unordnung also ständig zu. Das ist genauso ein Naturgesetz wie »Alle Gegenstände fallen auf der Erde nach unten«. Mit der Entropie haben die Physiker eine wunderbare Größe entdeckt, die mit der Richtung der Zeit zusammenhängt! Die Entropie nimmt mit der Zeit zu; in der Vergangenheit war also die Entropie eines geschlossenen Systems geringer. Dieser Sachverhalt wird auch als »thermodynamischer Zeitpfeil« bezeichnet, denn mit Hilfe der thermodynamischen Größe Entropie lässt sich wunderbar das Verstreichen von Zeit messen; sie ist gewissermaßen die »Schwester der Zeit«.


Der kosmologische Zeitpfeil

Wenn wir uns dem Universum zuwenden, können wir viel über die Zeit lernen. Zunächst müssen wir feststellen, dass schon der Blick in den Spiegel eine Zeitreise in die Vergangenheit darstellt. Sie glauben das nicht? Das geht so: Licht ist der Informationsträger, der uns von den Gegenständen, die wir betrachten, erreicht und über die Augen in unser Gehirn gelangt, wo wir das Gesehene verarbeiten. Licht ist jedoch nicht unendlich schnell, sondern benötigt Zeit, um sich auszubreiten. Die Lichtgeschwindigkeit beträgt im Vakuum rund eine Milliarde Kilometer pro Stunde. Innerhalb einer Sekunde legt ein Lichtstrahl rund 300.000 Kilometer zurück. Wenn wir also morgens im Bad unser Spiegelbild bewundern, war das Licht vom Objekt unseres Entzückens bis zum Auge schon wenige Nanosekunden unterwegs. Demnach sehen wir uns nicht, wie wir gerade sind, sondern wie wir vor wenigen Nanosekunden waren.

In der Astronomie arten derartige Zeitreisen aus, denn das Licht muss einen viel längeren Weg vom beobachteten Gegenstand bis zu uns zurücklegen. Betrachten wir den Mond, so war das Licht schon rund eine Sekunde von der Mondoberfläche bis zum Auge unterwegs; bei der Sonne sind es schon rund acht Minuten, und das von einem typischen Stern in der Milchstraße ausgesandte Licht benötigt schon einige 100 bis 1000 Jahre. Im Extremfall erreicht uns das Licht aus einer Zeit, in der es unser Sonnensystem noch nicht gab, nämlich dann, wenn es von einer Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie stammt. Was geschieht unterwegs mit diesem Licht, und was können wir daraus über die Zeit lernen?

Die moderne Kosmologie lehrt uns, dass die Entwicklung des Universums vor 13,7 Milliarden Jahren im Urknall, einem unvorstellbar heißen und dichten Zustand, begann (siehe SuW 4/2012, S. 44). Seither dehnt es sich aus. Innerhalb von Sekundenbruchteilen bildeten sich die vier Grundkräfte, und nach rund 400.000 Jahren wurde der Kosmos für sichtbares Licht durchlässig. Nach einigen hundert Millionen Jahren entstanden die ersten Sterne.

Die Entropie eines Systems kann nur zunehmen. Auf diese Weise definiert sie einen »thermodynamischen Zeitpfeil«.

In einigen Entwicklungsphasen verlief die Expansion des Universums sogar beschleunigt. Auch heute expandiert der Raum beschleunigt, so dass die mittleren Entfernungen zwischen den Galaxien und Galaxienhaufen immer schneller zunehmen. Nach allem, was wir wissen, wird sich die beschleunigte Expansion fortsetzen. Dies belegen astronomische Beobachtungen entfernter Himmelsobjekte und Einsteins Relativitätstheorie, welche die kosmische Dynamik korrekt beschreibt.

Bei der Ausdehnung vergrößern sich nicht nur die mittleren Abstände zwischen den Galaxien, sondern selbst Lichtwellen werden auseinander gezogen: Die Wellen von blauem, kurzwelligem Licht, das im frühen Universum vorhanden war, werden durch die Expansion des Universum gedehnt und erscheinen dann als rotes, langwelliges Licht. Diesen Vorgang bezeichnen die Astronomen passenderweise als kosmologische Rotverschiebung.

Dieses Phänomen kann ein Beobachter auch anders ablesen: Zu einer Lichtwelle gehört eine Farbe oder Energie, der eine Temperatur entspricht. Während das Licht durch die kosmische Expansion röter wird, nimmt seine Strahlungstemperatur entsprechend ab. Die kosmische Hintergrundstrahlung, die in unserem lokalen Universum eine Strahlungstemperatur von rund 3 Kelvin (rund - 270 Grad Celsius) aufweist, war zum Zeitpunkt ihrer Aussendung, 380.000 Jahre nach dem Urknall, viel heißer: rund 3000 Grad Celsius.

Da die kosmische Ausdehnung direkt der zeitlichen Entwicklung folgt, lässt sie sich als Indikator für eine »kosmische Zeit« betrachten. Die Ausdehnung vergrößert den mittleren Abstand von Galaxienhaufen und ebenso die mittlere Wellenlänge der Hintergrundstrahlung. Sie verringert hingegen deren mittlere Strahlungstemperatur. Diese Erscheinungen legen den kosmologischen Zeitpfeil fest, also eine Richtung der kosmischen Zeit. In seinen frühen Epochen war das Universum kleiner, heißer und von kurzwelligerer Strahlung angefüllt.


