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FORSCHUNG/599: Das fraktale Quantenuniversum (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 2/09 - Februar 2009

Das fraktale Quantenuniversum

Von Jan Ambjørn, Jerzy Jurkiewicz und Renate Loll


Seit Jahrzehnten bemühen sich Physiker, Quantenmechanik und Gravitation unter einen theoretischen Hut zu bringen. Ein neuer Ansatz zeigt, wie sich die Bausteine von Raum und Zeit als selbstähnliches Fraktal zusammenfügen.



In Kürze

Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie vertragen sich nicht. Seit Langem wird versucht, die beiden in einer Theorie der Quantengravitation zu versöhnen - mit beschränktem Erfolg.
Ein neuer Ansatz führt keine exotischen Komponenten ein, sondern wendet vorhandene Gesetze auf einzelne Stäubchen der Raumzeit an. Sie fügen sich dann von selbst zusammen, wie Moleküle in einem Kristall.
Die vierdimensionale Raumzeit geht auf diese Weise dynamisch aus einfachen Bausteinen hervor. In kleinstem Maßstab erscheint die Raumzeit nicht glatt, sondern als selbstähnliches Fraktal.

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Wie sind Raum und Zeit entstanden? Wie haben sie die glatte vierdimensionale Leere gebildet, die unserer physikalischen Welt als Bühne dient? Wie sehen sie im allerkleinsten Maßstab aus? Solche Fragen streifen die äußersten Grenzen der modernen Wissenschaft und treiben die Suche nach einer Theorie der Quantengravitation voran; sie wäre die lang ersehnte Vereinigung von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie mit der Quantenphysik. Die Relativitätstheorie beschreibt, wie die Raumzeit im Großen unzählige verschiedene Formen anzunehmen vermag und das hervorruft, was wir als Schwerkraft wahrnehmen. Hingegen beschreibt die Quantentheorie die physikalischen Gesetze im atomaren und subatomaren Maßstab, wobei sie Gravitationseffekte völlig ignoriert. Eine Theorie der Quantengravitation soll das Wesen der Raumzeit in den kleinsten Größenordnungen - die Lücken zwischen den kleinsten bekannten Elementarteilchen - durch Quantengesetze beschreiben und womöglich durch gewisse fundamentale Bausteine erklären.

Oft wird die Superstringtheorie als aussichtsreichster Kandidat für diese Rolle angeführt, aber sie hat noch keine der drängenden Fragen zu beantworten vermocht. Vielmehr enthüllt sie aus ihrer inneren Logik heraus noch komplexere Schichten voll neuer, exotischer Zutaten und Beziehungen, die zu einer verwirrenden Vielfalt möglicher Resultate führen.

Seit einigen Jahren entwickelt unser Team eine viel versprechende Alternative zu dieser dicht befahrenen Autobahn der theoretischen Physik. Wir folgen einem fast peinlich simplen Rezept: Man nehme ein paar einfache Zutaten, füge sie nach wohl bekannten Quantenregeln zusammen - nichts Exotisches -, rühre gut um, lasse den Teig ruhen, und fertig ist die Quantenraumzeit. Der Prozess ist so unkompliziert, dass er sich auf einem Laptop simulieren lässt.

Genauer gesagt: Wenn wir uns die leere Raumzeit als immaterielle Substanz vorstellen, die aus einer sehr großen Anzahl winziger, strukturloser Stücke besteht, und wenn wir diese mikroskopischen Bausteine miteinander nach einfachen, von Gravitations- und Quantentheorie diktierten Regeln wechselwirken lassen, werden sie sich spontan zu einem Ganzen anordnen, das in vieler Hinsicht aussieht wie das beobachtete Universum. Der Vorgang ähnelt der Art, wie Moleküle sich zu kristallinen oder amorphen Festkörpern zusammenfügen.

Somit gleicht die Raumzeit vielleicht eher einem einfachen Auflauf als einer raffinierten Hochzeitstorte. Außerdem ist unser Rezept, anders als andere Ansätze zur Quantengravitation, sehr stabil: Wenn wir unsere Simulationen in Details variieren, verändert sich das Resultat kaum. Diese Robustheit bestärkt uns in dem Glauben, auf dem richtigen Weg zu sein. Wäre das Modell empfindlich dafür, wohin wir jedes Stückchen des enormen Ensembles platzieren, so könnten wir eine riesige Anzahl barocker Formen erzeugen, deren jede von vornherein gleich wahrscheinlich wäre - und wir verlören jede Möglichkeit, zu erklären, warum das Universum so wurde, wie es ist.

