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FRAGEN/001: Der Mann, der in die Kälte ging - Gespräch mit Wolfgang Ketterle (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 11/09 - November 2009

Der Mann, der in die Kälte ging

Ein Gespräch mit dem Physiker Wolfgang Ketterle: über zerlegte Radios, Stabhochsprung, den absoluten Nullpunkt - sowie den Wissenschaftskrimi, für den der Heidelberger zusammen mit zwei Kollegen 2001 den Nobelpreis für Physik erhielt.

Von Hubertus Breuer


Wolfgang Ketterle ist viel beschäftigt. Der in Heidelberg aufgewachsene, heute in Boston lebende Physik-Nobelpreisträger leitet am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) drei Labors. Er hält Vorlesungen und Vorträge, gibt Seminare, jettet zu internationalen Konferenzen, nimmt regelmäßig Ehrungen entgegen und muss zudem Drittmittel für seine Forschung eintreiben. Kurz, seine Zeit ist knapp. Doch vor dem Gespräch für unser Porträt musste Ketterle, 52, erst geduldig einiges über sich ergehen lassen.

In dem großzügigen Büro mit Blick auf etwas Grün zwischen den MIT-Gebäuden beginnt der Interviewer von der Viele-Welten-Theorie des 2001 verstorbenen Princetoner Philosophen David Lewis zu reden. Dieser hielt alles, was logisch möglich ist, auch für real - nur nicht hier, sondern in anderen Universen im logischen Möglichkeitsraum. Das ist wohl zu viel: Ketterle schlägt die Hände zusammen - solche Probleme erscheinen ihm dann doch etwas zu philosophisch. Da besinnt sich der Reporter wieder seines Auftrags. Inzwischen hat der Fotograf Mark Ostow das Fotografieren eingestellt. Und verwickelt Ketterle unversehens in einen Disput über seine Überzeugung, dass Digitalfotografie doch mehr Tiefenschärfe erlaube als Filmfotografie. Der in Optik recht bewanderte Ketterle erklärt darauf geduldig, warum er das nun gar nicht glaube. Was im Grund auf die Einsicht hinausläuft, dass ein Objektiv ein Objektiv ist. Der Fotograf gibt sich schließlich geschlagen, greift wieder zu seiner Kamera und schießt weiter Bilder. Erst jetzt kann Ketterle damit beginnen, wofür er sich den Nachmittag frei gehalten hat: von seinem Lebensweg zu berichten sowie von seiner Faszination für kalte Atome. Vor allem vom Rennen um das so genannte Bose-Einstein-Kondensat Anfang der 1990er Jahre. Das ist ein Zustand der Materie am absoluten Temperaturnullpunkt, wo fast jede Energie aus den Atomen entwichen ist und sie plötzlich alle wie auf Befehl im Gleichtakt schwingen. Das sei »Quantenmechanik sichtbar gemacht«, meint Wolfgang Ketterle. Aber auch von Designermaterie spricht der Physiker, die nicht nur helfe, neue Materialien entwickeln, sondern auch, Phänomene wie Hochtemperatursupraleitung und Magnetismus zu verstehen.


Spektrum der Wissenschaft: Professor Ketterle, Sie sprechen im Zusammenhang mit Wissenschaft oft von Schönheit. Was hat es damit auf sich?

Prof. Dr. Wolfgang Ketterle: Natur ist schön. Wenn wir in der Natur Details sehen, bedeutet das Wahrnehmung von Schönheit. Wenn Schnee fällt, und man betrachtet die Schneekristalle unter einem Mikroskop, sieht man wunderschöne Kristallstrukturen. Wenn man Natur erforscht, begegnet einem Schönheit auf Schritt und Tritt.

Spektrum: Was ist das Wesen der Schönheit?

Ketterle: Einfachheit, Eleganz, Klarheit - etwas, was uns erfreut. Manchmal kann ich es selbst kaum glauben, wie gut sich mikroskopische Vorgänge in der Natur beschreiben lassen - und dass man in einfachen Bildern vermitteln kann, was im Innersten der Natur vor sich geht. Das ist nicht nur wichtig für die Naturwissenschaften; es ist eine kulturelle Errungenschaft - ähnlich wie die Werke von Mozart oder Goethe.

Spektrum: Das Bose-Einstein-Kondensat (siehe Lexikon II), für dessen Mitentdeckung Sie 2001 den Nobelpreis erhielten, ist in Ihren Augen also ebenfalls schön?

Ketterle: Natürlich. Ein Bose-Einstein-Kondensat ist wie ein Schneekristall, der sich erst bei sehr tiefen Temperaturen bildet. Stellen Sie sich vor, die ganze Erde wäre eine heiße Wüste, niemand würde Schnee oder Eis kennen. Jetzt baut ein Wissenschaftler einen Kühlschrank und stellt Wasser hinein. Nach einiger Zeit sieht der Mann das erste Mal Schnee und Eis. In meiner Forschung, in der ich zu noch weit tieferen Temperaturen, fast bis zum absoluten Nullpunkt, vorgedrungen bin, ist es ähnlich. Ich habe zweifellos Schönes entdeckt.

Spektrum: Beim Bose-Einstein-Kondensat sieht man in den Vakuumkammern eher eine Gaswolke, die sich mit einem Detektor gerade mal als Schatten wahrnehmen lässt.

Ketterle: Sicher, aber Sie sehen nicht einfach eine Gaswolke mit Schatten. Sie sehen auch, wie der Wellencharakter der Atome mit bloßem Auge erkennbar wird - die Atome beginnen synchron zu schwingen. Das ist Quantenmechanik, die unter die Haut geht, jedenfalls mir. Es hilft natürlich, etwas von Quantenmechanik zu verstehen.

