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ASTRO/190: Die dunkle Seite der Milchstraße (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 5/12 - Mai 2012

Die dunkle Seite der Milchstraße

Der Außenrand unserer Galaxis ist wellenförmig verbogen, ähnlich dem dezenten Schwung einer eleganten Hutkrempe. Als Erklärung bieten sich Schwerkrafteffekte der Dunklen Materie an.

von Leo Blitz


AUF EINEN BLICK
Eine geheimnisvolle Macht

1. Obwohl das Wesen der Dunklen Materie noch unbekannt ist, vermag sie zu erklären, warum die äußere Scheibe der Milchstraße eine deutliche Verbiegung aufweist.

2. Ohne Mitwirkung der Dunklen Materie reicht die Schwerkraft der um die Milchstraße laufenden Satellitengalaxien bei Weitem nicht aus, um die Scheibe so stark zu deformieren.

3. Modelle sagen weitaus mehr Satellitengalaxien voraus, als tatsächlich beobachtet werden. Offenbar bestehen diese Objekte vorwiegend aus Dunkler Materie und lassen sich deshalb nur sehr schwer entdecken.


Für mein erstes Forschungsprojekt an der University of California in Berkeley maß ich 1978 die Rotationsgeschwindigkeit von riesigen sternbildenden Gaswolken, die weit draußen um das Zentrum unserer Galaxienscheibe kreisen. Ich hatte die damals genaueste Methode zur Bestimmung dieser Geschwindigkeiten entwickelt und zeichnete gerade die Resultate per Hand auf Millimeterpapier, als zwei weitere Milchstraßenexperten vorbeikamen, Frank Shu und Ivan King. An dem entstehenden Diagramm erkannten wir sofort, dass die Galaxis vor allem an ihren Rändern riesige Mengen nicht sichtbarer Materie enthalten muss. Wir überlegten hin und her, woraus diese »Dunkle Materie« wohl bestehen mochte, aber all unsere Spekulationen erwiesen sich rasch als falsch.

In den 1970er und 1980er Jahren kamen viele Astronomen zu dem Schluss, dass der größte Teil der Materie im Universum aus einer mysteriösen Substanz bestehen muss, die Strahlung weder aussendet noch absorbiert und sich nur durch ihre Schwerkraft bemerkbar macht. Wie die Messungen der WMAP-Raumsonde unterdessen bestätigt haben, trägt die Dunkle Materie fünfmal so viel zur Masse im Universum bei wie die gewöhnliche Materie aus Protonen, Neutronen, Elektronen und so fort. Mangels besseren Wissens wird derzeit meist angenommen, die Dunkle Materie bestehe aus exotischen Teilchen, die von bislang unbewiesenen Theorien vorhergesagt werden und noch nie in Teilchenbeschleunigern aufgetaucht sind (siehe »Der verborgene Bauplan des Universums« von Jonathan Feng und Mark Trodden, Spektrum der Wissenschaft 1/2011, S. 38). Eine besonders radikale Hypothese behauptet gar, das newtonsche Gravitationsgesetz und Einsteins allgemeine Relativitätstheorie seien falsch oder müssten zumindest modifiziert werden.

Trotz dieser Ungewissheit erklärt die Dunkle Materie einige rätselhafte Eigenschaften der Milchstraße. Zum Beispiel wissen die Astronomen seit mehr als 50 Jahren, dass die Ränder der Galaxis verbogen sind wie eine auf der Heizung vergessene Schallplatte. Erst die Wirkung der Dunklen Materie liefert dafür eine plausible Erklärung. Außerdem sagen Computermodelle der Galaxienbildung mit Dunkler Materie voraus, unsere Galaxis sei von Hunderten oder gar Tausenden kleiner Satellitengalaxien umgeben. Zunächst wurden zwar nur zwei Dutzend solcher Zwerggalaxien beobachtet, doch in den letzten Jahren entdeckten Astronomen immer mehr davon.

