Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

BERICHT/087: Die "Vogel-Pisa-Studie" (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 4/2008

Artenkenntnis von Schülern: Die "Vogel-Pisa-Studie"

Von Volker Zahner


Es ist immer wieder das gleiche Bild. Lässt man den Blick durch die Reihen einer ornithologischen Tagung streifen, dominieren die älteren Teilnehmer, überwiegend Männer, die sich hier engagieren. Unter 40-Jährige sind eher selten und wenn, arbeiten sie in der Regel hauptamtlich im Naturschutz. Fasziniert also die Natur und die Vogelwelt unseren Nachwuchs nicht mehr? Dies hätte langfristig Konsequenzen für den Schutz der Biodiversität und der uns lieb gewonnen Geschöpfe.


*


Diese und andere Fragen wollten wir - eine Arbeitsgruppe an der Fachhochschule Weihenstephan in Freising - mit einer Studie zur Vogelartenkenntnis beleuchten. 3228 Schülerinnen und Schüler nahmen bayernweit über alle Schularten und Regierungsbezirke hinweg an einem "Test" zur Formenkenntnis teil. Daneben gaben sie z. B. Auskunft, woher sie die Arten kannten, wie interessant sie Vögel finden und wie oft sie sich in der Natur aufhalten.

Die Ergebnisse

Durchschnittlich 4,2 Arten oder 35 % der häufigsten Gartenvögel kennen unsere Schüler: Amsel, Buchfink, Buntspecht, Elster, Gimpel, Grünfink, Haussperling, Kleiber, Kohlmeise, Rotkehlchen, Star und Zaunkönig. Die Auswahl stammt von einer Bürgerbefragung, der sogenannten "Stunde der Gartenvögel", die der Landesbund für Vogelschutz (LBV) jedes Jahr im Mai durchführt. Eine Expertenrunde verkürzte anschließend die Liste auf zwölf Arten.

Das Ergebnis ist eher ernüchternd: 8 % kennen keinen einzigen dieser Vögel, knapp 1 % können dagegen alle zwölf Arten bestimmen. Die Amsel war mit großem Abstand am bekanntesten, während die Finken das Ende der Liste bildeten. Unser häufigster Vogel, der Buchfink, war gleichzeitig der Unbekannteste. Den Haussperling, der wegen seiner früheren Häufigkeit einmal das Urbild des Gewöhnlichen darstellte, ist nur noch jedem dritten Schüler, in Mittelfranken gar nur noch jedem zehnten geläufig. Kinder, die den Gimpel erkannten, konnten dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit alle anderen Vögel bestimmen und hatten insgesamt die höchste Artenkenntnis.

Das Alter und der Bildungstand drücken sich in der Formenkenntnis aus. Jeder kennt das Phänomen, dass Kinder wie magisch von Tieren angezogen werden und sich enorm begeistern können. Diese Faszination hält auch in der Schule noch an, doch ab der 5. Klasse beginnt das Interesse zu bröckeln, um kurz darauf regelrecht zu erodieren. Mit der einsetzenden Pubertät grenzen sich Kinder nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von ihren bisherigen Lebenswegen und Interessen ab. Was vorher noch faszinierte, gilt plötzlich als langweilig, kindlich und unreif. Das Wissen steigt aber in dieser Phase erstaunlicher Weise noch etwas an, bis zur 7. Klasse, danach bleibt es gleich oder sinkt wieder leicht. Spannenderweise verhalten sich in der Befragung Wissen und Interesse gegenläufig. Fanden Kinder in der 4. Klasse Vögel noch zwischen "sehr interessant" und "interessant", hatte sich die Faszination in der 7. Klasse um eine ganze Stufe verschlechtert und lag nun zwischen "interessant" und "ziemlich uninteressant".

Gerade die Kindheitsphase ist die Zeit, in der man sich intensiv für Tiere begeistert. Die Kindheit wird aber immer kürzer, während sich die Jugendphase mit früher einsetzender Pubertät immer weiter verlängert. Starke Naturerlebnisse prägen aber nach Aussagen mehrerer Studien das Verhalten und das Wissen erst, wenn sie in der Pubertät und danach stattfinden (bis 27 Jahre). Das bedeutet, dass gerade die anstrengenden, weil pubertären Alterklassen, diejenigen sind, für die wir unser Engagement forcieren sollten, während die Wahrscheinlichkeit, dass die enthusiastischen Dritt- und Viertklässler überwiegend abspringen, relativ hoch ist.

Bessere Artenkenntnis bei höherem Bildungsstand

Die mittlere Artenkenntnis lag in der 4. Klasse Grundschule bei 2,4. In den 7. Klassen kannten Schüler der Hauptschule drei, die der Realschule 4,4 und die des Gymnasiums fast sechs (5,7) Vogelarten. Vereinfacht kennen also Realschüler 50 % und Gymnasiasten 100 % mehr Arten, wie ihre Altersgenossen in der Hauptschule. Je höher die Schulbildung, desto mehr Vögel kennen demnach die Schüler. Artenkenntnis ist somit auch ein Bildungsindikator. Mädchen kennen etwas mehr Vogelarten als Jungen, deutlich wichtiger als der Unterschied im Geschlecht ist aber die Schulart.