Spektrum: Ihr Mentor und Kollege, David Pritchard, der Sie 1990 ans MIT holte, attestiert Ihnen einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Geschmack. Hat das etwas mit Schönheit zu tun?

Ketterle: Nein, damit meint er wohl eher das wissenschaftliche Urteilsvermögen. Es ist wichtig, ein Gefühl dafür zu haben: Was ist in der Wissenschaft wichtig und was nicht? Wenn die Studien- und Lehrjahre eines Wissenschaftlers vorbei sind und man eine Arbeitsgruppe leitet, geht es um die Frage: Welche Themen sind wichtig? Wo ist Musik drin? Mehr noch: Unter exzellenten Projektideen muss man gute von sehr guten von unterscheiden können.

Spektrum: Als Sie als Kind angefangen haben, die Welt zu entdecken, lag die Messlatte aber noch nicht so hoch.

Ketterle: Am Anfang stand bei mir die Freude am Entdecken und Basteln. Ich habe alte Radios auseinandergenommen. Bei zwei Tonbandgeräten habe ich einmal den Verstärker des einen auf den Tonkopf des anderen gelegt. So konnte ich das Monogerät für Stereoaufnahmen nützen. Ich habe damals auch Bücher über Elektronik gelesen. Aber es hat mich frustriert, dass die Erklärungen so oberflächlich waren. Heute, wenn mein Sohn mir eine technische Frage stellt, kann ich sie ihm genau beantworten.

Spektrum: Mathematik und Physik fielen Ihnen als Schüler leicht. Sie haben sich aber auch um andere Fächer bemüht, etwa Deutsch oder Biologie, und sich im Sport stark engagiert. Das klingt nach Ehrgeiz.

Ketterle: Ja, ich war ehrgeizig. Im Sportklub der Universität Heidelberg konnte man alle möglichen Disziplinen trainieren. Am besten war ich als Läufer auf der Langstrecke - das mache ich heute noch. Auch an Stabhochsprungwettbewerben habe ich teilgenommen. Allerdings bin ich über die Landesebene nicht hinausgekommen.

Spektrum: Kam über die frühen Erfolge das Selbstbewusstsein, das Ihnen in späteren Jahren geholfen hat?

Ketterle: Ja, vielleicht. Aber ich würde sogar sagen, dass ich mich noch mehr an Momente erinnere, in denen ich eher zu wenig Selbstbewusstsein hatte.

Spektrum: Zum Beispiel?

Ketterle: Als ich nach meinem Grundstudium der Physik in Heidelberg nach München gewechselt bin, war mir nicht klar, in welches Gebiet ich mich vertiefen sollte. Ich wusste nur, dass die Physik in München gut ist. Ein Freund dagegen war schon viel weiter: Er wollte mit einem der führenden Theoretiker über Plasmaphysik arbeiten. Diese Selbstsicherheit hat mich verunsichert, da mir das fehlte. Mein Freund hat aber übrigens später nie über Plasmaphysik gearbeitet - und ich habe auch meinen Weg gefunden.

Spektrum: Wie haben Sie Ihre Forschungsschwerpunkte denn ausgewählt? Ihre Diplomarbeit schrieben Sie in theoretischer Physik, aber als Doktorarbeit übernahmen Sie ein experimentelles Thema. Ahnten Sie in sich schon den talentierten Experimentalphysiker?

Ketterle: Nein, das war eher der richtige Schritt aus einem falschen Grund.

Spektrum: Wie bitte?

Ketterle: Als ich 1982 mein Diplom machte, war ich 24. Da habe ich mich viel mit sozialen Problemen und der Dritten Welt beschäftigt. Ein Jahr vor meiner Diplomarbeit bin ich nach Süd- und Mittelamerika gereist. Das hat mir die Augen für soziale Probleme geöffnet. Mit der Theorie allein, fürchtete ich damals, könnte ich im Elfenbeinturm landen. Ich wollte einen stärkeren Realitätsbezug. So bin ich zur experimentellen Atomphysik gekommen.

Spektrum: Und was war der falsche Grund?

Ketterle: Ich arbeite heute wieder ganz nah am Thema meiner Diplomarbeit, Vielteilchenphysik. Die beschreibt, wie viele Atome oder Elektronen die Eigenschaften von Gasen oder Festkörpern bestimmen. Wenn Atome sehr kalt werden, verändert sich die Wechselwirkung der Teilchen untereinander. Auf Konferenzen treffe ich heute Leute, die ich schon während meiner Diplomarbeit kannte und dann zehn Jahre nicht gesehen habe. Ich wollte mein Gebiet wechseln aus Angst vor dem Elfenbeinturm - jetzt bin ich sozusagen wieder dort. Aber ich heute denke anders über die Bedeutung von Grundlagenforschung.

Spektrum: Ihre Doktorarbeit war also experimentell?

Ketterle: Ja. Am Max-Planck-Institut für Quantenoptik begann ich bei Professor Herbert Walther eine Arbeit über die Spurenanalyse in Halbleitermaterialien.

Spektrum: Das Thema haben Sie offenbar bald wieder fallen lassen.

Ketterle: Nach einem Jahr wurde klar, dass es sich so nicht realisieren ließ. Das Thema hätte man nur mit einer ganzen Arbeitsgruppe angehen können. Das war mir eine Lehre - man sollte wissen, wann man sich von einem Projekt verabschieden muss.

Spektrum: Aber Ihre Promotionsarbeit wurde dennoch ein Erfolg.