Ähnliche Mechanismen der Selbstorganisation und Selbstmontage treten in Physik, Biologie und anderen Feldern der Wissenschaft immer wieder auf. Ein schönes Beispiel ist das Verhalten großer Vogelschwärme, etwa der Stare. Einzelne Vögel interagieren nur mit wenigen Nachbarn; kein Anführer gibt die Richtung vor. Dennoch bewegt sich der Schwarm als ein kompaktes Ganzes. Er besitzt kollektive oder emergente Eigenschaften, die das Verhalten des einzelnen Vogels nicht offenbart.


Eine kurze Geschichte der Quantengravitation

Frühere Versuche, die Quantenstruktur der Raumzeit durch Emergenz zu erklären, hatten nur geringen Erfolg. Sie beruhten auf der euklidischen Quantengravitation; dieses Forschungsprogramm begann Ende der 1970er Jahre und wurde durch Stephen Hawkings Bestseller »Eine kurze Geschichte der Zeit« populär. Dem Ansatz liegt ein fundamentales Prinzip der Quantenmechanik zu Grunde: Superposition. Jedes Objekt, ob klassisch oder quantenphysikalisch, ist in einem bestimmten Zustand, der beispielsweise durch Ort und Geschwindigkeit charakterisiert wird. Doch während der Zustand eines klassischen Objekts durch eine eindeutige Menge von Zahlen beschrieben werden kann, ist der Zustand eines Quantenobjekts viel reichhaltiger: Er ist die Superposition - die Überlagerung - aller möglichen Zustände.

Zum Beispiel rollt eine klassische Billardkugel längs einer einzigen Trajektorie dahin, das heißt jederzeit mit präzisem Ort und präziser Geschwindigkeit. Das wäre aber keine gute Beschreibung dafür, wie sich das viel kleinere Elektron verhält. Seine Bewegung wird durch Quantengesetze beschrieben, denen zufolge das Teilchen gleichzeitig in einem weiten Bereich von Orten und Geschwindigkeiten existieren kann. Wenn ein Elektron ohne Einwirkung äußerer Kräfte von Punkt A nach Punkt B wandert, nimmt es nicht bloß den geraden Weg von A nach B, sondern alle verfügbaren Routen auf einmal. Diesem qualitativen Bild, in dem alle möglichen Elektronenpfade zusammen auftreten, entspricht die präzise mathematische Vorschrift einer Quantensuperposition, wie sie der amerikanische Physiknobelpreisträger Richard Feynman (1918 - 1988) formuliert hat: ein gewichteter Mittelwert all dieser separaten Möglichkeiten.

Nach diesem Rezept lässt sich die Wahrscheinlichkeit berechnen, das Elektron in einem bestimmten Bereich von Orten und Geschwindigkeiten abseits des geraden Pfads zu finden, den wir gemäß den Gesetzen der klassischen Mechanik erwarten würden. Spezifisch quantenmechanisch wird das Verhalten des Teilchens durch seine Abweichungen von einer einzigen scharfen Trajektorie. Diese so genannten Quantenfluktuationen werden umso wichtiger, je kleiner das betrachtete System ist.

Die euklidische Quantengravitation wendet das Superpositionsprinzip auf das gesamte Universum an. In diesem Fall besteht die Superposition nicht nur aus unterschiedlichen Teilchenbahnen, sondern aus unterschiedlichen zeitlichen Entwicklungen des ganzen Universums - insbesondere aus den verschiedenen möglichen Formen der Raumzeit. Um das Problem beherrschbar zu machen, betrachten die Physiker meist nicht jede einzelne denkbare Verzerrung der Raumzeit, sondern nur ihre Gestalt im Großen und Ganzen (siehe »Quantenkosmologie und die Entstehung des Universums« von Jonathan J. Halliwell, Spektrum der Wissenschaft 2/1992, S. 50).

