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BERICHT/074: Schwimmende Platten (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - September 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Schwimmende Platten

Von Didier Buysse


Nachdem man ihre Existenz bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erahnt hatte und seit ihr "Nachweis" in den Jahren 1960-1970 gelang, ist die Plattentektonik der Schlüssel für die moderne Geologie. Unser Lebensraum, die Erdkruste, schwimmt in mehreren Kilometern Tiefe auf einer Magmaschicht, auf der sich seit vier Milliarden Jahren die Teile der Lithosphäre bewegen. Diese Platten sind in ständiger Bewegung und auf Kollisionskurs. Manchmal wachsen sie zusammen, um einen einzigen Superkontinent zu bilden. Der letzte, Pangäa, verschwand vor rund 130 Millionen Jahren, als sich der Atlantik herausbildete. Die heutige Erde ist aus der Bewegung und Kollision von Fragmenten dieses Megakontinents entstanden.


Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wie soll man dann verstehen, was unter unseren Füßen liegt? Woraus besteht die mehrere Dutzend Kilometer starke Lithosphäre? Und welchen tellurischen Kräften unterliegt diese Schicht, die das Fundament der Kontinente bildet und die Böden der Ozeane überzieht, wo sie nur wenige Kilometer stark ist? Seit Kopernikus, Galileo, Kepler und Huygens hat die Wissenschaft sich mit der Entdeckung der Dinge beschäftigt, die weit entfernt liegen: den Platz unseres Planeten im Sonnensystem und die Stellung, die dieses wiederum unter den Galaxien des Universums einnimmt.


Die Zeit der Abenteurer

Jedoch zeichnet sich die Geologie seit dem 18. Jahrhundert stets durch Neugier und besonders intensive Beobachtungen aus. Seit dieser Zeit haben sich zahlreiche passionierte und abenteuerlustige Wissenschaftler wagemutig in die extremsten Winkel der Erde gewagt, haben Bergspitzen, Täler und Hochebenen der fünf Kontinente ohne Unterlass durchkämmt. Sie haben die Strukturen des Bodens und des Unterbodens untersucht, Fossilien, Mineralien, Felsen und Sedimente aller Art gesammelt und klassifiziert.

Aktive Vulkane, die ihre Lava in den Himmel schleudern, und andere Hotspots der Erde sind ein Beweis dafür, dass ihr Zentrum aus geschmolzenem, flüssigem Material besteht: dem Magma. Lange Zeit herrschte die Vorstellung, dass die Erdkruste durch die Hitze vertikalen Drücken ausgesetzt sei. So versuchte man die Bergerhebungen und ihre Gegenstücke, die durch ozeanische oder terrestrische Depression entstanden sind, zu erklären.

Aber diese allzu grobe und auch schlecht untermauerte Theorie war weit davon entfernt, die ungewöhnlichen Beobachtungen der Geologen erklären zu können. Diese stellten insbesondere fest, dass man an unterschiedlichen und sehr weit voneinander entfernt liegenden, durch Ozeane getrennten Orten erstaunliche Eigenarten und Ähnlichkeiten bestimmter vergleichbarer Geotope vorfinden kann. Zu den Gemeinsamkeiten gehörten Gesteinsformationen, Flora (Farne) oder Fauna (Lemuren), die man von Afrika oder Brasilien bis nach Madagaskar oder Indonesien antreffen kann.


Die afro-amerikanische Anatomie

Mit der Zeit wurden auch die Landkarten immer genauer, sie bildeten die Form der Kontinente in immer kleineren Maßstäben ab. Ihre Betrachtung ließ bei manchen die Frage nach der - fast anatomischen - Passgenauigkeit des südamerikanischen Kaps von Recife und der "Beugung" des Golfs von Guinea aufkommen: Die Küsten der beiden Kontinente ergänzen sich fast perfekt.

Alfred Wegener formulierte diese Feststellung der Interkontinentalität geologischer Formationen und der Kontinentalverschiebung, ohne diese auf eine wissenschaftliche Erklärung zu stützen. Im Jahre 1915 veröffentlichte der Meteorologe - der aus Neugier und Abenteuerlust Geologe geworden war und bei einer Expedition in Grönland ums Leben kam - ein visionäres Werk: Die Entstehung der Kontinente und der Ozeane.

In dieser Arbeit stellte Wegener die These der Kontinentalverschiebung auf. Ihm zufolge ruhte die Erdkruste in mehreren hundert Kilometern Tiefe auf einer zähflüssigen Magmaschicht, die sich wegen der Hitze im Erdkern bewegte, und zwar nicht vertikal sondern lateral. Er beschrieb den aktuellen Zustand der offensichtlichen geografischen Übereinstimmung von Amerika und dem durch den Atlantischen Ozean getrennten Europa und Afrika als Ergebnis einer Dislokation, die vor 250 Millionen Jahren begann, als Amerika sich von einem Superkontinent, den Wegener Pangäa nannte, abtrennte.