Ketterle: Richtig. Ich habe im selben Labor über Fragen der Molekülphysik promoviert. Dort wurde plötzlich ein Doktorand gebraucht, um Spektroskopie am dreiatomigen Wasserstoff zu betreiben. Ich war von diesem Thema nicht spontan begeistert. Aber weil ich nicht das Labor wechseln und ganz von vorne anfangen wollte, habe ich es akzeptiert. Ich habe mich dann voll auf die Molekülphysik konzentriert und war damit erfolgreich.

Spektrum: Experimentalphysik ist doch Ihr großes Talent?

Ketterle: Das habe ich erst bei dieser Gelegenheit entdeckt. Ich konnte zum Beispiel die Intensität des Molekülstrahls in kurzer Zeit deutlich steigern. Mein Betreuer hat damals gedacht: je größer eine bestimme Linse, desto besser. Und ich habe schnell gezeigt, dass die Linse starke Linsenfehler hatte, dass nur ein winziger Teil in der Linsenmitte genutzt wird. So habe ich schnell viele kleine Sachen verbessert, und es ging gut voran.

Spektrum: Es war aber nicht nur der dreiatomige Wasserstoff, mit dem Sie Erfolg hatten.

Ketterle: Ich las Berichte aus Kanada über Argonhydrid, also eine Verbindung aus dem Edelgas Argon und Wasserstoff. Die brachten mich auf die Idee, nach dem Heliumhydridmolekül zu suchen, also mit Helium an Stelle von Argon. Darüber war so gut wie nichts bekannt. Ich habe dann Helium und Wasserstoff in die Maschine eingefüllt, um dieses Gas zu erzeugen. Ich weiß noch, wie aufregend das war - ich drehe am Spektrografen, schaue im Roten, Grünen, Gelben, Blauen, überall Licht, Licht, Licht!
Das Molekül sendete es aus. Es war sein Fingerabdruck, den niemand zuvor je so gesehen hatte. Das war gegen Ende meiner Doktorarbeit. Die Spektren zeigten eine ungewöhnliche Struktur mit vielen Störungen, aber ich konnte sie nach vielen Versuchen schlüssig interpretieren und hatte damit ein tolles Ergebnis. Fünf Publikationen gab das. Die Arbeiten sind nicht viel zitiert, es sind auch nicht meine wichtigsten. Aber das war vielleicht die größte Nuss, die ich je geknackt habe.

Spektrum: Verließen Sie die Grundlagenforschung danach als Reaktion auf die - in Ihren Augen - geringe Bedeutung des Moleküls?

Ketterle: Kleine Moleküle bewegen nicht die Welt, das habe ich damals wie heute so gesehen. Ich habe ja auch keine neuen Prinzipien der Molekularphysik entdeckt. Ich stand an einer Weggabelung und habe mich letztlich nach einem relevanten angewandten Projekt umgesehen. Und das habe ich bei der Verbrennungsforschung bei Jürgen Wolfrum an der Universität Heidelberg gefunden. Die eineinhalb Jahre dort waren für mich prägend. Das hat mein Selbstvertrauen gestärkt.

Spektrum: Das hatten Sie doch schon ...

Ketterle: Ich habe an der Laserdiagnostik für Verbrennung gearbeitet. Von Lasern verstand ich etwas, aber von Flammen und Chemie hatte ich keine Ahnung. Deshalb erwartete ich, ich müsste erst einmal ein Jahr lang vor allem Neues lernen. Aber es kam anders. Ich war schnell produktiv und bekam die Federführung für ein großes Projekt. Da erkannte ich, dass ich als Wissenschaftler keine Angst haben sollte, etwas Neues zu beginnen. Wenn ich mich in etwas hineinkniete, würde ich auch bald Erfolge haben. Und mir wurde bewusst, dass ich Anstöße in angewandter Forschung geben konnte, gerade weil ich aus der Grundlagenforschung kam.

Spektrum: Dieses Selbstvertrauen motivierte Sie offenbar, sich bei Arbeitsgruppen zu bewerben, die über kalte Atome arbeiten. Aber wollten Sie nicht eigentlich die Welt retten?

Ketterle: Trotz aller Probleme in der Welt brauchen wir gute Grundlagenforschung. Sie kann helfen, die Probleme der Zukunft zu meistern. Zum Glück leben wir in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, und jeder sollte versuchen, die Aufgaben zu finden, die ihn begeistern und für die er talentiert ist. Natürlich hat man es einfacher, wenn man an sauberer Kraftstoffverbrennung mit Laserlicht arbeitet. Das lässt sich Laien leichter erklären, als wenn man mit kleinen, ganz kalten Gaswolken arbeitet.

Spektrum: Und warum ausgerechnet kalte Atome?

Ketterle: Ich fand kalte Atome faszinierend. Ich wollte auch das Gebiet nicht radikal wechseln, also etwa in die Astronomie oder Teilchenphysik einsteigen, sondern meine Erfahrungen mit Lasern und Spektroskopie einbringen. Trotzdem war es nicht ohne Risiko. 1990 war ich 32 Jahre alt, ich suchte mir bereits meine dritte Postdoc-Stelle - zudem in Amerika, einem Land, das ich noch nicht kannte, ohne Garantie, in Deutschland auf eine Stelle zurückkehren zu können.

Spektrum: Hat es Sie nicht überrascht, dass der große MIT-Professor David Pritchard Ihnen eine volle Postdoc-Stelle anbot, obwohl Sie sich auf dem Gebiet der kalten Atome kaum auskannten?