Um die Rolle der Dunklen Materie zu verstehen, brauchen wir zunächst ein grobes Bild vom Aufbau der Galaxis. Die gewöhnliche Materie - Sterne und Gas - bildet vier Strukturen:

  • eine dünne Scheibe, welche die Spiralarme und den Ort unserer Sonne enthält;
  • einen dichten Kern, der ein supermassereiches Schwarzes Loch birgt;

- eine längliche Verdickung namens Balken sowie - einen kugelförmigen Hof oder »Halo« aus alten Sternen und Sternhaufen, der die übrige Galaxis umhüllt.


Unsichtbarer Einfluss

Die Dunkle Materie ist ganz anders angeordnet. Obwohl wir sie nicht sehen können, lässt sich ihre Lage aus den Rotationsgeschwindigkeiten der Sterne und Gase erschließen. Auf Grund ihrer Gravitationswirkung auf das sichtbare Material muss die Dunkle Materie annähernd kugelförmig verteilt sein und sich weit über den stellaren Halo hinaus erstrecken, wobei ihre Dichte im Zentrum am größten ist und mit dem Quadrat des Abstands vom Zentrum abfällt. Eine solche Verteilung wäre das natürliche Ergebnis einer so genannten hierarchischen Vereinigung: Nach einer gängigen Annahme verschmolzen im frühen Universum kleinere Galaxien sukzessive zu größeren wie der Milchstraße.

Jahrelang mussten sich die Astronomen mit dem simplen Bild der Dunklen Materie als einer riesigen Kugel aus unbekanntem Material begnügen. Doch in letzter Zeit konnten wir einige interessante Details herausarbeiten; demnach ist das Material nicht gleichmäßig verteilt, sondern bildet großräumige Klumpen.

Dieser Umstand vermag ein seltsames Phänomen zu erklären: warum die Galaxis verbogen ist. In den Außenbereichen der Scheibe, mehr als 50.000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt, findet sich fast nur atomares Wasserstoffgas nebst wenigen Sternen. Und dieses Gas liegt, wie Vermessungen mittels Radioteleskopen zeigen, nicht in der Ebene der Milchstraße, wobei die Abweichung nach außen immer mehr zunimmt. Bei einem Radius von mehr als 75.000 Lichtjahren weicht die Scheibe um gut 7500 Lichtjahre von der Ebene ab (siehe die Darstellung auf den folgenden Seiten).

Offenbar oszilliert das Gas auf und ab, durch die Ebene hindurch, während es mit der Scheibe um das galaktische Zentrum kreist. Diese Schwingungen dauern hunderte Millionen Jahre; wir beobachten nur einen winzigen Moment in diesem Zyklus. Im Grund verhält sich das Gas wie ein gewaltiger, in Zeitlupe vibrierender Gong - und wie ein solcher Klangkörper kann es mit mehreren Frequenzen schwingen, deren jede einer bestimmten Form des Körpers entspricht. Meine Kollegen und ich zeigten 2005, dass die beobachtete Verbiegung die Summe von drei Frequenzen darstellt, wobei der tiefste »Ton« 64 Oktaven unter dem eingestrichenen C liegt. Das Gesamtergebnis ist asymmetrisch: Auf der einen Seite der Galaxis liegt das Gas viel weiter außerhalb der Ebene als auf der anderen.

Als Radioastronomen in den 1950er Jahren die Verbiegung erstmals bemerkten, vermuteten sie als Ursache die Gravitationsanziehung der Magellanschen Wolken. Diese massereichsten Satellitengalaxien laufen schräg zur Milchstraßenebene und könnten mit ihrer Schwerkraft die Scheibe verzerren. Doch nach detaillierten Berechnungen erweisen sich diese Kräfte als viel zu schwach; im Vergleich zur Milchstraße sind die Magellanschen Wolken einfach winzig. Jahrzehntelang blieb der Grund für die ausgeprägte Verbiegung daher ein Rätsel.