Die Erklärung wurde von der Mehrheit der Geologen mit großem Schweigen aufgenommen. Die Kontinentalverschiebung stellte einen revolutionären Ansatz dar, der alle geistigen Konstrukte, die in den Geowissenschaften vorherrschten, umstieß. Aber die neue Idee war jetzt geboren und die Neugierde der Forscher war bei Weitem noch nicht gestillt, im Gegenteil. In den 1960er und 1970er Jahren häuften sich dann die wissenschaftlichen Beweise für die Plattentektonik, als man sich dem visionären Geist Alfred Wegeners zuwendete.


Die tektonische Offenbarung

Die Bestätigungen kamen größtenteils erst ein halbes Jahrhundert nach Wegener. In den 1950er Jahren wurde ein entscheidender Schritt getan, als die Forscher an Bord des Forschungsschiffes Verna vom Lamont-Doherty-Laboratorium der University of Columbia (USA) mit ihren bathymetrischen Messungen den ersten unterseeischen Rücken ermittelten: den mittelatlantischen Rücken, der vom Arktischen Ozean im Norden Islands bis zum Südatlantik reicht. Man erkannte, dass durch diesen riesigen Riss, der den Konvektionsbewegungen des Erdmantels unterliegt, flüssiges Magma aufsteigt, das an den beiden Rändern kontinuierlich entweicht und diese zurückdrängt.

Gegen Ende der 1960er Jahre verfügte man bereits über fundierte Kenntnisse, die man durch Bathymetrie, Paläomagnetismus und die Seismografie erlangt hatte. Sie stellten die Grundlage einer allgemeinen Formulierung der Plattentektonik dar. Sie geht auf den Franzosen Xavier Le Pichon und den Amerikaner Jason Morgan zurück, die 1968 jeweils einen Artikel zu diesem Thema veröffentlicht haben, Le Pichon war auch der erste Wissenschaftler, der sich im Rahmen einer ersten Tiefsee-Erkundung (mit dem Namen Famous) an Bord eines Unterseebootes den nordatlantischen Rücken längs der Azoren "anschaute". Mit dieser ozeanografischen Mission wurde auch die Magmaaktivität entlang dieses riesigen Einschnitts in die Lithosphäre bestätigt.

Das tektonische Plattenmodell hat eine wahrhafte Revolution in den Geowissenschaften ausgelöst. Endlich konnte man das Puzzle der Erdkruste verstehen, die in rund zehn große Platten (aus Stücken kontinentaler und ozeanischer Erdkruste) aufgeteilt ist. Auf einer zähen Schicht des Erdmantels, Asthenosphäre genannt, driften diese um den ganzen Globus. Da der Durchmesser der Erde konstant bleibt, muss die kontinuierliche Bildung neuer Erdkruste am mittelozeanischen Rücken mit der der entsprechenden Menge zerstörter Erdkruste einhergehen. Diese Zerstörung tritt auf, wenn eine ozeanische Platte, die zwar dünner ist, aber eine höhere Dichte aufweist als die kontinentale Erdkruste, mit dieser zusammenstößt. An manchen Stellen sind diese Falten auch auf der Erdoberfläche zu sehen: Island, der Große Afrikanische Grabenbruch, die Territorien der Afar und Issa...

Bei diesen Zusammenstößen schiebt sich die ozeanische Platte meist unter die Kontinentalplatte, was Subduktion genannt wird. An dieser Stelle akkumulieren sich Reibungen und Spannungen zwischen den Platten, die zu Erdbeben führen. Auch die meisten Vulkane bilden sich an diesen Stellen, als materieller Ausdruck der schmelzenden ozeanischen Platte und des leichten aufsteigenden Magmas.


Was ein Erdbeben bedeutet

Von der Theorie in die Praxis: Die Tektonik hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer nützlichen Wissenschaft entwickelt, mit deren Hilfe man das Ausmaß einer der schlimmsten Naturkatastrophen ermessen kann: dem Erdbeben.

Die durch Subduktion entstehenden Spannungen setzen große Energiemengen frei, die sich, wenn ein unerwarteter Bruch auftritt, als Erdbeben äußern. Durch die meisten Erdbebenregionen ziehen sich lange Verwerfungen, die manchmal Hunderte oder gar Tausende Kilometer lang sind, spektakuläre Falten und Bergketten, die ein lebendiger Ausdruck der tektonischen Aktivität sind. Die Subduktionszonen und die aktiven Verwerfungen, die bekanntesten sind hier die Sankt-Andreas-Spalte (USA) oder die Nordanatolische Verwerfung (Türkei), sind besonders empfindliche Zonen, an denen sich sehr starke Erdbeben ereignen, wenn die durch Reibung der beiden Platten angehäufte Energie plötzlich freigesetzt wird.