Ketterle: Das müssten Sie ihn wohl selbst fragen. Pritchard sucht sich Leute nicht nur nach ihrem Vorwissen aus, sondern nach wissenschaftlicher Qualität. Es hat aber geholfen, dass Pritchard früher selbst Molekülphysiker war. Und obwohl ich bis dahin nie direkt Atomphysik betrieben hatte, wurde ich an einem Max-Planck-Institut promoviert, das sich hauptsächlich mit diesem Gebiet beschäftigt.

Spektrum: War das Bose-Einstein-Kondensat damals bereits ein Thema?

Ketterle: Nein. Die Bose-Einstein-Kondensation galt eher als ein unrealistisches Fernziel. Aber mir war damals schon klar, dass es auf Grund der Laserkühlung von Atomen, für die es dann 1997 einen Nobelpreis gab, auf diesem Gebiet noch viel spannende Forschung geben würde.

Spektrum: Was genau sollten Sie am MIT denn machen?

Ketterle: Das Thema, das Pritchard mir anbot, war, aus kalten Atomen neuartige Moleküle zu formen.

Spektrum: Als Sie ankamen - was war Ihr erster Eindruck?

Ketterle: Es war unglaublich. David Pritchard hatte auf jede Frage eine Antwort. Wenn jemand während einer Gruppenbesprechung vorschlug, man könne doch dieses oder jenes Verfahren nutzen, ging Pritchard an die Tafel und hat jede Zahl, etwa zum Natriumatom, in Gleichungen eingesetzt und eine Vorhersage gemacht. Mir ist nur der Mund offen gestanden. Diese Detailkenntnis, diese geistige Flexibilität, Probleme von verschiedensten Seiten anzudenken, das hat mich total beeindruckt. Ich muss noch viel dazulernen.

Spektrum: Wie macht man das im Schnellverfahren?

Ketterle: Ich habe intensiv Publikationen gelesen und mir ein Notizbuch angelegt, in dem ich alle Formeln und Eigenschaften so aufgeschrieben habe, dass ich in einer Diskussion rasch auf sie zurückgreifen konnte. So ist es mir nach ein paar Monaten gelungen, mit Pritchard einigermaßen auf Augenhöhe zu diskutieren. Ich hatte aber auch den Vorteil, dass ich mich auf ein Projekt konzentrieren konnte, während Pritchard mit vielen anderen Dingen gleichzeitig beschäftigt war.

Spektrum: Was war damals der Rekord bei tiefen Temperaturen?

Ketterle: Der lag bei einigen Nanokelvin, wenige milliardstel Grad vom absoluten Nullpunkt entfernt, also von minus 273,15 Grad Celsius. Er war mit Laserkühlung, jedoch nicht bei so hohen Dichten der Gaswolke erreicht worden. Für das Bose-Einstein-Kondensat ist aber auch eine hohe Dichte sehr wichtig, nicht nur die Temperatur. Doch dabei funktioniert Laserkühlung nicht, da die Laserstrahlen von den Gasatomen verschluckt werden. Nach einer Konferenz 1991 in Varenna begann ich, mich ganz diesem Thema zu widmen.

Spektrum: Waren da Ihre Kollegen aus Boulder dabei, Carl Wieman und Eric Cornell, mit denen Sie 2001 gemeinsam den Nobelpreis erhielten?

Ketterle: Ja. Wir diskutierten, wie man mit lasergekühlten Atomen zum Bose-Einstein-Kondensat kommen könnte. Es war uns aber nicht klar, auf welchem Weg. Ein Schlüsselerlebnis war für mich ein freier Nachmittag, an dem David Pritchard und ich auf einer Wiese saßen und über die großen Ziele redeten. Wir sprachen über die Grenzen der Laserkühlung und über Ideen, wie man sie vielleicht verbessern konnte. Monate später hatte ich den Einfall, man könnte das Zentrum der in der Falle gefangenen Atome durch eine Veränderung ihres Grundzustands verdunkeln, so dass sie für das Laserlicht im Grund unsichtbar werden.

Spektrum: Und das hat geklappt?

Ketterle: Ja, auf spektakuläre Weise. Es war ein Erlebnis, im Labor plötzlich pechschwarze Schatten zu sehen. So stark absorbierende kalte Atomwolken hatte bis dahin noch niemand gesehen. Dieser Erfolg hat mir - ich war schließlich noch Postdoc - mehrere Stellenangebote eingebracht; darunter, Assistenzprofessor am MIT zu werden. Bevor wir jedoch die Ergebnisse publizierten, gab es fieberhafte Diskussionen. Pritchard hatte exzellente Ideen, wie man aus den kalten Atomen kalte Moleküle machen konnte - Wege, auf denen später andere Gruppen erfolgreich waren.
Ich wollte lieber die dichten Atomwolken zur Verdampfungskühlung bringen, ein Verfahren, bei dem die energiereichsten Atome die Atomfalle verlassen und die zurückgebliebenen Atome immer kälter werden. Pritchard hielt das für eher spekulativ. Die jungen Doktoranden, die mit mir arbeiteten, waren dagegen von der Herausforderung begeistert. Schließlich war auch Pritchard einverstanden. Noch bevor wir die Publikation fertig hatten, bestellten wir schon die Geräte, um unsere Maschine in Richtung Verdampfungskühlung aufzurüsten.

Spektrum: War das der Startschuss für das Rennen um das Bose-Einstein-Kondensat?

