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FORSCHUNG/1052: Das Innenleben der Quarks (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 12/13 - Dezember 2013

Subatomare Strukturen
Das Innenleben der Quarks

Von Don Lincoln



Quarks und Leptonen besitzen weder Ausdehnung noch Struktur - so lehrt es das Standardmodell der Teilchenphysik. Doch es gibt Hinweise, dass es auch anders sein könnte. Vielleicht stößt der Beschleuniger LHC schon bald in eine verborgene Welt noch kleinerer Partikel vor.



AUF EINEN BLICK
 
Den Preonen auf der Spur

1. Der Chemiker Dmitri Mendelejew bemerkte 1869, dass die Anordnung der Elemente in einem bestimmten Schema - dem Periodensystem - auffällige Muster ihrer Eigenschaften zu Tage förderte. Diese konnten Physiker später mit der atomaren Struktur der Elemente erklären.

2. Analoges könnte sich nun wiederholen, denn auch die Eigenschaften der bekannten Materieteilchen folgen Mustern. Ist dies ein Hinweis darauf, dass sie nicht wirklich elementar sind, sondern noch kleinere Partikel beherbergen, die Preonen? Andere Befunde sprechen bislang allerdings gegen diese Möglichkeit.

3. Experimente am Genfer Large Hadron Collider könnten die Frage nach der Existenz von Preonen schon bald beantworten.


Das Standardmodell der Teilchenphysik ist eine der erfolgreichsten Theorien, die je entwickelt wurden. Gerade einmal eine Hand voll Prinzipien vereinten die Physiker zu einem sich durch seine Einfachheit auszeichnenden Modell, das alle bekannten Elementarteilchen im Universum sowie die meisten Wechselwirkungen zwischen ihnen beschreibt. Im Wesentlichen postuliert es, dass zwei Arten nicht teilbarer Materieteilchen existieren: Quarks und Leptonen, beide in unterschiedlichen Varianten. Quarks kennt man als Bausteine von Protonen und Neutronen, ein Beispiel für Leptonen sind die Elektronen. Durch die richtige Kombination von Leptonen und Quarks lässt sich jedes Atom und somit auch jegliche Materie im Universum hervorbringen.

Außerdem wirken vier fundamentale Kräfte. Zwei davon sind uns sehr vertraut, nämlich die Gravitation und die elektromagnetische Wechselwirkung. Hinzu kommen die weniger bekannte starke sowie die schwache Kernkraft. Die drei letztgenannten Kräfte beschreiben Physiker mathematisch durch den Austausch so genannter Bosonen. Versuche, auch die Gravitation in dieses Modell einzubeziehen, sind allerdings sämtlich gescheitert. Auch weitere Antworten bleibt das Standardmodell schuldig: Wieso gibt es ausgerechnet vier Kräfte und nicht mehr oder weniger? Und warum existieren gerade zwei verschiedene Sorten fundamentaler Teilchen und nicht nur eine?

Zweifellos wichtige Fragen. Doch mich und auch viele meiner Physikerkollegen fasziniert schon seit langer Zeit ein ganz anderes Rätsel. Es gibt Indizien, dass Quarks und Leptonen, die im Standardmodell als punktförmig und unteilbar gelten, aus noch kleineren Komponenten aufgebaut sein könnten. Falls dies tatsächlich der Fall ist, falls Quarks und Leptonen also nicht wirklich fundamental sind, stünde dem Standardmodell eine grundlegende Überarbeitung ins Haus. Ebenso wichtig wären wohl die praktischen Konsequenzen. So wie es vor Ernest Rutherfords Entdeckung der Struktur des Atoms im Jahr 1911 undenkbar war, die Kernenergietechnik zu entwickeln, so brächte wohl auch die Entdeckung einer tieferen Ebene der Materie völlig Neues mit sich.

Doch gibt es diese Ebene wirklich? Um eine Antwort zu finden, brauchen Physiker Werkzeuge, um auch ins Innere der Quarks schauen zu können. Die fehlten bislang. Der Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum CERN bei Genf, an dem 2012 das Higgs-Teilchen gefunden wurde, könnte der Aufgabe allerdings schon bald gewachsen sein.