Der galaktische Gong

Das änderte sich erst, als man erkannte, dass die Milchstraße Dunkle Materie enthält; überdies wurde die Masse der Magellanschen Wolken durch neue Schätzungen nach oben korrigiert. Da die Gasscheibe einem riesigen Gong gleicht, kann der Umlauf der Magellanschen Wolken durch den Halo aus Dunkler Materie wie ein Schlegel wirken, der den Gong in Resonanzschwingungen versetzt - allerdings indirekt. Die Wolken erzeugen in der Dunklen Materie eine Nachströmung, ähnlich der Kielwelle hinter einem Ozeandampfer. Dadurch wird die sonst gleichmäßige Verteilung der Dunklen Materie lokal gestört, und erst das wirkt als der Gongschlegel, der die massearmen Außenbezirke der Scheibe in Schwingung versetzt. Allein wären die Magellanschen Wolken dafür zu schwach, aber die Dunkle Materie verstärkt ihre Wirkung gehörig.

Auf diese Idee kam Martin D. Weinberg von der University of Massachusetts Amherst 1998; später wandte er sie zusammen mit mir auf Beobachtungen der Milchstraße an, und damit konnten wir rechnerisch die drei Vibrationsmuster der Gasscheibe wiedergeben. Demnach wandelt sich die Form der Milchstraße kontinuierlich, während die Magellanschen Wolken ihre Kreise ziehen.

Die Verbiegung stellt nicht die einzige Asymmetrie in der Form der Milchstraße dar. Besonders ausgeprägt ist die einseitige Verdickung der äußeren Gasscheibe, die ebenfalls mit Radioteleskopen entdeckt wurde. Wenn man sich quer durch die Milchstraße eine Gerade vorstellt, auf der die Sonne und das galaktische Zentrum liegen, dann ist die Gasschicht auf der einen Seite der Galaxis rund doppelt so dick wie auf der anderen. Diese starke Asymmetrie ist instabil und sollte sich eigentlich mit der Zeit ausgleichen; es muss also einen Mechanismus geben, der sie aufrechterhält. 30 Jahre lang kannten die Astronomen das Problem, kehrten es aber unter den Teppich.

Zwei mögliche Erklärungen für das Phänomen berufen sich auf Dunkle Materie. Entweder ist die Milchstraße gegenüber dem kugelförmigen Halo der Dunklen Materie etwas verschoben, oder - wie Kanak Saha vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching meint - der Halo selbst ist nicht ganz symmetrisch. Beide Hypothesen stellen die alte Ansicht der Astronomen in Frage, Milchstraße und Halo wären gemeinsam aus der Verdichtung einer einzigen gigantischen Materiewolke hervorgegangen und hätten darum denselben Mittelpunkt. Insofern ist die Asymmetrie ein weiteres Indiz dafür, dass die Galaxis aus der Vereinigung kleinerer Einheiten hervorging und durch fortwährendes Einsammeln von intergalaktischem Gas weiterwuchs, denn beide Prozesse müssen nicht symmetrisch ablaufen. Da Gas, Sterne und Dunkle Materie sich unterschiedlich verhalten, muss das Zentrum der Galaxis nicht mit dem der Dunklen Materie übereinstimmen.

Um diese Idee zu prüfen, untersuchen Forscher die langen und dünnen Sternströme, die sich durch die Außenbereiche der Milchstraße ziehen. Diese Formationen sind die lang gezogenen Überbleibsel früherer Satellitengalaxien. Die meisten um die Milchstraße kreisenden Begleiter sind sphärische Zwerggalaxien: Sie sind rundlich, und ihre Masse beträgt meist nur ein Zehntausendstel von jener der Milchstraße. Mit der Zeit trudelt der Satellit aus seiner Bahn und gerät unter den Einfluss der galaktischen Gezeitenkräfte; diese ziehen die Zwerggalaxie zu einem dünnen Faden auseinander (siehe »Die Schatten galaktischer Welten« von Rodrigo Ibata und Brad Gibson, Spektrum der Wissenschaft 9/2007, S. 52). Da die Sterne in diesen Strömen die Galaxis in riesigen Entfernungen umkreisen, wo die Gravitationseffekte der Dunklen Materie groß sind, gibt der Verlauf der Ströme Auskunft über die Form des Halos. Wäre der Halo nicht vollkommen kugelförmig, sondern etwas abgeflacht, würde er auf die Bahnen der Sterne im Strom eine Drehkraft ausüben und sie deutlich von einem Großkreis ablenken. Wie sich zeigt, sind die Ströme sehr dünn und bilden fast perfekte Großkreise um die Milchstraße. Computersimulationen von Ibata sprechen darum für eine annähernd sphärische Verteilung der Dunklen Materie; dennoch könnte sie ein klein wenig ungleichmäßig sein, wie beispielsweise Saha annimmt.


