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FORSCHUNG/453: Die Erwartungen an den großen Collider (FTE info)


FTE info - Sonderausgabe EIROforum - Februar 2007
Magazin über europäische Forschung

Die Erwartungen an den großen Collider


Im Jahre 2007 wird der Large Hadron Collider, der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, der je gebaut wurde, am CERN in Betrieb genommen und soll die Geheimnisse der Materie in den Energiezuständen erforschen, die kurz nach dem Urknall herrschten. Die Physiker lassen darin Teilchen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit frontal aufeinander prallen. Anhand der Energie, die durch die Zusammenstöße freigesetzt wird, wollen sie dann die Materie bis in die geheimsten Winkel untersuchen.


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Was ist von der immensen Investition Europas in den Bau des LHC zu erwarten? In einem unterirdischen Ring mit 27 km Länge unter der französisch-schweizerischen Grenze wird er zwei Protonenstrahlen in entgegengesetzte Richtungen aussenden. Protonen sind Bestandteile des Atomkerns und gehören zur Familie der Hadronen. Um diese Protonen zu beschleunigen und sie in schmalen Strahlen zu halten, sind extrem starke Magnetfelder notwendig. Diese Felder werden von Supraleitern erzeugt, die in Zusammenarbeit mit der europäischen Industrie entwickelt wurden. Hierbei handelt es sich um Materialien, die elektrischen Strom ohne Widerstand und Energieverlust leiten können, typischerweise bei sehr niedrigen Temperaturen.

Die Protonen kollidieren 800 Millionen Mal pro Sekunde und mit einer ungeheuerlichen Energie von 14 TeV. Diesen Wert versteht man besser, wenn man weiß, dass ein TeV in etwa der Bewegungsenergie einer fliegenden Mücke entspricht. Was den LHC so außergewöhnlich macht, ist die Konzentration dieser Energie auf ein winziges Volumen, das um Tausend Milliarden Mal kleiner ist als das einer Mücke! Da sich die Energie, entsprechend dem Prinzip der Äquivalenz von Masse und Energie der speziellen Relativitätstheorie, d.h. der bekannten Formel E=mc2, in Teilchen "materialisieren" kann, hoffen die Physiker auf diese Weise Teilchen zu schaffen, die noch nie zuvor in Beschleunigern beobachtet wurden. Die Dichte und Intensität der Kollisionen sind wichtig, da sich dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie stattfinden. Außerdem werden zwei Strahlen aus Bleikernen erzeugt, die eine Energie von 1150 TeV aber weniger Kollisionen pro Sekunde erreichen.


Auf der Suche nach der Supersymmetrie...

Bestimmte Detektoren können diese Zusammenstöße dann analysieren. Zu ihnen gehören CMS (Compact Muon Solenoid) und Atlas (A Toroidal LHC Apparatus). Sie werden sich auf den Nachweis der so genannten supersymmetrischen Teilchen und des Higgs-Bosons konzentrieren.

Wie steht es um die Supersymmetrie? Die Teilchenphysik kennt zahlreiche Symmetrien, wie z.B. Materie und Antimaterie. Die Supersymmetrie ordnet jedem Boson (überträgt eine Wechselwirkung, wie das Photon) ein Fermion (Bestandteil der Materie, wie z. B. Elektronen und Quarks) zu und umgekehrt. Die Herausforderung besteht darin, dass diese supersymmetrischen Gegenstücke (auch S-Teilchen genannt) noch nie beobachtet wurden.

Wie können sie nachgewiesen werden? Paradoxerweise durch ihre Abwesenheit! "Es ist ein bisschen wie in einem Kinosaal. Sie zählen die Personen, die in das Kino hineingegangen und wieder herausgekommen sind. Wenn am Ende des Films Leute fehlen, von denen Sie wissen, dass sie hineingegangen sind, können Sie daraus schlussfolgern, dass sie nicht hinausgekommen sind." Genauso wissen die Experimentatoren des LHC, dass bestimmte Teilchenzusammenstöße diese S-Teilchen erzeugen müssen, die jedoch mit keinem Detektor beobachtet werden können. Da sie die Energien der Teilchen vor ihrem Zusammen stoß kennen, vergleichen sie sie mit den Teilchenenergien nach dem Zusammenstoß. Falls sich eine Energiedifferenz ergibt, bedeutet das, dass ein Teilchen fehlt. Wenn Sie dann die fehlende Energie berechnen, wissen sie, ob es sich um das erwartete super-symmetrische Teilchen bzw. S-Teilchen handelt.