Mehr als genug, um sämtliche Materie zu bilden
Die ersten Hinweise auf eine innere Struktur von Quarks und Leptonen entdeckten Physiker schon vor Jahrzehnten. Protonen und Neutronen bestehen aus zwei Quarksorten, nämlich Up-Quarks und Down-Quarks. Während Up-Quarks mit +2/3 der Protonenladung ausgestattet sind, verfügen Down-Quarks über -1/3 dieser Ladung. Kombiniert man zwei Up-Quarks mit einem Down-Quark oder zwei Down-Quarks mit einem Up-Quark, kommen das Proton beziehungsweise das Neutron heraus. Zusammen mit den Elektronen würden diese beiden Quarksorten also ausreichen, sämtliche Materie im Kosmos zu bilden.

Doch die Forscher fanden zusätzliche Quarks, etwa das Strange-Quark, das die gleiche Ladung wie das Down-Quark besitzt, jedoch schwerer ist, und das noch massereichere Bottom-Quark. Auch das Up-Quark hat noch schwerere Verwandte, nämlich das Charm- und das Top-Quark. Die vier Schwergewichte sind allerdings instabil und zerfallen binnen Sekundenbruchteilen in Up- und Down-Quark. Auch das Elektron hat eine ebenso übergewichtige wie instabile Verwandtschaft: das Myon und das noch schwerere Tau-Lepton. Außerdem kennen die Teilchenphysiker drei Varianten des Neutrinos; alle sind superleicht und elektrisch neutral.

Diese Fülle scheint überflüssig: Wenn bereits Up-Quark, Down-Quark und Elektron ausreichen, um alle Materie im Universum zu bilden, wieso gibt es dann trotzdem so viele verschiedene Teilchen? Diese Frage brachte der US-amerikanische Physiknobelpreisträger Isidor Isaac Rabi auf den Punkt, als er nach der Entdeckung des Myons fragte: »Who ordered that?«, »Wer hat das bestellt?«

Wie man diese mysteriöse Überzahl deuten soll, ist unklar. Einer der Ansätze bestand darin, die Teilchen tabellarisch und schematisch nach ihren Eigenschaften zu ordnen (Kästen unten), ähnlich wie beim ehrwürdigen Periodensystem der Elemente. Letzteres hatte seinerzeit erste Hinweise darauf gegeben, dass die chemischen Elemente womöglich nicht im Wortsinn elementar sind. Die in jeweils denselben Zeilen beziehungsweise Spalten angeordneten Elemente des Schemas wiesen nämlich Gemeinsamkeiten auf, die auf systematische Muster im inneren Aufbau der Atome hindeuteten.

Die analoge Tabelle für Quarks und Leptonen hat drei Spalten. Jede enthält eine so genannte Generation von Teilchen; die rätselhafte Teilchenvielzahl wird entsprechend als Generationenproblem bezeichnet. Ganz links steht die Generation eins. Sie enthält Up- und Down-Quark sowie Elektron und Elektron-Neutrino - also alles, was man braucht, um das uns vertraute Universum zu erklären. In Generation zwei tummeln sich die massereicheren Versionen dieser Teilchen, in drei die ganz schweren. Wie einst beim Periodensystem deuten die Muster in der Tabelle auf die Möglichkeit hin, dass noch kleinere Materiebausteine im Innern der Partikel sich zu unterschiedlichen Konfigurationen zusammenfinden und so die Unterschiede zwischen den Generationen erklären könnten.

Ein weiteres historisches Vorbild für die Suche nach der inneren Struktur von Quarks ist möglicherweise die Entdeckung des radioaktiven Zerfalls. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert rätselte man über einen mysteriösen Prozess, der schier Unerhörtes vollbrachte, nämlich ein chemisches Element in ein anderes umwandelte. Heute wissen wir, dass sich der Traum der mittelalterlichen Alchemisten, Blei in Gold zu verwandeln, erfüllen lässt. Dazu muss lediglich die Zahl der Protonen und Neutronen im Atomkern verändert werden. Mit Hilfe der schwachen Kernkraft kann die nukleare Alchemie sogar Neutronen in Protonen verwandeln und umgekehrt. Dafür ist es nur nötig, dass die Quarks im Innern dieser Elementarteilchen ihre Identität wechseln. Auch Leptonen lassen sich ineinander umwandeln. Lediglich die Verwandlung von Quarks in Leptonen ist nicht möglich, ebenso wenig wie der umgekehrte Weg.