In den 1980er und 1990er Jahren machte die euklidische Quantengravitation durch die Entwicklung aufwändiger Computersimulationen einen großen technischen Sprung. Solche Modelle stellen die gekrümmten Raumzeitgeometrien mittels winziger Bausteine dar, die der Einfachheit halber dreieckig sind. Dreiecksgitter liefern gute Näherungen für gekrümmte Flächen und werden darum häufig für Computergrafiken und -trickfilme verwendet. Im Fall der Raumzeit sind die elementaren Bausteine vierdimensional verallgemeinerte Dreiecke, so genannte Vier-Simplices (Plural von Vier-Simplex). Genau so, wie das Zusammenkleben von Dreiecken an ihren Kanten eine gekrümmte zweidimensionale Fläche zu erzeugen vermag, kann durch Kleben von Vier-Simplices entlang ihren »Flächen« - die eigentlich dreidimensionale Tetraeder sind - eine vierdimensionale Raumzeit entstehen.

Die winzigen Bausteine haben selbst keine unmittelbar physikalische Bedeutung. Könnte man die reale Raumzeit mit einem ultrahochauflösenden Mikroskop untersuchen, sähe man keine kleinen Dreiecke. Sie sind bloße Approximationen. Physikalisch relevante Information liefert nur das kollektive Verhalten der Bausteine, wenn man sich vorstellt, ihre Größe gehe gegen null. Bei diesem Grenzwert spielt es keine Rolle, ob die Bauteile anfangs dreieckig, würfelförmig, fünfeckig oder irgendeine Mischung davon waren.

Die Unempfindlichkeit gegen eine Vielfalt kleiner Details wird Universalität genannt. Sie ist ein wohl bekanntes Phänomen in der statistischen Mechanik, welche die Molekularbewegungen in Gasen und Flüssigkeiten untersucht; das Verhalten dieser Substanzen ist weit gehend unabhängig von ihrer Zusammensetzung im Detail. Universalität zeigt sich erst in einem Maßstab, der viel größer ist als jener der einzelnen Bestandteile. Analoges gilt für einen Schwarm von Staren: Farbe, Größe, Flügelspannweite und Alter der einzelnen Vögel sind für das Flugverhalten des gesamten Schwarms fast unerheblich. Nur wenige mikroskopische Details machen sich in makroskopischen Größenordnungen bemerkbar.


Ein Modell spielt verrückt

Mit diesen Computersimulationen begannen Theoretiker die Effekte von überlagerten Raumzeitformen zu erforschen, welche die klassische Relativitätstheorie nicht zu behandeln vermag - insbesondere solche, die auf sehr kleine Distanz extrem stark gekrümmt sind. Just dieser so genannte nichtstörungstheoretische Bereich interessiert die Physiker am meisten, lässt sich aber ohne Computerhilfe nicht berechnen.

Leider zeigten die Simulationen, dass der euklidischen Quantengravitation irgendein wichtiger Bestandteil fehlt. Nichtstörungstheoretische Superpositionen von vierdimensionalen Universen erwiesen sich grundsätzlich als instabil. Im Fall kleinräumiger Krümmung heben die Quantenfluktuationen, welche die verschiedenen überlagerten Universen charakterisieren, einander in der Summe nicht auf, um im Großen ein glattes, klassisches Universum zu erzeugen. Vielmehr verstärken sie sich in der Regel, und der gesamte Raum schrumpelt zu einem Knäuel mit unendlich vielen Dimensionen zusammen. In einem solchen Raum liegt zwischen zwei beliebigen Punkten immer nur ein winziger Abstand, selbst wenn der Raum ein enormes Volumen hat. Manchmal verfällt der Raum ins andere Extrem und wird möglichst dünn und ausgedehnt, wie ein reich verzweigtes chemisches Polymer. Keine dieser Varianten ähnelt unserem Universum.

Bevor wir die Annahmen überprüfen, welche die Physiker in die Sackgasse geführt haben, wollen wir einen seltsamen Aspekt dieses Resultats betrachten. Die Bausteine sind vierdimensional, doch insgesamt ergeben sie einen Raum mit unendlich vielen (das verschrumpelte Universum) oder mit nur zwei Dimensionen (das Polymeruniversum). Sobald wir den Geist aus der Flasche lassen, indem wir große Quantenfluktuationen des leeren Raums erlauben, wird selbst ein so grundlegender Begriff wie die Dimension wandelbar. Dieses Ergebnis war auf Grund der klassischen Gravitationstheorie, in der die Anzahl der Dimensionen stets feststeht, unmöglich vorherzusehen.