Ketterle: In gewisser Weise ja. Aber wir waren zurückhaltend. Ich habe damals jedenfalls keine Vorträge mit dem Titel »Von der Laserkühlung zum Bose-Einstein-Kondensat« gehalten. Es ging erst einmal darum, die Verdampfungskühlung zu demonstrieren. Und erst als ideales Endziel danach stand das Bose-Einstein-Kondensat. Ehrlich gesagt, ich glaubte gar nicht, dass wir es in naher Zukunft schaffen könnten. Meine MIT-Kollegen, Tom Greytak und Daniel Kleppner, arbeiteten schon seit 15 Jahren daran, das Bose-Einstein-Kondensat mit Wasserstoffatomen zu erreichen. Aber trotzdem waren sie immer noch einen Faktor drei vom Ziel entfernt. Es sah so aus, dass, je näher man kommt, es umso schwerer wird. Ich hielt es für möglich, dass mich dieses Ziel vielleicht meine ganze berufliche Laufbahn beschäftigen könnte, ohne es jemals zu erreichen.

Spektrum: Wann kam der Durchbruch?

Ketterle: Ende 1994 gelang es uns das erste Mal, Verdampfungskühlung mit Laserkühlung zu kombinieren. Wir konnten aber dann die Atome nicht mehr sehen, die Wolken waren zu klein, und wir mussten eine neue Diagnostik entwickeln. Noch im Mai 1995 dachte ich, dass wir viel Arbeit vor uns hätten. In diese Phase platzte Anfang Juni die Nachricht, dass in Boulder das erste Bose-Einstein-Kondensat hergestellt worden ist.

Spektrum: Das haben Sie von Ihrem Kollegen Daniel Kleppner erfahren.

Ketterle: Ja, Kleppner hat es mir gesagt. Er erhielt einen Anruf aus Boulder, und dann hat er auch mir gleich davon berichtet.

Spektrum: Haben Sie mit Carl Wieman und Eric Cornell gesprochen?

Ketterle: Erst später, auf Konferenzen.

Spektrum: Vermutlich waren Sie frustriert.

Ketterle: Ja, denn stellen Sie sich vor: Da hat man jahrelang alles auf ein Ziel gesetzt, und da erreicht das eine andere Gruppe zuerst. Ich sah unsere Felle davonschwimmen. Fast zwei Jahre lang hatte ich nichts publiziert. Und es war klar, die ganze Welt würde jetzt die Cornell-Wieman-Methode kopieren. Alle sprachen nur über diese Gruppe in Boulder. Aber wer deren härtester Konkurrent war, davon war kaum die Rede. Ich schlafe normalerweise sehr gut, aber es gab da doch Nächte, in denen ich wach lag und mich gefragt habe: Was mache ich jetzt?

Spektrum: Es gab auch noch die Gruppe an der Rice University in Houston, die ebenfalls dem Bose-Einstein-Kondensat hinterherjagte.

Ketterle: Die Rice-Gruppe hat nur indirekte Hinweise gesehen. Sie hat beobachtet, dass, wenn die Wolken kälter und kälter werden und damit immer mehr schrumpfen, ein eigenartiges Beugungsmuster in ihren Bildern auftritt. Die Rice-Kollegen haben das so interpretiert, dass sich ein Bose-Einstein-Kondensat gebildet hat. Später stellte sich heraus, dass Linsenfehler wesentlich zu ihren Beobachtungen beigetragen hatten. Wahrscheinlich hatten sie ein Kondensat hergestellt, aber das konnten sie erst später schlüssig nachweisen. Die Rice-Arbeit war innovativ und wird heute noch viel zitiert.

Spektrum: Das Nobel-Komitee hat sie allerdings ignoriert.

Ketterle: Das Nobel-Komitee musste eine schwierige Wahl treffen. Und es ist manchen Schwierigkeiten aus dem Weg gegangen, indem der Nobelpreis nicht für die erste Beobachtung des Bose-Einstein-Kondensats, sondern für die erste Beobachtung und frühe Erforschung des Bose-Einstein-Kondensats vergeben hat. Mit dieser Formulierung wurde ein Schwerpunkt auch auf die Arbeiten der Jahre 1995 bis 1997 gelegt, und in dieser Zeit haben die Gruppen in Boulder und unsere am MIT klar dominiert.

Spektrum: Nachdem Sie die Nachricht vom Erfolg Cornells und Wiemans erhalten haben, wollten Sie sofort eine neue Atomfalle bauen.

Ketterle: Ja. Unsere Atomfalle brauchte einen Laserstrahl, um ein »Loch« in der magnetischen Falle abzudichten. Ich war mir nicht sicher, ob diese Falle stabil genug war, um ein Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen. Ich wusste, dass es in den nächsten Jahren um die Erforschung der Eigenschaften des Bose-Einstein-Kondensats geht. Und dafür eignete sich eine rein magnetische Falle besser. Die Boulder-Falle war zwar auch sehr gut, doch ich wollte eine noch bessere bauen.

Spektrum: So kam es dann ja nicht.

Ketterle: Nicht gleich jedenfalls. Meine Mitarbeiter meinten, wir sollten mit der alten Versuchsanordnung wenigstens noch einmal probieren, das Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen, oder wenigstens die Resultate unserer Methode, die sich klar von der Wiemans und Cornells unterschied, für eine Publikation dokumentieren. Ich meinte, uns rennt die Zeit davon, aber gegen einen oder zwei Messtage wäre nichts einzuwenden.

Spektrum: Dann kam der frühe Morgen des 30. September ...