Diese Freisetzung wird von zwei gleichzeitig entstehenden Wellentypen begleitet, die sich über die benachbarten Gebiete ausbreiten: die schnellsten (sie können 6 km pro Sekunde auf der Oberfläche erreichen und werden von den Seismografen als Erste erfasst) werden als Kompressionswellen bezeichnet, weil sie eine Folge von Dilatationen und Kompressionen der Böden parallel und zu ihrer Achse nach sich ziehen; an zweiter Stelle verursachen die Scherwellen eine Art Faltenbildung der Böden, die wie Wellen zurückgeworfen werden. Diese verursachen die schlimmsten Schäden.


Vulkanismus aus neuer Sicht

Die Plattentektonik hat mit einem völlig neuen Aspekt zum Verständnis des - unterseeischen oder auch kontinentalen - Vulkanismus beigetragen. Die meisten Vulkane stehen längs der großen Plattenränder, über die das Magma, das aus der teilweisen Schmelze der inneren Schicht der Lithosphäre entsteht (verursacht durch die Hitzeeinwirkung des Erdkerns), an die Oberfläche aufsteigt, und zwar entweder an der Subduktionsstelle oder an der Stelle, an der die beiden Platten auseinanderdriften. Vulkanausbrüche entstehen, wenn dieses geschmolzene Material, das sich in den Magmakammern ansammelt, unter Überdruck gerät und dann über Kamine, die zu den Kratern führen, ausgestoßen wird.

Aber über dieses verbreitete Prinzip hinaus gibt es auch Vulkane, die als sogenannte Hotspots bezeichnet werden und nicht mit einer Aktivität der tektonischen Platten verbunden sind. Ein heißer Manteldiapir, der aus dem Erdmantel aufsteigt, kann die Lithosphäre durchschweißen. Während der Hotspot in der Tiefe bestehen bleibt, bewegt sich die lithosphärische Platte darüber hinweg und es bilden sich Vulkangebäude, wie im Archipel von Hawaii.

Jeder Vulkan ist ein "Fall" für sich, der jeweils einer eigenen Kategorie zugeordnet werden kann. Die Wissenschaftler unterscheiden dabei vor allem zwischen effusiven Ausbrüchen, bei denen die Lava herausfließt, und explosiven Ausbrüchen, bei denen riesige Mengen an Gasen und Glut herausgeschleudert werden, wodurch heiße Glut- und Aschewolken entstehen.


Der Beitrag der Weltraumgeodäsie

Seit mehreren Jahrzehnten zeichnet die Kartografie alle Erdbeben, die sich an der Erdoberfläche ereignen, minutiös auf und bemüht sich um die Modellierung der horizontalen Verschiebungen der tektonischen Platten, aus denen die Erdkruste besteht. Neben den geologischen Beobachtungen am Boden tragen auch die hochpräzisen Instrumente der Weltraumgeodäsie zu einer wichtigen Neuerung bei. Diese sind an Bord mehrerer Satelliten wie Envisat und Cryosat untergebracht. Sie ermöglichen äußerst genaue Messungen der Deformationen durch jüngste Erderschütterungen oder anstehende Erschütterungen in Zonen mit hoher Erdbebenaktivität. Wie auch Xavier Le Pichon bestätigt, lassen "die tektonischen Bewegungen durch aufeinanderfolgende Brüche ganze Bergketten entstehen, deren Untersuchung uns die Seismologie gestattet. Die Erforschung der Erdbeben kommt dem Studium der direkten tektonischen Bewegungen gleich!"

Das bedeutet nicht, dass mit dem heutigen Wissen Erdbebenvoraussagen bereits möglich wären. Zusammen mit den unablässig verbesserten Kenntnissen vergangener Ereignisse erlauben sie jedoch eine immer präzisere Bewertung und Kartierung des Erdbebenrisikos, das die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens von bestimmter Stärke, die mögliche Zahl der Menschenopfer, die potenziellen Folgen für die Wirtschaft und die Umwelt der möglicherweise betroffenen Regionen widerspiegelt. Ausgefeilte Modelle ermöglichen es uns, die Folgen eines Erdbebens zu simulieren und die am stärksten betroffenen Zonen zu bestimmen. Dies ist auch ein Ziel des Projekts Risk-UE (2001-2004), das sich mit den Städten Barcelona, Bukarest, Bitola, Catania, Nizza, Sofia und Thessaloniki befasste. Die Generaldirektion Umwelt der Europäischen Kommission arbeitet derzeit an einer Strategie zur Senkung der Risiken für menschliche oder auch natürliche Katastrophen. Dies könnte schließlich zur Erstellung einer Risikokarte derjenigen Regionen Europas führen, die nicht nur durch Erdbeben und Vulkanausbrüche gefährdet, sondern auch zahlreichen anderen geologischen Risiken ausgesetzt sind.


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - September 2008, Seite 13 - 15
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009