Weisen die Metamorphosen von Quarks und Leptonen auf ein Innenleben der Partikel hin, so wie die Wandlungsfähigkeit der chemischen Elemente deren atomare Struktur widerspiegelt? Forscher haben schon zahlreiche Vorschläge für hypothetische Teilchen gemacht, aus denen Quarks und Leptonen zusammengesetzt sein könnten. Sie tragen unterschiedliche Namen, werden aber alle unter dem Begriff Preonen zusammengefasst. Ein einfaches Preonenmodell stammt von 1979. Der Israeli Haim Harari, der damals am Linear Accelerator Center in Stanford forschte, und der US-Amerikaner Michael Shupe, damals an der University of Illinois, hatten es unabhängig voneinander entwickelt (siehe Kästen unten). Gemeinsam mit seinem Schüler Nathan Seibert erweiterte Harari es 1981 noch, beide arbeiteten damals am israelischen Weizmann Institute of Science.

Diesem Modell zufolge existieren zwei Arten von Preonen: das eine mit einer elektrischen Ladung von +1/3, das andere ohne Ladung. Außerdem hat jedes dieser Preonen ein Pendant aus Antimaterie, das entgegengesetzte Ladung besitzt, also -1/3 und ebenfalls null. Diese Preonen sind Fermionen, also Materieteilchen. Jedes Quark und jedes Lepton besteht aus einer unterschiedlichen Kombination von je drei Preonen. Zum Beispiel ergeben zwei Preonen mit jeweils Ladung +1/3 und ein Preon mit Ladung null das Up-Quark. Dessen Gegenstück aus Antimaterie enthält zwei Preonen mit Ladung -1/3 sowie ein weiteres mit Ladung null.

Das Gegenstück zu den Fermionen sind Bosonen. Erstere sind für die Bildung von Materie zuständig, Letztere für die Übertragung der Kräfte. Dem Modell zufolge bestehen Bosonen aus preonischen Sechserkombinationen. Das positiv geladene W-Boson zum Beispiel, das die schwache Kernkraft überträgt, die sowohl auf Quarks als auch auf Leptonen wirkt, ist demzufolge aus drei Preonen mit +1/3-Ladung und drei weiteren elektrisch neutralen Preonen aufgebaut.

Ausgehend von einer Reihe plausibler Annahmen postulierten Harari und Shupe die jeweilige Zusammensetzung aller Teilchen der ersten Generation. Auch Gluonen, welche die starke Kernkraft vermitteln, also Quarks zu Protonen und Neutronen zusammenfügen, sind dem Modell der beiden Forscher zufolge aus Preonen aufgebaut. Dasselbe gilt für die anderen kraftübertragenden Bosonen.

Der Trick bei der Entschlüsselung jeder inneren Struktur von Quarks, Leptonen und Bosonen besteht darin, die zahllosen Wechselwirkungen dieser Teilchen zu berücksichtigen. Bei der Kollision eines Up-Quarks mit einem Down-Quark aus Antimaterie etwa entsteht ein positives W- Boson. Dieses wiederum zerfällt in ein Positron, also ein Anti-Elektron, und ein Elektron-Neutrino. Im Preonenmodell von Harari und Shupe vereinen sich die beiden aufeinandertreffenden Quarks mit ihren jeweils drei Preonen zu einem W-Boson, das nun alle drei +1/3-Ladungen sowie die drei Nullladungen zu einer ganzen positiven Elementarladung von +1 kombiniert. Der anschließende Zerfall des W-Bosons führt erneut zu einer anderen Konfiguration der sechs Preonen: Sie verteilen sich auf ein Positron mit drei +1/3-Ladungen und auf ein Elektron-Neutrino, das die drei Nullladungen enthält.