Die deformierte Galaxis
Die meisten Sterne und Gasmassen der Milchstraße bilden eine riesige Scheibe. Sie ist nicht völlig eben, sondern merklich gewellt - ähnlich einer schadhaften Schallplatte.
Renaissance einer alten Hypothese
In den 1950er Jahren vermuteten Physiker, die Schwerkraft zweier Satellitengalaxien, der Großen und der Kleinen Magellanschen Wolke, verursache die Verbiegung. Die Hypothese wurde verworfen, weil die Satelliten viel zu wenig Masse haben, um die Galaxis zu deformieren. Doch wie Astronomen heute wissen, ist der sichtbare Teil der Milchstraße von einer riesigen Kugel Dunkler Materie umgeben. Sie könnte die Gravitationswirkung der Wolken verstärken und so die Verbiegung erklären.
Ein gewaltiger Gong
Die Verbiegung entspricht der Momentaufnahme einer Wellenbewegung, als wäre die Galaxis ein riesiger Gong. Die Welle setzt sich aus drei Resonanzschwingungen der Scheibe zusammen. Die durch Dunkle Materie verstärkte Schwerkraft der Magellanschen Wolken bildet den Schlegel, der den Gong in Schwingung versetzt.
Wie ein Schiff auf hoher See hinterlassen die Magellanschen Wolken beim Durchqueren der Dunklen Materie eine Kielwelle. Die dadurch veränderten Gravitationskräfte erzeugen die beobachtete Verbiegung der Milchstraßenscheibe.
Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.

Die versteckten Zwerge

Nicht nur die Zerstörung der Zwerggalaxien wirft Fragen auf, sondern auch ihre Entstehung. Nach den heutigen theoretischen Modellen beginnen Galaxien als Ansammlungen Dunkler Materie, die dann Gas und Sterne anziehen und so sichtbar werden. Der Vorgang erzeugt nicht nur große Galaxien wie unsere Milchstraße, sondern auch zahlreiche kleine. Nun sagen die Simulationen zwar deren Eigenschaften halbwegs richtig voraus, ergeben aber viel mehr solche Zwerggalaxien, als bisher beobachtet wurden. Was ist der Grund?

Einen Teil der Antwort liefern neue Analysen des Sloan Digital Sky Survey, einer systematischen Durchmusterung eines Viertels des Sternenhimmels. Dabei wurde rund ein Dutzend neuer, extrem schwach leuchtender Galaxien gefunden, die um die Milchstraße ziehen. Ihre Entdeckung war eine Überraschung, denn der Himmel wird seit Langem so gründlich durchsucht, dass Galaxien auf unserer kosmischen Türschwelle doch wohl kaum unentdeckt bleiben konnten. Aber diese ultraschwachen Zwerge enthalten manchmal nur ein paar hundert Sterne. Sie sind so schwach und diffus, dass sie auf normalen Aufnahmen nicht erscheinen; erst spezielle Methoden der Datenverarbeitung halfen, sie zu identifizieren.