Es gibt kein Zurück

Als erstes Fazit halten wir fest, dass wir die Zeit als etwas Unbeeinflussbares erleben: Sie verstreicht einfach - ob wir es wollen oder nicht. Mit Hilfe natürlicher und künstlicher Uhren kultivieren wir ein »Zeitgefühl«, das sich in alltäglichen Begriffen wie Sekunde, Minute, Stunde, Tag, Monat und Jahr manifestiert. Dass die Zeit nur eine Richtung kennt, lässt sich mikrophysikalisch mit den Gesetzen der Thermodynamik begründen und makrophysikalisch an der Entwicklung des gesamten Universums ablesen.

Beim Verständnis der Natur der Zeit sind wir indes noch nicht sehr weit gekommen, denn in unseren bisherigen Betrachtungen ist ihr Wesen absolut. Diese Feststellung werden wir auf der Grundlage der modernen Physik der vergangenen hundert Jahre revidieren müssen, was der zweite Teil dieses Beitrags erörtern wird.


Andreas Müller ist Astrophysiker am Exzellenzcluster Universe der TU München.
Für sein Engagement in der Schulastronomie erhielt er den Johannes-Kepler-Preis 2012 der MNU. Sein neues Buch »Raum und Zeit« erscheint im Herbst 2012 bei Springer Spektrum.


Thema »Zeit«

Teil 1: Von kosmischen Zyklen zum kosmologischen Zeitpfeil / November 2012
Teil 2: Zeit, Raum und Raumzeit / Dezember 2012

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w i s - wissenschaft in die schulen

Didaktische Materialien zu diesem Beitrag

Was ist WIS?
Unser Projekt »Wissenschaft in die Schulen!« wendet sich an Lehrerinnen und Lehrer, die ihren naturwissenschaftlichen Unterricht mit aktuellen und praktischen Bezügen anschaulich und abwechslungsreich gestalten wollen - und an Schülerinnen und Schüler, die sich für Vorgänge in der Natur begeistern und ein tieferes Verständnis des Universums gewinnen möchten.

Um diese Brücke von der Wissenschaft in die Schulen zu schlagen, stellt WIS didaktische Materialien als PDF-Dokumente zur Verfügung (kostenloser Download von unserer Internetseite www.wissenschaft-schulen.de).

WiS in Sterne und Weltraum

Zum Beitrag »Was ist Zeit?, Teil 1« auf S. 36 stehen drei WiS-Materialien zur Verfügung:

»Uhr und Kalender am Himmel«: Jeder weiß oder meint zu wissen, wie lang ein Tag, ein Monat oder ein Jahr ist. Häufig hält dieses Schein- und Halbwissen einer genaueren Überprüfung nicht stand. Der Beitrag macht sich auf die Suche nach Uhr und Kalender am Himmel und zeigt auf, wie sich das Wissen um die zeitlichen Zyklen im Rahmen des Unterrichts vertiefen lässt.
(ID-Nummer: 1128717)

Das WiS-Material »Die Zeit - Widerspiegelung himmlischer Periodizität« behandelt die Veränderungen der Erdrotation und wendet die Physik des starren Erdkörpers an. Das Projekt »Jupitermonduhr« ermöglicht eigene Beobachtungserfahrungen, Einblicke in die Wissenschaftsgeschichte und könnte eine Vorübung zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit sein.
(ID-Nummer: 1051530)

»Blick ins Tagebuch eines pulsierenden Sterns« untersucht im Rahmen einer Praktikumsarbeit den zeitlichen Verlauf eines pulstionsveränderlichen Sterns. Das Beobachtungsobjekt ist der veränderliche Stern R Cas im Sternbild Kassiopeia. Es wird anhand von Originaldaten betrachtet.
(ID-Nummer: 1051482)

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S.37:
Wiederkehrende kosmische Phänomene, wie die Lichtphasen des Mondes und die wechselnden Jahreszeiten, prägen unsere Wahrnehmung von Zeit. Zudem ist ein Blick zum Himmel eine Rückschau in die Vergangenheit. In diesem Foto vom 16. Oktober 2009 sehen wir den Mond so, wie er rund eine Sekunde vor der Aufnahme aussah, bei Merkur sind es zehn Minuten, bei Saturn eineinhalb Stunden.

Abb. S.38 oben:
Beim mechanischen Pendel hängt eine Masse an einem Faden und schwingt periodisch hin und her. Die Dauer einer Schwingung vom Umkehrpunkt 1 zum Umkehrpunkt 2 und zurück definiert die Schwingungsperiode. Sie ist unabhängig von der Stärke der Auslenkung. Ein solches mechanisches System wird in Pendeluhren zur Zeitmessung genutzt.

Abb. S.38 unten:
Die Erdachse ist zur Bahnebene, in der die Erde um die Sonne kreist, um 23,5 Grad geneigt. Dadurch können Sonnenstrahlen die Erdoberfläche zeitweise auf der Nordhalbkugel und ein halbes Jahr später auf der Südhalbkugel beinahe senkrecht auftreffen. Dort, wo dies geschieht, ist Sommer, auf der gegenüberliegenden Halbkugel ist dann Winter.

Abb. S.40:
Die beiden Makrozustände unterscheiden sich nur durch die Anordnung der Elemente. Die Unordnung, beschrieben durch die Entropie, ist jeweils sehr hoch. In geschlossenen Systemen kann die Entropie nur zunehmen - die Ursache des Zeitpfeils.

Abb. S.42:
Nach dem Urknall bildeten sich Elementarteilchen, Kräfte und leichte Atomkerne. Nach 400.000 Jahren, als neutrale Atome entstanden waren, konnte sich die Wärmestrahlung des kosmischen Urgases ungehindert im Kosmos ausbreiten. Aus dem Wasserstoff- und Heliumgas bildeten sich die Vorläufer der uns bekannten Sterne und Galaxien.

© 2012 Andreas Müller, Spektrum der Wissenschaft
Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 11/12 - November 2012, Seite 36 - 42
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528 150, Fax: 06221/528 377
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de
 
Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2013