Bislang klingt dies nach einem Zahlenspiel - es scheint einfach nur darum zu gehen, dass numerisch alles stimmt. Von einem Preonenmodell wird jedoch mehr erwartet: Es soll Quarks und Leptonen mit einer kleinen Anzahl elementarer Bausteine und einigen wenigen Regeln erklären. Scheinbar verschiedene Teilchen muss es in einem gemeinsamen Erklärungsrahmen vereinen, um die zu Grunde liegende Ordnung zu enthüllen. Dies gelingt sowohl dem Harari-Shupe-Modell als auch konkurrierenden Ansätzen - zumindest für die erste Generation. Betrachten wir aber auch die zweite und dritte Generation von Quarks und Leptonen, werden die Dinge komplizierter. Harari und Shupe interpretierten höhere Generationen als angeregte Zustände der ersten Generation, analog zu Elektronen, die um ein Atom kreisen und von einem niedrigeren Energieniveau auf ein höheres angeregt werden können. Denkbar ist nämlich, dass die Preonen in Teilchen der höheren Generation aus irgendeinem noch unbekannten Grund mehr Energie besitzen und - gemäß der von Einstein formulierten Äquivalenz zwischen Energie und Masse - damit auch mehr Masse.


Physiker entwickeln Preonenmodelle zuhauf
Diese Erklärung mag recht beliebig erscheinen, zumal viele Details des Konzepts noch ungeklärt sind. Doch das spricht nicht unbedingt gegen den Vorschlag: Die meisten Untersuchungen, die am Anfang der Quarktheorie standen, brachten ähnliche Schwierigkeiten mit sich. Genauere mathematische Beschreibungen etwa der starken Kernkraft kamen oft erst später hinzu. Trotzdem muss das Generationenproblem als noch ungelöst gelten. Physiker haben darum konkurrierende Konzepte vorgeschlagen, Preonen etwa, die eine Generationenzahl tragen, oder die so genannte Hyperfarbe, die eine neue Art von Ladung sein soll und Preonen in Quarks und Leptonen aneinander bindet.

Die hier vorgestellte Preonentheorie ist also beileibe nicht die einzige auf dem Markt; buchstäblich Hunderte von Publikationen befassen sich mit anderen Preonenmodellen. Oft weichen sie nur wenig von einander ab. Einige gehen von Preonen mit 1/6- anstelle der 1/3-Ladung aus dem Harari-Shupe-Modell aus, andere von fünf statt von drei Preonen, die sich zu Quarks und Leptonen zusammentun. Wieder andere schlagen eine Mischung aus fermionischen und bosonischen Preonen vor. Manche Physiker kombinieren die Preonen auch auf andere Weise zu Bosonen, als dies die Tabelle rechts zeigt. Welches der Modelle uns auf den richtigen Weg führt, lässt sich ohne weitere experimentelle Daten aber nicht entscheiden.

Viele Forscher fasziniert der Gedanke, dass die vermeintlich kleinsten Einheiten der Materie aus etwas noch Kleinerem bestehen könnten, doch interessieren sie sich auch aus einem weiteren Grund für Preonen. Sollten diese wirklich existieren, könnten sie nämlich auch über ein anderes Geheimnis Auskunft geben. Im Standardmodell der Teilchenphysik gilt das Higgs-Feld als Quelle der Masse von fundamentalen Teilchen. Demnach spüren massebehaftete Teilchen eine Art Widerstand, wenn sie sich durch dieses allgegenwärtige Feld bewegen, während zum Beispiel die masselosen Photonen unbehelligt weiterfliegen.

Falls die Preonen, welche die Teilchen der zweiten und dritten Generation bilden, tatsächlich identisch sind mit denen in der ersten Generation, so müssen sie entweder energetisch angeregt sein und deshalb mehr Masse besitzen. Oder die Preonen in den höheren Generationen sind auf eine besondere Weise angeordnet oder »konfiguriert«, so dass beispielsweise das Top-Quark stärker mit dem Higgs-Feld wechselwirkt als das Up-Quark und dadurch eine höhere Masse gewinnt. Analog dazu kann man sich vorstellen, die Hand aus dem Fenster eines fahrenden Autos zu halten; dann ist ihre Wechselwirkung mit dem Wind mal stärker, mal schwächer, je nachdem, wie die Hand zu ihm orientiert ist. Verstehen wir eines Tages die verborgene Struktur von Quarks und Leptonen und den Unterschied zwischen den Generationen besser, werden wir wohl auch viel über das Higgs-Feld dazulernen.