Ketterle: ... ja, im Morgengrauen sahen wir das Bose-Einstein-Kondensat. Plötzlich war es da. Und sogleich herrschte eine große, große Freude, nicht zuletzt deshalb, weil das Kondensat hundertmal größer als das von Cornell und Wieman war. Aber in dieser Nacht gab es keine Feier. Wir haben fieberhaft weiter gemessen und Daten aufgezeichnet. Nach nur zwei Messtagen haben wir die Versuchsanordnung auseinandergenommen und uns darangemacht, die neue Falle zu bauen. Das war im Nachhinein vermessen, denn es gelang in den nächsten zwei Jahren keiner weiteren Gruppe, ein Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Konkurrenz viel schneller wäre.

Spektrum: Die Sorge war also unbegründet.

Ketterle: Ja, aber sie motivierte uns zu einer wichtigen Weiterentwicklung. Mir war klar, dass wir eine Atomfalle brauchten, die leichter zu justieren ist, größere Kondensate erzeugt und es einfacher macht, das Kondensat quantitativ zu beschreiben. Meine Idee war zunächst, ovalisierte Spulen zu verwenden. Doch mein Doktorand Dan Kurn hat herausgefunden, dass es mit Magnetspulen in Kleeblattform noch besser geht. Als die Versuchsanordnung nach sechs Monaten stand, haben wir die Spulen optimiert. Und dann sagten wir, eigentlich mehr zum Spaß, drehen wir doch mal an diesem Knopf und schauen, was passiert. Wir sahen ein großes, wunderbares Bose-Einstein-Kondensat, zehnmal größer als unser letztes, absolut rund und symmetrisch. Da wusste ich, wir haben eine robuste Maschine.

Spektrum: Mit dieser Atomfalle waren Sie kaum noch zu halten: Sie haben 1996 bis 1997 alle paar Monate grundlegende Arbeiten publiziert.

Ketterle: Das war der Befreiungsschlag - und wir haben wissenschaftlich richtig abgeräumt. Uns gelangen die ersten störungsfreien Abbildungen des Bose-Einstein-Kondensats. Man konnte genau sehen, wie sich die Atome des Kondensats nicht einzeln, sondern alle zugleich in der Falle bewegten. Dann zeigten wir die so genannte Kohärenz des Kondensats, das heißt, dass alle Teilchen dieselbe quantenmechanische Wellenfunktion haben und eine einzige Materiewelle bilden. Das sind, wie es oft ausgedrückt wird, Atome im Gleichschritt. Es war wirklich eine Lust zu forschen, ein Feuerwerk.

Spektrum: Was ist mit dem Atomlaser?

Ketterle: Laser sind kohärente Lichtstrahlen. Wir konnten zeigen, dass das Kondensat kohärent ist. Es gelang auch, das Kondensat aus der Falle auszukoppeln und durch Gravitation beschleunigt in einen Strahl zu verwandeln. Damit hatten wir die wesentlichen Eigenschaften eines Atomlasers experimentell nachgewiesen.

Spektrum: Dann haben Sie untersucht, wie sich die Entdeckung der Kondensate anwenden ließ - etwa für Messinstrumente.

Ketterle: Wenn man durch Kälte Atome verlangsamt oder fast zum Stillstand bringt, lassen sich diese präziser vermessen als schnelle Atome. Für höchste Präzision lässt man Atomwolken interferieren - damit kann man die Schwerkraft untersuchen oder hochpräzise Uhren bauen. Das wird jedoch bereits mit kalten Atomen im Nano- oder Mikrokelvin-Bereich praktiziert; der zusätzliche Schritt zum Bose-Einstein-Kondensat hat sich dafür bislang noch nicht ausgezahlt.

Spektrum: Sie haben sich sehr für die Simulation der Hochtemperatursupraleitung begeistert, in der Strom ohne Widerstand fließt (siehe Lexikon III).

Ketterle: Ja, das sind ganz neue Möglichkeiten. Atomphysik hat sich über Jahrzehnte mit einzelnen Atomen beschäftigt, vielleicht mit zwei, wenn sie ein Molekül formen. Mit Atomen bei allertiefsten Temperaturen erschloss sich uns eine neue Welt. Wenn man ein so kaltes Gas hat, ist das immer noch sehr dünn - eine Million Mal dünner als Luft. Die langsamen Atome haben aber immer noch genügend Zeit, sich gegenseitig zu beeinflussen. Dadurch können sich die Atome plötzlich wie viel dichtere Materialien verhalten, wie man sie sonst nur in kondensierter Materie findet - bei Metallen, Isolatoren oder Supraflüssigkeiten. Für mich sind kalte Atome wie Legosteine, mit denen wir neuartige Formen der Materie bauen und damit andere Materialien simulieren können.

Spektrum: Erklären Sie doch einmal, wie Sie Hochtemperatursupraleiter mit einem Bose-Einstein-Kondensat simulieren wollen.

Ketterle: Hochtemperatursupraleiter sind komplex - deshalb lassen sich nur einfache Modelle berechnen. Die Theoretiker wissen nicht einmal, ob sie damit reale Materialien näherungsweise beschreiben können. Im Experiment können wir mit dem atomaren Lego immerhin ein konzeptionelles Modell dieser Gebilde mit kalten Atomen nachbauen. Wir verwenden dazu neutrale Atome. Was wir realisieren, ist Suprafluidität, der Zustand, in dem Atome in der Flüssigkeit reibungslos fließen. Suprafluidität ähnelt in vieler Hinsicht der Supraleitung, die nichts anderes ist als die Suprafluidität von geladenen Teilchen. Die kalten Atome füllen sozusagen die Lücke zwischen den mathematischen Modellen und realen komplexen Materialien.

Spektrum: Aber gelungen ist dies für Hochtemperatursupraleitung noch nicht.