Eine Folgerung wird Sciencefiction-Fans ziemlich enttäuschen. Zukunftsgeschichten nutzen gern Wurmlöcher - dünne Tunnel in der Raumzeit, die eine Abkürzung zwischen ansonsten weit entfernten Regionen bieten. Sie versprechen aufregende Zeitreisen sowie Signalübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit. Zwar ist so etwas nie beobachtet worden, doch manche Physiker mutmaßen, Wurmlöcher könnten innerhalb der Quantengravitation eine Existenzberechtigung finden. Angesichts der negativen Resultate der euklidischen Quantengravitation erscheint dies extrem unwahrscheinlich. Die Raumzeittunnel treten in derart riesiger Vielfalt auf, dass sie die Superposition dominieren und destabilisieren; darum vermag das Quantenuniversum nie über eine kleine, aber hochgradig verflochtene Nachbarschaft hinauszuwachsen.

Was mag der Fehler sein? Bei unserer Suche nach Schlupflöchern und losen Enden des euklidischen Ansatzes stießen wir schließlich auf die rettende Zutat, die absolut nötig ist, damit der Auflauf gelingt: Das Universum muss von vornherein kausal strukturiert sein. Kausalität bedeutet, dass die leere Raumzeit eine Struktur hat, die eindeutig zwischen Ursache und Wirkung unterscheidet. Dies ist ein integraler Bestandteil der klassischen speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie.

Doch die euklidische Quantengravitation enthält keine Idee von Kausalität. Der Begriff euklidisch bedeutet, dass Raum und Zeit gleich behandelt werden. Die Universen, die in die euklidische Superposition eingehen, haben vier räumliche Richtungen statt wie üblich eine für die Zeit und drei für den Raum. Da euklidische Universen keinen deutlichen Zeitbegriff haben, fehlt ihnen eine Struktur, um Ereignisse in eine spezielle Ordnung zu bringen. Hawking und andere Anhänger dieses Ansatzes meinten, die Zeit sei »imaginär« - sowohl im mathematischen wie im umgangssprachlichen Sinn. Sie hofften, mikroskopische Quantenfluktuationen, die für sich genommen keine kausale Struktur enthalten, würden die Kausalität als großräumige Eigenschaft hervorbringen. Doch die Computersimulationen haben diese Hoffnung zerschlagen.

Statt beim Aufbau einzelner Universen die Kausalität zu vernachlässigen und zu hoffen, sie würde durch die kollektive Weisheit der Superposition wie von selbst auftauchen, beschlossen wir, die Kausalstruktur in einem viel früheren Stadium einzubauen. Der Fachausdruck für unsere Methode lautet kausale dynamische Triangulation. Dabei weisen wir zunächst jedem Vier-Simplex einen Zeitpfeil zu, der von der Vergangenheit in die Zukunft weist. Dann erzwingen wir kausale Kleberegeln: Zwei Simplices müssen so verklebt werden, dass ihre Zeitpfeile dieselbe Richtung haben. Den Simplices muss eine Zeit gemeinsam sein, die sich stetig in Richtung dieser Pfeile entfaltet und niemals stillsteht oder rückwärtsläuft. Der Raum behält mit fortschreitender Zeit seine allgemeine Form; er kann nicht in getrennte Stücke zerbrechen oder Wurmlöcher bilden.

Nachdem wir dieses Verfahren 1998 formuliert hatten, demonstrierten wir an stark vereinfachten Modellen, dass kausale Kleberegeln zu einer anderen großräumigen Form führen als die euklidische Quantengravitation. Das war ermutigend, aber noch fehlte der Nachweis, dass diese Regeln ausreichen, um ein ganzes vierdimensionales Universum zu stabilisieren. Darum hielten wir 2004 den Atem an, als unser Computer die ersten Berechnungen einer großen kausalen Superposition von Vier-Simplices zu liefern begann. Würde sich diese Raumzeit über große Entfernungen wirklich wie ein vierdimensionales ausgebreitetes Objekt benehmen - und nicht wie ein verknülltes Kügelchen oder Polymer?