Wie andere Theorien haben auch Preonenmodelle ihre Probleme. Zum einen schlugen alle Versuche fehl, die postulierten Teilchen tatsächlich zu entdecken. Doch das ist vielleicht nur eine Frage unserer experimentellen Möglichkeiten. Manche Einwände hingegen sind untrennbar mit der Theorie selbst verbunden. Einer betrifft das Confinement, das »Eingesperrtsein« von Teilchen. Solche Partikel teilen sich mit anderen ihrer Art ein Volumen - wie die Quarks, die in einem Proton oder Neutron eingesperrt sind -, lassen sich aber prinzipiell nicht voneinander isolieren, kommen also nie als freie Teilchen vor. In jeder »confining theory« sind die relevanten Massen umgekehrt proportional zur Größe des Volumens: je kleiner das Volumen, desto größer die Masse. Eingesperrt in einem winzigen Quark, müssten Preonen eine sehr große Masse besitzen und folglich auch die Quarks. Doch die Masse der Up- und Down-Quarks in einem Proton können wir messen - und die ist sehr klein. Wie kommt es, dass ein Objekt weniger als die Summe seiner Teile zu sein scheint, und schlimmer noch: sogar weniger als jedes einzelne seiner Teile?

Das Problem scheint unüberwindbar. Und doch haben Physiker schon einmal eine ähnliche Klippe umschifft. Ein bestimmtes Boson, das Pion, setzt sich aus einem Quark und einem Anti-Quark zusammen, und auch dabei taucht das rätselhafte Confinement-Problem auf. Eine Idee, die der Brite Jeffrey Goldstone bereits 1961 am CERN skizzierte, brachte Theoretiker jedoch auf die Idee, dass Symmetrien in der zu Grunde liegenden Theorie diese Schwierigkeit überwinden können. Die geringe Pion-Masse war in diesem Licht betrachtet dann keine wirkliche Überraschung mehr.

Leider gilt diese Überlegung nur für Bosonen, aber nicht für Fermionen wie die Quarks. Im Jahr 1979 erarbeitete Gerard 't Hooft von der niederländischen Universität Utrecht jedoch einen verwandten Ansatz, der auch für Fermionen funktionieren könnte. Ob sich sein Konzept auf reale Teilchen anwenden lässt, ist noch nicht entschieden, doch möglicherweise sind die theoretischen Klippen, vor die uns das Problem der Quarkmassen stellt, doch nicht so hoch, wie sie zunächst erschienen.


Koexistenz von Superstrings und Preonen?
Physiker sind noch andere Wege zur Lösung des Generationenproblems gegangen. Ein prominentes Konzept betrachtet die kleinsten Bausteine der Materie nicht als Teilchen, sondern als winzige schwingende Saiten, die Superstrings genannt werden. Jedes Teilchen des Standardmodells kann demnach als bestimmte Note gedacht werden, die auf einem solchen String erklingt. Die Realität wäre, etwas pathetisch formuliert, die orchestrale Inszenierung einer kosmischen Symphonie von Superstrings. Superstrings und Preonen schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus, sondern wären zu friedlicher Koexistenz fähig. Denn Erstere sind viel kleiner als Quarks und Leptonen - beide wären also auf sehr unterschiedlichen Größenskalen beheimatet. Sollten Superstrings tatsächlich existieren, könnten folglich nicht nur Quarks und Leptonen aus ihnen bestehen, sondern auch Preonen, Pre-Preonen oder Pre-Pre-Preonen - je nachdem, wie viele unentdeckte Ebenen die Materie noch zu bieten hat.

Eine weitere Alternative beschrieb Sundance Bilson-Thompson, Forscher an der südaustralischen University of Adelaide, der sich Preonen als gewundene Zöpfe in der Raumzeit vorstellt. Sein Modell, das er erstmals 2005 präsentierte, steckt zwar noch in den Kinderschuhen. Trotzdem analysieren Physiker bereits dessen Implikationen, nicht zuletzt, weil man auf diesem Weg vielleicht die lange gesuchte Quantentheorie der Schwerkraft finden und damit auch die Gravitation in das Standardmodell integrieren kann.

Letztlich bleibt die Physik aber eine experimentelle Wissenschaft. Wie ausgefeilt eine Theorie auch sein mag: Passt sie nicht zu den Messungen, hat sie den entscheidenden Test nicht bestanden. Was also können Experimentatoren tun, um die Existenz von Preonen nachzuweisen oder zu widerlegen? Sie müssen nach kleinen Abweichungen von den Vorhersagen des Standardmodells suchen, gleichsam nach winzigen Rissen im Gebäude der Teilchenphysik. Denn möglicherweise sind es Preonen, mit denen sie sich erklären lassen.