Ketterle: Nein. Das kann auch noch zehn Jahre dauern. Wenn es uns gelänge, wäre das für die Forschung ein Riesenschritt vorwärts. Gemeinsam mit meinem früheren Studenten Martin Zwierlein, inzwischen Assistenzprofessor am MIT, konnten wir 2005 immerhin eine andere, mehr konventionelle Form von Hochtemperatursuprafluidität zeigen.

Spektrum: Sie sprechen auch von so genannter Designmaterie. Denken Sie sich hier ganz neuartige Stoffe aus?

Ketterle: Ja, wir bauen Dinge, die es in der Natur nicht gibt.

Spektrum: Können Sie denn alles umsetzen, was Ihnen so einfällt? Macht da die Physik immer mit?

Ketterle: Nein, nein, wir stehen nicht im Atelier vor einer leeren Leinwand. Wir kontrollieren nicht die Natur, sondern die Natur erlaubt uns, mit ihr zu spielen. Wir können nur das realisieren, was mit existierenden Atomen geht. Zudem arbeiten wir in einem Forschungskontext, in dem viele Modelle bereits durch Theorien vorgezeichnet sind. Wir gleichen mehr Ingenieuren, die ein Flugzeug bauen und es im verkleinerten Maßstab im Windtunnel testen - nur mit dem Unterschied, dass wir Materialien vergrößern und nicht verkleinern. Wenn man etwa die Kristallstruktur von Materialien um den Faktor tausend vergrößert, bekommt man ganz neue Möglichkeiten zur Präparation und Beobachtung.

Spektrum: Anderes Thema: Sie sind nie nach Deutschland zurückgekehrt. Warum?

Ketterle: 1997 erhielt ich einen Ruf nach München, ans MPI für Quantenoptik. Das Münchner Umfeld ist sicherlich eines der besten auf der Welt. Meine Absage war eine äußerst knappe und schwere Entscheidung. Am Ende haben dafür persönliche Gründe den Ausschlag gegeben. Am MIT habe ich mich immer sehr wohl gefühlt und das familiäre Umfeld unter meinen Kollegen genossen. Auch mein Arbeitsstil passt sehr gut hierher.

Spektrum: Wie ist denn Ihr Arbeitsstil?

Ketterle: Amerikaner meinen, er sei deutsch, die Deutschen sagen, er sei amerikanisch.

Spektrum: Das heißt?

Ketterle: Aus Deutschland habe ich die Erfahrung mitgebracht, dass man eine gute Infrastruktur braucht, dass man Experimente sehr gut aufbauen muss und dass Arbeitsgruppen gut organisiert sein sollten. Für amerikanische Verhältnisse habe ich eine größere Gruppe - 15 Mitarbeiter, drei Labore, einmal waren es sogar vier. Für eine deutsche Gruppe ist das dagegen eher klein. Amerikanisch ist wohl, dass ich einen hemdsärmligen Stil pflege, meine Tür steht immer offen, man meldet sich nicht bei der Sekretärin an. Wenn ein Mitarbeiter etwas wissen will, kommt er einfach rein.

Spektrum: Wie sehen Sie die Forschungssituation in Deutschland?

Ketterle: Deutschland war und ist ein exzellenter Standort für die Forschung. Mit der Exzellenzinitiative versucht man inzwischen, die Dinge weiterzuentwickeln. Auch hat Deutschland eine ausgezeichnete Ausbildung - einige meiner besten Konkurrenten sitzen dort, einige meiner besten Mitarbeiter sind Deutsche. Im Gegensatz zu Deutschland geben wir in Amerika jungen Wissenschaftlern über eine Assistenzprofessur eine Aussicht auf Festanstellung. Die deutsche Juniorprofessur ohne eine solche Perspektive ist eine Totgeburt. Zum Glück bewegt sich da jetzt aber auch in Deutschland etwas. In Amerika sind die Gruppen internationaler, was in meinen Augen die Kreativität fördert. Die Nase vorne zu haben, bei einem wissenschaftlichen Durchbruch oder gar Nobelpreis, kann von einem Quäntchen abhängen. Das erreichen wir in Amerika durch junge Leute, die unabhängig arbeiten können, und dadurch, dass wir hier Eliteuniversitäten haben, wo sich die besten Leute gegenseitig anspornen.

Spektrum: Apropos: Wann haben Sie denn das letzte Mal nachts im Labor gestanden?

Ketterle: Schon seit Jahren nicht mehr.

Spektrum: Sie sind also Wissenschaftsmanager geworden.

Ketterle: Ja und nein. Ich bin mit der Materie natürlich bestens vertraut und kann meinen Mitarbeitern spezifische Ratschläge geben. Im Labor stehe ich jedoch nicht mehr. Zum Teil bedauere ich das, zum Teil auch nicht. Bis Ende 1996 habe ich selbst experimentiert, auch noch als Assistenzprofessor. Aber dann hatten wir so viele Erfolge. Ich musste dauernd Vorträge halten und baute bald ein zweites Labor auf. Das alles hat dazu geführt, dass ich seither keine Messkampagne mehr geleitet habe. Hätte ich die Zeit, würde ich zumindest etwas davon im Labor verbringen. Womöglich würden meine Doktoranden und Postdocs sogar davon profitieren. Andererseits: Wenn ich als Betreuer Anregungen geben kann, die vielleicht sogar funktionieren, macht mich das glücklicher, als wenn ich die Ideen selbst ausgeführt hätte.

Spektrum: Könnten Sie sich vorstellen, das Gebiet noch einmal zu wechseln?