Die Raumzeit im Großen und im Kleinen

Man stelle sich unsere Begeisterung vor, als die Anzahl der Dimensionen vier betrug - genauer 4,02 ± 0,1. Zum ersten Mal hatte jemand die beobachtete Dimensionszahl aus Grundprinzipien hergeleitet. Bis heute ist der Einbau der Kausalität in die Computermodelle das einzige bekannte Mittel gegen die Instabilität überlagerter Raumzeitgeometrien.

Diese Simulation war der Beginn einer langen Serie von rechnerischen Experimenten, mit denen wir bis heute versuchen, aus Computersimulationen die physikalischen und geometrischen Eigenschaften der Quantenraumzeit zu entnehmen. Zunächst untersuchten wir die Form der Raumzeit über große Entfernungen und wiesen nach, dass sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt - das heißt, mit den Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie. Dieser Test ist in nichtstörungstheoretischen Modellen der Quantengravitation, die keine bestimmte Standardform der Raumzeit auszeichnen, sehr aufwändig. Er ist sogar so schwierig, dass die meisten Ansätze zur Quantengravitation - auch die Stringtheorie, außer in Spezialfällen - dafür nicht genügend ausgereift sind.

Wie sich zeigte, mussten wir in unser Modell, damit es funktionierte, von vornherein eine so genannte kosmologische Konstante einbauen - eine unsichtbare und immaterielle Substanz, die der Raum auch dann enthält, wenn andere Formen von Materie und Energie völlig fehlen. Das war eine gute Nachricht, denn die Kosmologen haben Indizien für eine solche Energie gefunden. Zudem weist die entstehende Raumzeit eine so genannte De-Sitter-Geometrie auf - genau die Lösung der einsteinschen Gleichungen für ein Universum, das außer der kosmologischen Konstante nichts enthält. Es ist bemerkenswert, dass wir durch praktisch zufälliges Zusammenfügen mikroskopischer Bausteine - ohne auf eine Symmetrie oder bevorzugte geometrische Struktur zu achten - bei einer Raumzeit landen, die im Großen die hochsymmetrische Gestalt des De-Sitter-Universums aufweist.

Die dynamische Emergenz eines vierdimensionalen, im Wesentlichen richtig geformten Universums aus Grundprinzipien ist der größte Erfolg unseres Ansatzes. Ob sich dieses erstaunliche Ergebnis durch die Wechselwirkung noch unbekannter fundamentaler »Atome« der Raumzeit erklären lässt, ist Gegenstand laufender Forschung.

Nachdem unser Modell mehrere klassische Tests bestanden hatte, wandten wir uns der deutlich gequantelten Raumzeitstruktur zu, die von Einsteins klassischer Theorie nicht erfasst wird. Eine unserer Simulationen ist ein Diffusionsprozess: Wir lassen gleichsam einen Tintentropfen in die Superposition der Universen fallen und beobachten, wie er sich ausbreitet und durch die Quantenfluktuationen umhergestoßen wird. Wenn wir die Größe der Tintenwolke nach einer bestimmten Zeit messen, können wir die Dimensionszahl des Raums bestimmen (Bildunterschrift 7).


Variable Dimensionen

Das Ergebnis ist äußerst verblüffend: Die Anzahl der Dimensionen hängt vom Maßstab ab. Wenn wir die Diffusion nur kurze Zeit voranschreiten lassen, scheint die Raumzeit eine andere Dimensionszahl zu haben als bei langer Diffusionsdauer. Selbst wir können uns kaum vorstellen, wie die Raumzeit ihre Dimension je nach der Auflösung des Mikroskops, mit dem man sie beobachtet, stetig ändern kann. Offenbar erfährt ein kleines Objekt die Raumzeit ganz anders als ein großes. Für dieses Objekt hat das Universum eine Art fraktale Struktur. Ein Fraktal ist ein bizarrer Raumtyp; es ist selbstähnlich, das heißt, es sieht in allen Größenordnungen gleich aus.

Wie klein ist »klein«? Bis hinunter zur winzigen Größenordnung von 10-34 Metern wird das Quantenuniversum ausreichend durch die klassische De-Sitter-Geometrie beschrieben. Dass man der klassischen Näherung noch bei derart kurzen Distanzen vertrauen kann, ist recht erstaunlich. Es hat wichtige Folgen sowohl für das sehr frühe Universum als auch für seine fernste Zukunft. In diesen beiden extremen Phasen ist das Universum praktisch leer. Anfangs waren die Quantenfluktuationen der Schwerkraft vermutlich so stark, dass die Materie kaum ins Gewicht fiel; sie war ein winziges Floß auf einem stürmischen Ozean. In Jahrmilliarden wird durch die rapide Expansion des Universums die Materie so verdünnt sein, dass sie ebenfalls kaum eine Rolle spielt. Unsere Methode erklärt wahrscheinlich in beiden Fällen die Form des Raums.