Insbesondere zwei Aspekte lohnen einer genaueren Untersuchung, zum Ersten die Größe. Wie schon erwähnt, behandelt das Standardmodell Quarks und Leptonen als Punktteilchen ohne innere Struktur und mit der Größe null. Besäßen die Teilchen eine endliche Größe, wäre dies ein gewichtiges Argument für die Existenz von Preonen. Der Radius von Protonen und Neutronen, so zeigen Messungen an Teilchenbeschleunigern, liegt bei rund 10-15 Meter. Immer wieder suchte man auch nach Hinweisen auf eine messbare Größe von Quarks oder Leptonen. Bisherigen Experimenten zufolge sind sie auf jeden Fall kleiner als 1 Tausendstel, manchen Messungen zufolge sogar kleiner als 0,2 Tausendstel der Protonengröße. Sie sind also entweder sehr, sehr winzig - oder haben vielleicht doch eine Ausdehnung von null. Um zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu unterscheiden, sind aber viel genauere Messungen nötig. Die riesigen Datenmengen des LHC und die höheren Energien, die er nach seiner Wartungsphase erreichen wird, bieten die Chance, sie durchzuführen.

Zweitens müssen die Forscher den Spin und das magnetische Moment der Teilchen genauer untersuchen, zumindest an Leptonen wie dem Elektron. Sehr vereinfacht kann man sich das Elektron als rotierende Kugel vorstellen; es besitzt, wie Physiker sagen, den Spin 1/2. Die Kombination von Spin und Ladung verleiht ihm darüber hinaus ein magnetisches Moment, was nichts anderes bedeutet, als dass es sich wie ein Magnet mit Nord- und Südpol verhält. Dieses magnetische Moment sollte einen ganz bestimmten Wert besitzen, wenn das Elektron tatsächlich punktförmig ist und Spin 1/2 besitzt. Falls Messungen am Elektron (oder auch am Myon) abweichende Werte ergäben, läge ein starkes Argument gegen die Annahme punktförmiger Teilchen auf dem Tisch.

Die magnetischen Momente von Elektron und Myon weichen tatsächlich leicht von denen eines Punktteilchens ab. Diese kleine Differenz hat jedoch nichts mit Preonen zu tun, denn sie lässt sich im Rahmen des Standardmodells erklären. Jedes Lepton ist von einer Art flimmernder Wolke umgeben, in der so genannte virtuelle Teilchen kontinuierlich aus dem Nichts entstehen, aber auch sogleich wieder vergehen. Da diese virtuelle Teilchenwolke eine endliche Größe hat, verändert sie das magnetische Moment des Leptons; der Einfluss liegt im Promillebereich. Die Effekte von Preonen wären sogar noch kleiner, könnten sich aber trotzdem nachweisen lassen, etwa am Myon-g-2-Experiment des Fermilab bei Chicago, dessen Genauigkeit diejenige bisheriger Messungen um den Faktor vier übertreffen wird.


Nach Jahrzehnten des Stillstands steigt die Stimmung
Vielleicht tauchen die Preonen aber auch bei Zerfällen anderer Teilchen auf, etwa dem eines Myons in ein Elektron und ein Photon. Das könnte geschehen, wenn die höheren Generationen tatsächlich angeregte Zustände der ersten wären. Auf der Suche nach einem solchen Zerfall haben sich Physiker bereits durch riesige Datenmengen von Teilchenbeschleunigern gewühlt, bislang erfolglos. Wenn es ihn überhaupt gibt, tritt er mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 1 zu 100 Milliarden auf.

Bislang stehen alle Messungen im Einklang mit der Hypothese, dass Quarks und Leptonen Punktteilchen mit Spin 1/2 sind. Für diejenigen von uns, die wir das Generationenproblem begeistert als Hinweis auf noch unentdeckte physikalische Phänomene aufgefasst haben, waren die letzten Jahrzehnte daher enttäuschend. Doch nun steigt die Stimmung wieder. 2011 kollidierten am LHC Protonenbündel bei einer Energie von 7 Billionen Elektronvolt (7 TeV). Das ist mehr als das 3,5-Fache des Weltrekords, den das Tevatron am Fermilab über ein Vierteljahrhundert lang gehalten hatte. In Genf wurden allein in diesem einen Jahr Daten von etwa halb so vielen Kollisionen aufgezeichnet wie während des gesamten 28-jährigen Betriebs des US-Beschleunigers.