... und dem Higgs-Boson

Die andere Herausforderung des CMS- und des LHC-Detektors ist der Nachweis des Higgs-Bosons. Es ist das zentrale Objekt des Standardmodells und es wird angenommen, dass es mit den Teilchen interagiert und ihnen eine Masse verleiht. Wie ist das möglich? Stellen wir uns einen Raum mit Physikstudenten vor. Plötzlich kommt Albert Einstein herein und die Studenten umringen ihn und überschütten ihn mit Fragen. Wenn er sich fortbewegen will, spürt Albert jedoch eine gewisse Bewegungsträgheit aufgrund der Studenten, die sich an ihn klammern. Es geht ihm in gewisser Weise genauso wie diesen Teilchen, die eine Masse erhalten, wenn die Higgs-Bosonen versuchen, mit ihnen zu interagieren. Auch hier kann der erwartete Nachweis der Bosonen nur indirekt erfolgen, denn es werden die Teilchen nachgewiesen, die aus ihrer Zerstörung hervorgehen.


Quark-Gluonen-Suppe

Ein dritter Detektor des LHC trägt den Namen Alice (A Large Ion Collider Experiment). Er soll die unbekannten Bereiche der Kernphysik erkunden, insbesondere einen Zustand der Materie, den das Universum in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall durchlief und der als Quark-Gluon-Plasma bekannt ist.

Worum geht es hier? In den 60er Jahren haben die Wissenschaftler festgestellt, dass die Protonen und Neutronen, die den Atomkern bilden, aus noch elementareren Teilchen bestehen, nämlich den Quarks. Diese sind durch die starke Wechselwirkung miteinander verbunden, die hier durch die Gluonen vermittelt wird. Eine ihrer Eigenschaften ist es, dass sie nicht allein existieren können, sondern immer nur in Paaren oder Tripletts auftreten. Je mehr man versucht, ein Quark von einem anderen Quark zu entfernen, desto stärker wird die Kraft, die sie verbindet, sodass sie letztendlich untrennbar sind. Es heißt, dass sich die Quarks in einem Confinement (einer Art Begrenzung) befinden. Wenn man jedoch Protonen mit hoher Energie gegeneinander schleudert, erhält man eine Suppe aus Quarks und Gluonen, in der sich die Quarks frei bewegen können. In diesem Fall spricht man vom Deconfinement der Quarks im Quark-Gluon-Plasma. Wie lässt sich dieses Deconfinement erklären? "Das ist in etwa genauso wie beim Skifahren. Wenn es nicht viel Schnee gibt, kann es vorkommen, dass die Pisten durch mit Gras bewachsene Bereiche voneinander getrennt und die Skifahrer auf ihre Piste beschränkt sind. Wenn allerdings viel Schnee liegt, können sie von einer Piste zur anderen wechseln. Die Begrenzung bzw. das Confinement ist aufgehoben." Die Physiker fügen nicht Schnee, sondern Energie hinzu: Je mehr die Energie der Quarks erhöht wird, desto geringer wird die Kraft, die sie verbindet, sodass sie sich ab einem bestimmten Energieniveau trennen.

Wenige Mikrosekunden nach dem Urknall befand sich die Materie wahrscheinlich in diesem Quark-Gluon-Plasma-Zustand. Aus diesem Grund wollen die Physiker ihn auch mit Hilfe von Blei-Ionenstrahlen untersuchen, die durch den LHC erzeugt werden. Diese Strahlen besitzen nämlich viele Protonen und Neutronen. Sie können eine Energie von 1150 TeV erreichen, die notwendig ist, um genauer als in den bisherigen Experimenten das Quark-Gluon-Plasma, das zu Beginn des Universums vorhanden war, zu erzeugen und zu untersuchen.


Das Geheimnis der Antimaterie

Der letzte Detektor trägt den Namen LHCb, kurz für Large Hadron Collider beauty. Er soll dabei helfen, die feinen Unterschiede zwischen Materie und Antimaterie besser beurteilen zu können, sodass wir verstehen, was mit der Antimaterie im Universum passiert ist.

Zu jedem Teilchen gehört nämlich ein Antiteilchen, das unter anderem auch die gleiche Masse und die entgegengesetzte elektrische Ladung besitzt. Daher entspricht ein negativ geladenes Elektron einem Antielektron (oder Positron) mit der gleichen Masse aber positiver Ladung. Wenn ein Elektron und ein Positron zusammentreffen, vernichten sie sich und erzeugen dabei einen Energieschauer.