In noch kleinerem Maßstab dominieren Quantenfluktuationen so stark, dass die klassische Geometrie völlig zusammenbricht. Die Dimensionszahl fällt von vier auf einen Wert von rund zwei. Dennoch bleibt die Raumzeit, soweit wir wissen, weiterhin kontinuierlich und enthält keinerlei Wurmlöcher. Sie benimmt sich nicht so wild wie der blubbernde Raumzeitschaum, den der amerikanische Physiker John Wheeler und viele andere sich ausmalten. Die Geometrie der Raumzeit gehorcht zwar ausgefallenen nichtklassischen Regeln, aber der Begriff des Abstands gilt weiterhin. Wir sind gegenwärtig dabei, noch kleinere Größenordnungen zu erforschen. Möglicherweise wird das Universum letztlich selbstähnlich und sieht unterhalb einer gewissen Schwelle in jedem Maßstab gleich aus. In diesem Fall besteht die Raumzeit nicht aus Strings oder Raumzeitatomen, sondern ist im Kleinsten unendlich langweilig: Die unterhalb der Schwelle gefundene Struktur wiederholt sich einfach in jedem kleineren Maßstab ad infinitum.

Es ist kaum vorstellbar, wie Physiker mit noch weniger Zutaten ein wirklichkeitsnahes Quantenuniversum erzeugen könnten. Wir müssen noch viele Tests und Experimente durchführen - beispielsweise, um zu verstehen, wie sich die Materie im Universum verhält und wie sie ihrerseits die Gesamtform des Universums beeinflusst. Jede Theorie der Quantengravitation strebt letztlich das Ziel an, beobachtbare Phänomene herzuleiten. Das wird das entscheidende Kriterium dafür sein, ob unser Modell wirklich die richtige Theorie des Quantenuniversums ist.


Jan Ambjørn ist Mitglied der Königlich-Dänischen Akademie sowie Professor am Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen und an der Universität Utrecht (Niederlande).

Jerzy Jurkiewicz leitet die Abteilung für Theorie komplexer Systeme am Physikalischen Institut der Jagiellonischen Universität in Kraków (Polen). Unter anderem arbeitete er am Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen.

Renate Loll ist Professorin an der Universität Utrecht, wo sie eine der größten europäischen Gruppen zur Erforschung der Quantengravitation leitet. Zuvor arbeitete sie als Heisenberg-Stipendiatin am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam.


Literatur:

Ambjørn, J. et al.: Planckian Birth of a Quantum de Sitter Universe. In: Physical Review Letters 100, Nr. 091304, 2008.

Loll, R.: The Emergence of Spacetime, or, Quantum Gravity on Your Desktop. In: Classical and Quantum Gravity 25(11), Nr. 114006, 2008.

Musser, G.: The Complete Idiot's Guide to String Theory. Alpha Books, New York 2008.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter
www.spektrum.de/artikel/977235.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Gekrümmte Flächen lassen sich durch Netze aus Dreiecken approximieren. Die Autoren wenden dieses Verfahren auf die Raumzeit an; an die Stelle der flachen Dreiecke treten vierdimensionale Tetraeder.

Bildunterschrift 2:
Der Raum als Buckelpiste
Wir stellen uns den Raum normalerweise als bloße Leere vor, doch in Wahrheit hat er zusammen mit der Zeit eine unsichtbare Struktur, die unsere Bewegungen führt - so wie die Buckel einer verschneiten Piste die Schwünge des Schifahrers leiten. Diese Struktur nehmen wir als Schwerkraft wahr. Jede Theorie der Quantengravitation hat vor allem zum Ziel, die Form der Raumzeit im Detail zu erklären.