2012 steigerte der LHC seine Energie geringfügig auf 8 TeV. Für die Suche nach Preonen war der Zuwachs dennoch wichtig: Er bedeutete eine Verfünffachung der Kollisionen, die bei höchsten Energien stattfanden. Gerade bei diesen finden die Wechselwirkungen auf Skalen statt, auf denen sich Preonen offenbaren könnten. Außerdem kamen 2012 Verbesserungen im Beschleunigerbetrieb zum Tragen, die viermal so viele Kollisionen wie zuvor möglich machten. Beides zusammengenommen bescherte den Preonenjägern mehr als das 20-Fache an interessanten Kollisionen. Durch ihre Auswertungen konnten sie die obere Grenze für die mögliche Größe der Preonen bereits auf den halben Wert reduzieren. Diesen Wert werden wir demnächst noch ein weiteres Mal halbieren können - vielleicht finden wir aber auch schon die Preonen selbst.

Das US-amerikanische Fermilab ist ebenfalls weiter im Spiel. Dessen Tevatron ist zwar seit 2011 stillgelegt (siehe »Abschied vom Tevatron«, SdW 1/2012, S. 46), so dass die Fermilab-Beschleuniger nicht mehr im Wettlauf um die höchsten Energien antreten. Stattdessen konzentrieren sich die Forscher auf die Erhöhung der Strahlintensität. So wollen sie mit bislang unerreichter Präzision seltene Phänomene in den Fokus nehmen. Zwei der Experimente sind für die Preonensuche besonders wichtig: zum einen das schon erwähnte Myon-g-2-Experiment zur Vermessung des magnetischen Moments des Myons, zum anderen die Suche nach Myonen, die in ein einzelnes Elektron zerfallen, ohne dabei Neutrinos zu produzieren.

Die Jagd nach Substrukturen in Quarks und Leptonen nimmt also wieder an Fahrt auf. Während Sie diesen Artikel lesen, durchkämmen meine Kollegen und ich den gewaltigen Wust an LHC-Daten nach Belegen für eine endliche Größe von Quarks und Leptonen. Außerdem wollen wir klären, ob es vielleicht eine vierte Generation dieser Teilchen gibt und auch nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob die krafttragenden Bosonen ebenfalls in Generationen organisiert sind - ob insbesondere die W- und Z-Bosonen der schwachen Kernkraft schwerere Verwandte haben.

Wie vor drei Jahrzehnten, als das Tevatron in Betrieb ging, beginnt also erneut ein wissenschaftliches Abenteuer. Dieses Mal werden wir unsere Pfade noch tiefer in das Dickicht des subatomaren Reichs schlagen. Denjenigen, die nach den wirklich fundamentalen Bausteinen des Universums fahnden, stehen aufregende Zeiten bevor.



KÄSTEN

Landkarte der Teilchen

Die Teilchenphysik fußt auf einer umfassenden Theorie, dem so genannten Standardmodell, das alle bekannten fundamentalen Teilchen beschreibt sowie - mit Ausnahme der Gravitation - die Kräfte, die zwischen ihnen wirken. Es enthält zwei Familien von Teilchen: die Fermionen, zu denen alle elementaren Bestandteile der Materie gehören, und die Kräfte übertragenden Bosonen.

Fermionen lassen sich in drei so genannten Generationen anordnen; die Teilchenmassen nehmen dabei von Generation zu Generation zu.

Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.



Preonen für Einsteiger

Möglicherweise sind Quarks und andere Elementarteilchen aus Preonen aufgebaut. Für die Beschreibung der noch hypothetischen Partikel haben Physiker verschiedene Konzepte entwickelt. Eines davon, das Harari-Shupe-Modell, geht auf das Jahr 1979 zurück. Ihm zufolge gibt es zwei Arten von Preonen sowie je eine Antimaterieversion dieser Teilchen. Preonen können einerseits Materieteilchen bilden, also Fermionen (obere Tabelle), andererseits auch Bosonen (untere Tabelle). Bosonen sind für die Übertragung der fundamentalen Kräfte zuständig.