Hatten Kinder früher eine höhere Artenkenntnis?

In einer Untersuchung Anfang der 1980er Jahre mit Schülern der 5. Klasse waren die Ergebnisse ebenfalls durchwachsen. Im direkten Vergleich der fünf damals und heute vorgestellten Vögel (Amsel, Buchfink, Buntspecht, Kohlmeise, Rotkehlchen) kannten die gleichaltrigen Kinder vor 27 Jahren vier von fünf Arten zu einem höheren Prozentsatz als die heutigen Schüler. Nur eine der fünf Arten, nämlich die Amsel, ist heute deutlich bekannter. Ob das am markanten Anstieg der Population liegt oder daran, dass die Amsel laut bayerischer Lehrpläne im Unterricht vorgeschrieben ist, sei dahingestellt.

In einer englischen Studie von Evans, die ebenfalls die Artenkenntnis von Jugendlichen anhand von zwölf Vogelarten testete, kannten die Schüler im Schnitt ein Drittel, also vier Arten - ähnlich wenig wie in Bayern. Es handelt sich dabei also um kein deutsches Phänomen.

Woher kennen die Schüler Vögel?

Die Bandbreite der genannten Wissensquellen ist groß. An erster Stelle steht zwar die Schule, doch mit einer mittleren Artenkenntnis von 4,2 erreichen diese Befragten nur den Durchschnittswert. Kinder, die angeben, ihre Formenkenntnis aus dem Fernsehen zu beziehen, kennen nur unterdurchschnittlich viele Vögel. Am besten schneiden die Schüler ab, die ihr Wissen über Verwandte erworben haben. Garten, Futterstellen oder Nistkästen spielen ebenfalls eine große Rolle bei der Erklärung der Formenkenntnis. Kinder, die wenigstens über einen dieser drei Faktoren verfügten, erkannten im Durchschnitt eine Art mehr. Nicht verwunderlich ist es daher, dass Schüler aus Großstädten weniger Vögel (3,5 Arten) kannten als die aus mittelgroßen und kleinen Städten oder vom Land (4,2).

Kinder, die angaben, "häufig" in der Natur zu sein, kannten jedoch nicht unbedingt mehr Arten. Vielmehr war ein intensiverer Kontakt mit der Natur nötig, wie über eine Futterstelle oder einen Vogelkasten. Die höchste Artenkenntnis haben die Schüler, die die Natur mit ihren Eltern oder Verwandten gemeinsam entdecken und bei denen Erlebnis mit Wissensvermittlung gepaart ist. Dabei spielt auch die Sympathie für den "Lehrer" und die Faszination, die von seinem Wissensschatz ausgeht, eine wichtige Rolle für den ersten Impuls.

Auch die erfolgreichsten Schulen der Studie arbeiteten nach dem gleichen Prinzip: Von der Vogelwelt begeisterte, sympathische Lehrer vermitteln den Schülern Kontakt zu den Vögeln und ermöglichen erste Erfolgserlebnisse. Über Vogelpräparate, z. B. von Spechten, lassen sich Zusammenhänge zwischen dem Körperbau, der Lebensweise und der Rolle der Art im Ökosystem erkennbar und nachvollziehbar machen. Das dreidimensionale Bild hilft auch, die Größe richtig einzuordnen und hinterlässt einen stärkeren Eindruck bei den Schülern. Viele Details lassen sich an diesen Präparaten veranschaulichen: z. B. die Gestalt des Schnabels, die Zehenstellung und der Stützschwanz. Bei umweltpädagogischen Führungen von Grundschülern verglichen wir die Aufmerksamkeit der Kinder mit und ohne Einsatz von Präparaten und versuchten die Reaktion über verschiedene Indikatoren (z. B. Konzentration auf das Thema, Verweildauer) zu bewerten. Dabei konnte eine maximale Aufmerksamkeit und das größte Erstaunen immer nur im Einsatz mit Exponaten erreicht werden. Ohne weitere Hilfsmittel lag der "Grad des Staunens" bei nur einem Fünftel des mit Präparaten erreichten Werts. Der so vermittelte Lernstoff beeindruckte nicht nur stärker, er wird auch zu einem höheren Anteil "gespeichert".

Warum sind wenige Vögel bekannt?