Bildunterschrift 3:
Ein gewölbtes Mosaik aus Dreiecken
Um zu bestimmen, wie der Raum sich selbst gestaltet, müssen die Physiker zuerst eine Methode finden, um seine Form zu beschreiben. Dafür verwenden sie Dreiecke und deren höherdimensionale Entsprechungen; ein Mosaik daraus vermag eine gekrümmte Form gut angenähert wiederzugeben. Die Krümmung an einem Punkt entspricht dem Gesamtwinkel, der von den ihn umgebenden Dreiecken aufgespannt wird. Für eine ebene Fläche beträgt der Winkel exakt 360 Grad, aber für gekrümmte Flächen kann er größer oder kleiner sein.

Bildunterschrift 4:
Quantenregeln für die Raumzeit
Die Raumzeit kann unzählig viele mögliche Formen annehmen. Gemäß der Quantentheorie ist die Form, die wir mit größter Wahrscheinlichkeit beobachten, eine Superposition - ein gewichtetes Mittel - all dieser Möglichkeiten. Wenn Theoretiker Formen aus Dreiecken konstruieren, gewichten sie jede Form je nachdem, wie die Dreiecke im Einzelnen zusammengeklebt werden, um diese Form zu bilden. Die Autoren haben entdeckt, dass die Dreiecke bestimmten Regeln folgen müssen, damit die Superposition dem entspricht, was wir beobachten. Insbesondere müssen die Dreiecke einen eingebauten Zeitpfeil enthalten.

Bildunterschrift 5:

Zwei mögliche Kleberegeln

Alles erlaubt
Wenn Physiker totale Beliebigkeit - alle möglichen Anordnungen von Dreiecken - zulassen, kommt ein fest zusammengeknülltes Kügelchen mit unendlich vielen Dimensionen heraus.

Eingeschränkt durch das Kausalitätsprinzip
Wenn Physiker die Regel hinzufügen, dass benachbarte Dreiecke eine übereinstimmende Zeitrichtung haben müssen - so dass Ursache und Wirkung eindeutig unterschieden werden -, entsteht eine vierdimensionale Raumzeit, die unserem Universum verblüffend ähnelt.

Bildunterschrift 6:
Die Raumzeit unter dem Mikroskop
Nach den Berechnungen der Autoren geht die »spektrale« Dimension der Raumzeit (siehe »Spektrale Dimension« unter Bildunterschrift 7) bei immer kleineren Größenordnungen allmählich von vier zu zwei über; die kontinuierliche und glatte Raumzeit zerfällt bei hoher Auflösung in ein poröses Fraktal. Noch rätseln die Physiker, ob die Raumzeit demzufolge letztlich aus lokalisierten »Atomen« besteht - oder aus komplizierten Mustern, die mit unseren vertrauten geometrischen Begriffen nur entfernt verwandt sind.

Die Quantenraumzeit ähnelt vielleicht dem Schnee, der im Kleinen fraktal ist aber im Großen glatt und dreidimensional.

Bildunterschrift 7:
Die fraktale Dimension des Universums
Im Alltag bezeichnet die Dimensionszahl die minimale Anzahl von Messungen, die den Ort eines Objekts bestimmen - zum Beispiel geografische Länge, Breite und Höhe. Diese Definition setzt voraus, dass der Raum stetig ist und den Gesetzen der klassischen Physik gehorcht. Doch was, wenn der Raum sich nicht so brav verhält - wenn seine Form durch Quantenprozesse bestimmt ist, in denen Alltagsbegriffe versagen? Für solche Fälle müssen Physiker und Mathematiker raffiniertere Begriffe entwickeln. Die Dimensionszahl muss nicht einmal eine ganze Zahl sein - beispielsweise bei fraktalen Mustern, die in allen Größenordnungen gleich aussehen.

Cantor-Menge
Man nehme eine Strecke, entferne das mittlere Drittel und wiederhole das unendlich oft. Das resultierende Fraktal ist größer als ein einzelner Punkt, aber kleiner als eine kontinuierliche Linie. Seine Hausdorff-Dimension (siehe unten) beträgt 0,6309.

Sierpinski-Dreieck
Wenn aus einem Dreieck immer kleinere Unterdreiecke herausgeschnitten werden, entsteht ein Mittelding zwischen einer eindimensionalen Linie und einer zweidimensionalen Fläche. Die Hausdorff-Dimension ist 1,5850.

Menger-Schwamm
Aus einem Würfel werden immer kleinere Unterwürfel entfernt. Dieses Fraktal ist eine Fläche, die teilweise ein Volumen umhüllt. Seine Hausdorff-Dimension ist 2,7268 - ähnlich wie beim menschlichen Gehirn.