Ketterle: Ja, natürlich. Der Grund, warum ich immer noch mit kalten Atomen arbeite, ist, dass sich das Feld so stürmisch entwickelt. Wir arbeiten hier in der dritten Phase meiner Karriere mit kalten Atomen. Die erste war das Bose-Einstein-Kondensat, die zweite war die Paarung von Fermionen, mit denen wir die Superfluidität erforschen, und die dritte ist jetzt der Magnetismus. Wir verwenden unsere atomaren Legosteine nun dazu, magnetische Materialen zusammenzusetzen. Bisher bin ich auf kein neues Projekt gestoßen, das spannender wäre.

Spektrum: Und was würden Sie einem jungen Studenten mit auf dem Weg geben, der Ihre kometengleiche Karriere bewundert?

Ketterle: Ich würde ihm raten, seinen eigenen Weg zu suchen. Als junger Mensch ist man oft unsicher. Es ist aber ganz und gar kein Makel, seinen Weg nicht vorgezeichnet zu sehen. Man sollte Neues ausprobieren und sich dann ernsthaft fragen, ob man in dieser Richtung weitermachen will. Der Mut, Neues zu wagen, hat sich gelohnt - bei mir zumindest.


Hubertus Breuer ist promovierter Philosoph und freier Wissenschaftsjournalist in New York.


ZUR PERSON
Wolfgang Ketterle wurde im Oktober 1957 in Heidelberg geboren. Nach dem Physikstudium an der Universität Heidelberg und der TU München promovierte er 1986 an der LMU München mit einer Arbeit am Garchinger Max-Planck-Institut für Quantenoptik. 1990 wechselte er nach einer Postdoc-Stelle an der Universität Heidelberg im Bereich Verbrennungsforschung an das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, um bei dem Atomphysiker David Pritchard über kalte Atome zu forschen. 1993 wurde er dort Assistenzprofessor. Im September 1995 gelang es ihm, das Bose-Einstein-Kondensat zu beobachten, allerdings erst wenige Monate nachdem dieser Coup dem Team um Eric Cornell und Carl Wieman an der University of Colorado in Boulder gelungen war. In den folgenden zwei Jahren veröffentlichte Ketterle mit seinem Team jedoch mehrere Arbeiten, die grundlegende Eigenschaften des Bose-Einstein-Kondensats erstmals beschrieben. 2001 erhielten Cornell, Ketterle und Wieman für ihre Entdeckungen den Nobelpreis für Physik. Ketterle forscht seither weiter an kalten Atomen: Er stellte den ersten Atomlaser vor, erforscht die Hochtemperatursupraleitung und widmet sich in jüngster Zeit Fragen des Magnetismus.


Literatur

Ketterle, W.: When Atoms Behave as Waves: Bose-Einstein Condensation and the Atom Laser. In: Les Prix Nobel 2001, The Nobel Foundation, S. 118, 2002.

Pitaevskii, L., Stringari, S.: Bose-Einstein Condensation. Oxford University Press, 2003.

Sengstock, K. et al.: Bose-Einstein-Kondensation; das ideale Quantenlabor. In: Physik in unserer Zeit 34(4), S. 168, Juli 2003.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter: www.spektrum.de/artikel/1006313.



ZUSATZINFORMATIONEN

Lexikon I
absoluter Nullpunkt
Wenn nahezu alle Energie aus Atomen entwichen ist, nähern sie sich dem ab soluten Nullpunkt der Temperatur an, der bei minus 273,15 Grad Celsius liegt. Dabei gehen die Atome in einen neuen Aggregatzustand über - den des Bose-Einstein-Kondensats.

Lexikon II
Bose-Einstein-Kondensat
Bereits 1925 sagte Albert Einstein auf Grund von Berechnungen des indischen Physikers S. N. Bose einen neuen Aggregatzustand für Materie voraus, den sie am Nullpunkt der Temperatur erreichen würde. Dabei verschmelzen die quantenmechanischen Wellenfunktionen der Teilchen zu einer einzigen makroskopischen Funktion - und machen so Quantenmechanik sogar für das bloße Auge sichtbar.

Lexikon III
Supraleitung:
Bei einigen Metallen fließt Strom ab einer bestimmten Tieftemperatur auf Grund der Paarbildung der Elektronen widerstandsfrei.
Hochtemperatursupraleitung
liegt vor, wenn die Supraleitung bei höheren Temperaturen erreicht wird. Das gelingt heute etwa bei rund minus 173 Grad Celsius - immer noch recht kalt, aber eben höher als bei normalen Supraleitern.

Lexikon IV
Bosonen und Fermionen
Bosonen sind Elementarteilchen mit einem ganzzahligen Spin - dem Eigendrehimpuls. Sie besetzen bei tiefen Temperaturen bevorzugt denselben Quantenzustand und sind deshalb der ideale Stoff für das Bose-Einstein-Kondensat. Fermionen hingegen besitzen einen halbzahligen Spin. Das hat zur Folge, dass sie sich in der Regel nicht im selben Quantenzustand aufhalten. Bilden sie jedoch so genannte Cooper-Paare, können sie sich wie Bosonen verhalten und ebenfalls in ein Bose-Einstein-Kondensat übergehen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Zauberhöhle eines Quantenphysikers: Licht aus Lasern wird über viele Linsen zu tiefgekühlten Gasen geführt. Diese sind bereits in so genannten Magnetfallen eingesperrt und werden dort mit Hilfe des Laserlichts auf hochempfindliche digitale Kamerachips abgebildet.

© 2009 Hubertus Breuer, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 11/09 - November 2009, Seite 26 - 33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2009