Hätte der Sloan Survey den gesamten Himmel erfasst, ließen sich darin vielleicht weitere 30 bis 40 ultraschwach leuchtende Galaxien entdecken. Doch auch das würde nicht erklären, warum so viele Zwerge »fehlen«. Darum suchen die Astronomen nach anderen Möglichkeiten. Gibt es viele solcher Galaxien, die für heutige Teleskope zu weit entfernt liegen? Der Sloan Survey vermag derartige Zwerge nur bis zu einer Entfernung von 150.000 Lichtjahren aufzuspüren. Erik Tollerud von der University of California in Irvine nimmt an, dass rund 500 unentdeckte Galaxien die Milchstraße umkreisen - in Abständen von bis zu einer Million Lichtjahren vom Zentrum. Sie werden vielleicht mit einem neuen optischen Fernrohr gefunden, dem Large Synoptic Survey Telescope; es erfasst ein achtmal größeres Gebiet als das Sloan-Teleskop. Der Bau dieses Observatoriums begann im März 2011; gegen 2020 soll es den Betrieb aufnehmen.

Eine andere Hypothese besagt, dass um die Milchstraße Galaxien kreisen, die noch trüber sind als die schwächsten bisher nachgewiesenen Zwerge und vielleicht überhaupt keine Sterne enthalten. Sie bestünden fast nur aus Dunkler Materie. Solche Objekte sind nur sichtbar, wenn sie zudem auch Gas enthalten. Dieses wäre so diffus, dass es nur sehr langsam abkühlt - zu langsam, um Sterne zu bilden. Radiotele skope, die große Himmelsbereiche durchmustern, könnten das Gas dennoch entdecken.

Falls diese Galaxien jedoch überhaupt keine normale Materie enthielten, würden sie sich nur indirekt verraten: durch ihre Gravitationswirkung. Durchquert eine solche dunkle Galaxie die Scheibe der Milchstraße, stört sie - wie ein in einen stillen Teich geworfener Stein - die Geschwindigkeitsverteilung von Gas und Sternen. Leider wäre der Effekt sehr klein und von anderen Phänomenen kaum zu unterscheiden; denn alle Spiralgalaxien weisen in ihren Scheiben aus atomarem Wasserstoff Störungen auf, die Wellen auf rauer See gleichen.

Falls die dunkle Galaxie genügend Masse hat, lässt sich ihr Durchgang mit einer unter anderem von Sukanya Chakrabarti von der Florida Atlantic University in Boca Raton und mir ausgeheckten Methode nachweisen. Wie wir kürzlich zeigten, werden die größten Störungen in den Galaxienrändern oft von den Gezeitenkräften vorbeiziehender Galaxien erzeugt. Durch genaue Analyse der Störungen können wir auf Masse und Ort der Eindringlinge schließen. So lassen sich sogar solche aufspüren, deren Masse nur ein Tausendstel der Hauptgalaxie beträgt. Unser Team vermutet, dass sich in der Ebene der Milchstraße eine unentdeckte, möglicherweise dunkle Galaxie verbirgt, die rund 300.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum entfernt liegt. Nun wollen wir in den vom Spitzer-Weltraumteleskop gesammelten Infrarotdaten nach dieser Galaxie suchen.


Zu wenig Licht

Ultraschwache und dunkle Galaxien sind nicht nur schwer zu finden, sondern geben ein grundlegendes Rätsel auf, das die in ihnen enthaltene Materie betrifft. Normalerweise stellen Astronomen die Menge des in einer Galaxie vorhandenen Materials anhand des Masse-Licht-Verhältnisses dar: die Masse des Materials dividiert durch den Gesamtbetrag des ausgesandten Lichts. Als Norm gilt die Sonne; ihr Masse-Licht-Verhältnis wird als 1 definiert. Da ein durchschnittlicher Stern in unserer Galaxis etwas masseärmer und viel lichtschwächer als die Sonne ist, liegt das gesamte Masse-Licht-Verhältnis der Milchstraße eher bei 3. Unter Einbeziehung der Dunklen Materie springt das gesamte Masse-Licht-Verhältnis auf rund 30.