Verallgemeinerte Definitionen der Dimensionen

Hausdorff-Dimension
Diese Definition formulierte der deutsche Mathematiker Felix Hausdorff zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie gibt an, wie das Volumen V eines Gebiets von seiner linearen Größe r abhängt. Für den gewöhnlichen dreidimensionalen Raum ist V proportional zu r3. Der Exponent gibt die Dimensionszahl an. »Volumen« kann auch für ein anderes Maß der Gesamtgröße stehen, etwa für Fläche. Beim Sierpinski-Dreieck ist V proportional zu r1,5850. Das besagt, dass diese Figur nicht einmal eine Fläche vollständig bedeckt.

Spektrale Dimension
Diese Definition beschreibt, wie etwas sich mit der Zeit durch ein Medium ausbreitet, sei es ein Tintentropfen in einem Wassertank oder eine Krankheit in einer Bevölkerung. Jedes Wassermolekül oder Individuum einer Population hat eine bestimmte Anzahl nächster Nachbarn, welche die Diffusionsrate der Tinte oder der Krankheit bedingt. In einem dreidimensionalen Medium wächst die Größe einer Tintenwolke mit der Potenz 3/2 der Zeit. Da die Tinte beim Sierpinski-Dreieck eine verwickelte Form durchdringen muss, verteilt sie sich langsamer - mit der 0,6826-ten Potenz der Zeit. Das entspricht einer spektralen Dimension von 1,3652.

Anwendung der Definitionen
Im Allgemeinen liefern unterschiedliche Berechnungsverfahren für die Dimensionszahl unterschiedliche Resultate, weil sie verschiedene Aspekte der Geometrie wiedergeben. Für einige geometrische Figuren ist die Dimensionszahl nicht konstant. Beispielsweise kann für die Diffusion an Stelle von Zeit zu einer bestimmten Potenz eine kompliziertere Formel gelten.

Simulationen der Quantengravitation konzentrieren sich auf die spektrale Dimension. Sie setzen gleichsam ein winziges Lebewesen in einen Baustein der Quantenraumzeit. Von dort aus wandert das Wesen zufällig umher. Die Gesamtzahl der Raumzeitbausteine, die es in einer bestimmten Zeit berührt, gibt Auskunft über die spektrale Dimension.


ZUSATZINFORMATIONEN:

Theorien der Quantengravitation

Stringtheorie
Dieser von den meisten Physikern favorisierte Ansatz erfasst nicht nur die Quantengravitation, sondern die gesamte Materie mit ihren Wechselwirkungen. Er beruht auf der Idee, dass die fundamentalen Teilchen - auch die hypothetischen Quanten der Gravitation - vibrierenden Saiten (englisch strings) gleichen.

Loop-Quantengravitation
Die wichtigste Alternative zur Stringtheorie wendet neuartige Quantenregeln auf Einsteins allgemeine Relativitätstheorie an. Der Raum wird in diskrete »Atome« des Volumens unterteilt.

Euklidische Quantengravitation
Dieser durch Stephen Hawking populäre Ansatz nimmt an, dass die Raumzeit aus einer großen Quantensuperposition aller möglichen Formen hervorgeht. Er stellt die Zeit auf dieselbe Stufe wie den Raum.

Kausale dynamische Triangulation
Der in diesem Artikel dargestellte Ansatz ist eine moderne Version der euklidischen Quantengravitation. Die Raumzeit wird angenähert durch ein Mosaik aus Dreiecken dargestellt, die von vornherein einen Unterschied zwischen Raum und Zeit enthalten. In kleinstem Maßstab nimmt die Raumzeit eine fraktale Form an.


Was ist Kausalität?
Kausalität bedeutet, dass Ereignisse kein beliebiges Durcheinander bilden, sondern eine bestimmte Zeitfolge von der Ursache zur Wirkung einhalten. Im Ansatz der Autoren ist der Unterschied zwischen Ursache und Wirkung keine sekundäre Eigenschaft, sondern ein grundlegendes Naturprinzip.


© 2009 Jan Ambjørn, Jerzy Jurkiewicz und Renate Loll, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 2/09 - Februar 2009, Seite 24 - 31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2009