Fermionen: die Teilchen der Materie
Die beiden Preonen dieses Modells kann man als + und 0 darstellen. Das + hat eine elektrische Ladung von +1/3, 0 ist ungeladen. Zusätzlich haben beide einen entsprechenden Begleiter aus Antimaterie, der entgegengesetzte Ladung trägt. - hat also eine Ladung von - 1/3, während 0- für das ungeladene Anti-Preon steht. Im Harari-Shupe-Modell werden je drei Preonen gebraucht, um Quarks beziehungsweise Leptonen zu bilden.

Ladung
enthaltene Preonen
Teilchen
+1
+2/3
+1/3
0
0
-1/3
-2/3
-1
 + + +
 + + 0
 + 0 0
 0 0 0
 0- 0- 0-
 - 0- 0-
 - - 0-
 - - -
Antielektron (Positron)
Up-Quark
Anti-Down-Quark
Elektronneutrino
Anti-Elektronneutrino
Down-Quark
Anti-Up-Quark
Elektron

Bosonen: die kraftübertragenden Teilchen
Auch Bosonen setzen sich dem Modell zufolge aus Preonen zusammen. Diese formieren sich in Zweier- oder Sechsergruppen, um das Photon (das Kraftteilchen des Elektromagnetismus), das Gluon (starke Kernkraft) und das W+-, das W--und das Z-Boson (alle drei für die schwache Kernkraft) zu bilden. Die verwickelten Details im Zusammenhang mit dem Gluon - ein Teilchen, das für die Bindungskräfte zwischen den Quarks im Atomkern sorgt - sind hier nicht dargestellt.

Ladung
Enthaltene Preonen
Teilchen
+1
-1
0

0
 + + + 0 0 0
 - - - 0- 0- 0-
 0 0 0 0- 0- 0-
 + + + - - -
 + + - - 0 0-
 + - 0 0- 0 0-
 + -
positives W-Boson
negatives W-Boson

Z-Boson
(vier Varianten)

Photon



Materie im Zoom

Falls Preonen existieren, sind sie unvorstellbar winzig. Sie müssten schließlich in ein Quark hineinpassen! Quarks wiederum müssen klein genug sein, um in ein Proton zu passen. Keines der bisherigen Experimente widerspricht allerdings einer möglichen Quarkgröße von null; eine innere Struktur dieser Teilchen wäre dann ausgeschlossen. Mit künftigen Experimenten werden Physiker jedoch genauer hinschauen. Sollten sie feststellen, dass die Quarks doch eine Ausdehnung besitzen, erhielte die Preonen-Hypothese starken Auftrieb.

Regentropfen - 10-3 Meter
Wassermolekül - 2,8 x 10-10 Meter
Wasserstoffatom - 1,1 x 10-10 Meter
Proton - 1,7 x 10-15 Meter
Quark - kleiner als 10-18 Meter
Preon (hypothetisch) punktförmig oder aus noch
kleineren Komponenten zusammengesetzt

*

DIE SERIE IM ÜBERBLICK

Große Fragen der Physik

Teil 1 - Einstein im Quantentest von Domenico Giulini, Oktober 2013
Teil 2 - Teilchenschleudern der Zukunft von Gerhard Samulat, November 2013
Teil 3 - Das Innenleben der Quarks von Don Lincoln, Dezember 2013


DER AUTOR
Don Lincoln ist leitender Wissenschaftler am Fermilab bei Chicago, arbeitet aber auch am Genfer Forschungszentrum CERN. Seit Jahrzehnten ist er der inneren Struktur von Quarks und Leptonen auf der Spur. Für seine populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen erhielt er 2013 den HEPP Outreach Award der Europäischen Physikalischen Gesellschaft.

LITERATURTIPP
Lincoln, D.: Die Weltmaschine: Der LHC und der Beginn einer neuen Physik. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2011

WEBLINKS
Den Link auf eine Leseprobe zu Don Lincolns Buch sowie Verweise auf wissenschaftliche Publikationen zu Preonen finden Sie im Internet unter: www.spektrum.de/Artikel/1210963


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S.46-47:
Verbergen Quarks (in der Illustration rot dargestellt) ein Geheimnis? Manche Forscher glauben, dass sie in ihrem Inneren weitere Partikel beherbergen könnten, die Preonen (gelb).


© 2013 Don Lincoln, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 12/13 - Dezember 2013, Seite 46 - 53
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2014