Josh Simon von der Carnegie Institution in Washington und Maria Geha von der Yale University in New Haven (Connecticut) maßen die Sterngeschwindigkeiten in acht ultra schwachen Zwerggalaxien, um deren Masse zu bestimmen. In manchen Fällen beträgt das Masse-Licht-Verhältnis mehr als 1000 - bei Weitem der höchste jemals beobachtete Wert. Im gesamten Universum liegt das Verhältnis von Dunkler zu gewöhnlicher Materie fast exakt bei 5. Warum ist das Masse-Licht-Verhältnis des Milchstraßensystems so viel größer?

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder haben Galaxien mit überdurchschnittlichem Masse-Licht-Verhältnis mehr Masse als erwartet, oder sie erzeugen weniger Licht. Die Astro nomen glauben, dass Letzteres die Ursache ist. Da Galaxien mit geringerer Masse weniger Schwerkraft haben, verlieren sie mehr von ihrem Gas und leuchten infolgedessen außergewöhnlich schwach. Ein großer Anteil der gewöhnlichen Materie strahlt demnach so geringfügig, dass wir sie nicht sehen. Entweder hat sie sich niemals zu Galaxien und Sternen versammelt, oder sie hat zwar einmal Galaxien gebildet, wurde aber wieder in den intergalaktischen Raum ausgestoßen und ist dort in ionisierter Form für heutige Teleskope unsichtbar (siehe »Die verschwundenen Galaxien« von James E. Geach, Spektrum der Wissenschaft 10/2011, S. 44).

Ironischerweise sind die Astronomen bei der Erforschung unserer Milchstraße auf eine doppelte Unsichtbarkeit gestoßen: Die durch die Dunkle Materie aufgeworfenen Probleme führen zu Überlegungen, in denen Unmengen gewöhnlicher, aber nicht sichtbarer Materie eine Rolle spielen.


DER AUTOR Leo Blitz ist Professor für Astronomie an der University of California in Berkeley und war früher Direktor des dortigen Labors für Radioastronomie.


QUELLEN
Chakrabarti, S. et al.: Finding Dark Galaxies from Their Tidal Imprints. In: Astrophysical Journal (im Druck)

Levine, E.S. et al.: The Vertical Structure of the Outer Milky Way. In: Astrophysical Journal 643, S. 881-896, 2006

Weinberg, M.D., Blitz, L.: A Magellanic Origin for the Warp of the Galaxy. In: Astrophysical Journal Letters 641, S. L33-L36, 2006


WEBLINKS
www.scientificamerican.com/oct2011/blitz
Ein Video zeigt, wie die Magellanschen Wolken zusammen mit Dunkler Materie die Milchstraße deformieren.

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im
Internet: www.spektrum.de/artikel/1146808


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 42-43:
Die Scheibe unserer Galaxis weist eine merkliche Verbiegung auf. Astronomen sehen darin nicht eine statische Deformation, sondern eine langsame Wellenbewegung, die der Schwingung eines Gongs gleicht. Vermutlich wird die Welle durch eine Störung in der Dunklen Materie angeregt, die wiederum ihrerseits von zwei kleinen Satellitengalaxien verursacht wird.

Abb. S. 45:
Die Große Magellansche Wolke ist die massereichste Satellitengalaxie der Milchstraße. Anscheinend erzeugt sie in der Verteilung der Dunklen Materie Störungen, die ihrerseits die Form der Milchstraße beeinflussen.

Abb. S. 48:
Unauffällige Begleiter
Theoretisch sollten hunderte Satellitengalaxien um unsere Milchstraße kreisen, doch zunächst fanden die Astronomen nur rund zwei Dutzend davon. Eine neue Auswertung des Sloan Digital Sky Survey, einer Durchmusterung von einem Viertel des Sternenhimmels, hat kürzlich weitere Satelliten aufgespürt (links). Außerdem dürfte es noch viele lichtschwache und dunkle Begleitgalaxien geben, die sich der direkten Beobachtung entziehen (rechts).

© 2012 Leo Blitz, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 5/12 - Mai 2012, Seite 42 - 49
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2012