Gemäß dem Standardmodell der Teilchenphysik wurde zu Beginn des Universums genauso viel Materie wie Antimaterie geschaffen. Folglich hätten sich alle Teilchen gegenseitig vernichten müssen und das Universum müsste leer sein. Und dennoch gibt es, wie jeder feststellen kann, überall Materie!

Daher soll der LHCb die Frage klären, wo die Antimaterie geblieben ist. Eine mögliche Antwort liegt in der Fähigkeit bestimmter Teilchen, sich in ihr Antiteilchen umzuwandeln und umgekehrt. In diesem Fall beruht die Existenz der Materie auf der Hypothese - die es zu beweisen gilt - dass zu Beginn des Universums die Umwandlung von Antiteilchen in Teilchen im Vergleich zur entgegengesetzten Umwandlung begünstigt wurde. Am Ende hätte der Prozess der Annihilation zwischen Materie und Antimaterie ein Universum ergeben, in dem die Materie die Oberhand behalten hat.

Lässt sich ein derartiges Ungleichgewicht beweisen? Tatsächlich wurde so etwas bereits in Experimenten mit Kaonen, das sind Quark-Teilchen, beobachtet. Antikaonen wandeln sich spontan in Kaonen um, das Gegenteil geschieht jedoch seltener. Der LHCb wird einen anderen Kandidaten untersuchen, nämlich das B-Meson, das unter anderem ein Elementarteilchen (bzw. sein Antiteilchen) namens B-Quark, oder auch Beauty-Quark enthält (wovon sich auch der Spitzname des LHCb ableitet).


Den Teilchen auf der Spur

Auch wenn die Teilchen nicht sichtbar sind, so lassen sie sich doch nachweisen. Hierfür wird der LHC mit Detektoreinrichtungen aus mehreren konzentrischen Schichten ausgestattet, die die Teilchenstrahlen, in denen die Zusammenstöße stattfinden, umgeben wie Zwiebelhäute. Jede Schicht ist für einen bestimmten Nachweis ausgelegt.

In der Mitte des Detektors befindet sich eine Spurkammer mit Millionen von Halbleitern. Wenn diese von einem Teilchen berührt werden, erzeugen sie elektronische Impulse, die von Computern aufgezeichnet werden. Daher können die Bahnen der Teilchen rekonstruiert werden.

Im gesamten Detektor herrscht auch ein Magnetfeld. Mit Hilfe dieses Magnetfeldes lassen sich die Bahnen der geladenen Teilchen, wie z.B. Elektronen oder Protonen, erkennen und untersuchen, da sie auf das Magnetfeld reagieren.

Eine andere Einrichtung besteht aus einem Spurendetektor mit Kalorimeter. Manche Kalorimeter stoppen Teilchen, wie z. B. Photonen oder Elektronen, andere wiederum halten Protonen und Neutronen auf. Sie messen die Energie, die die Teilchen verlieren, die in sie eindringen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Antimaterie. Supersymmetrie. Higgs-Boson. Quark-Gluon-Plasma. So viele Geheimnisse haben ihren Ursprung in den energiereichsten Phasen des Universums inmitten der Hitze des Urknalls. Die Forscher hoffen, diese Geheimnisse mit Hilfe des LHC, dieser unglaublichen Zeitmaschine, aufdecken zu können. Im Tunnel mit 27 km Länge werden die ersten Magnete im LHC-Beschleuniger installiert aber noch nicht angeschlossen.

> Simulation des Zusammenstoßes zweier Protonen im ATLAS-Detektor.

> Der CMS-Detektor kurz vor seiner Verschließung. Die fünf Räder des Zylinders und die sechs Scheiben der Endkappen wurden zusammengeschoben, um die Magnetentests und Detektorversuche an kosmischen Strahlen aufzunehmen.

> Installation der Kristalle bei einem der Module des Photonen-Spektrometers von ALICE.

> Einbau der Szintillatorplatten in das Hadronenkalorimeter des LHCb.

Möchten Sie mehr wissen?
ATLAS: http://atlas.ch/
CMS: http://cms.cern.ch/
ALICE: http://aliceinfo.cern.ch/Public/index.html


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Quelle:
FTE info - Sonderausgabe EIROforum, Februar 2007, Seite 10.11
Magazin über europäische Forschung
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Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
Redaktion: ML DG 1201, Boîte postale 2201, L-1022 Luxembourg
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E-Mail: rtd-info@ec.europa.eu
Internet: http://ec.europa.eu./research/rtdinfo/index_de.html

FTE info wird auch auch auf Englisch, Französisch und
Spanisch herausgegeben. Die Zeitschrift kann kostenlos
über die folgende Website abonniert werden:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2007