Allein die Vogelnamen bilden schon eine gewisse Lernhürde. Ohne weitere Erklärung sagen einem die Namen Gimpel oder Kleiber nichts. Erst mit Geschichten, dass sich Kleiber von "Kleber" ableitet, weil er mit Lehm das Einflugloch seiner Höhle verkleinert, um die Konkurrenz auszuschließen, bleibt der Stoff plötzlich haften. Günstiger ist es schon, wenn sich die Farbe oder ein Körpermerkmal im Namen wiederfindet, wie beim Rotkehlchen oder der Haubenmeise. Arbeiten Lehrer gezielt diese Merkmale oder Namensbesonderheiten heraus, können die Kinder bereits mehr Arten behalten. Die Wissenschaftler Randler und Metz testeten das erfolgreich mit Studenten.

Der "Vogel des Jahres" geht bisher weitgehend an den Schulen und damit an den Kindern vorbei. Besonders klar wurde dies beim bereits erwähnten Kleiber, dem zur Zeit der Studie aktuellen "Vogel des Jahres", den trotz der bundesweiten Kampagne weniger als jeder 10. Schüler kannte. Anders in Schulen, die jedes Jahr zum Vogel des Jahres einen Schaukasten mit den Schülern gemeinsam gestalten. Sie lagen auch hier vorn. Der Kleiber war dort vielen Schülern bekannt und die gesamte Artenkenntnis lag um mehr als zwei Arten über dem bayerischen Durchschnitt.

Vielleicht könnte eine engere Zusammenarbeit zwischen Naturschutzverbänden und Schulen diese Lücke schließen helfen. Möglicherweise wäre ja sogar der Buchfink geeignet, einmal das Rampenlicht auf den Aspekt "Verlust von Artenkenntnis in unserer Gesellschaft" zu rücken.

Lieblingsvögel von Mädchen und Jungen

Nach den Lieblingsvögeln befragt, zeigte sich je nach Geschlecht ein unterschiedliches Bild. Fast schon klischeehaft begeistern sich Jungen vor allem für Adler und Falken, Mädchen für Rotkehlchen und Kolibris. Platz eins der Beliebtheitsskala nimmt der "Adler" ein, gefolgt vom "Spatz", dem Rotkehlchen und dem "Specht". Auf Rang fünf und sechs folgen mit Papagei und Wellensittich dann zwei Exoten. Insgesamt nannten die Schüler 118 Arten oder Familien, darunter auch Archäopteryx, Ziegensittich und Elfenbeinspecht. Nur ein Viertel der genannten Vögel waren nicht heimisch.

Verbannte man in den 1970er Jahren die Artenkenntnis als "alten Zopf" aus den Lehrplänen, misst man ihr heute wieder einen Bildungswert zu. Je weniger Artenkenntnis aber die künftigen Eltern haben, umso größer ist die Aufgabe, die den Schulen zukommt. Dabei stellt sich die Frage, wie die Artenkenntnis am besten vermittelt wird. Neben einer veränderten Didaktik kann auch eine Verzahnung mit der Welt der Schüler Interesse an der Formenkenntnis wecken. Umweltbildung lässt sich mit der Freude an der Technik verbinden. Eine Minikamera, die live Bilder einer Blaumeisenbrut aus dem Nistkasten vor dem Fenster auf einen Bildschirm im Klassenzimmer überträgt, begeistert viele Kinder. Ein Kurzprotokoll über eingetragene Beute (mit und ohne Flügel), Anflugfrequenz und Entwicklungsstand schärft den Blick und weckt den Spaß am forschen.

Über "Geocaching", also einer Art moderner Schnitzeljagd mit GPS, sucht man über Koordinaten Naturobjekte im Gelände, deren Daten der Lehrer vorgegeben hat. So kann z. B. eine Buntspechthöhle, ein Amphibientümpel oder ein Mäusebussardnest entdeckt werden. Als Geräte verwendet man Auto-Navigationssysteme, die man auf Koordinaten umstellt, einfache GPS-Geräte oder GPS-fähige Handys. Das Ganze hat den Charakter einer Schatzsuche, nur der Schatz ist die Art, über die man dann etwas herausfinden muss. Über ein Fotoquiz im Internet kann man ebenfalls spielerisch das Interesse an Artenkenntnis wecken. Das Schweizer Quiz www.biofotoquiz.ch ermöglicht es, sein Wissen in verschiedenen Schwierigkeitsstufen zu testen und den eigenen Punktestand mit anderen zu vergleichen. Auch die "Stunde der Gartenvögel" ist ein wichtiger Schritt der Naturschutzverbände in die Richtung, Kinder und Jugendliche in die Faszination der Naturbeobachtung oder die Welt der Vögel einzubeziehen.

Warum sollen Kinder überhaupt Tierarten kennen?

Ohne Formenkenntnis fällt es schwer, die Notwendigkeit für den Schutz der Biodiversität zu sehen. Der Ausspruch "man schützt nur, was man kennt" mag manchem als Naturschutzfolklore erscheinen, dennoch drückt er in meinen Augen das Kernproblem aus: Ich bin nur traurig, wenn die Wachtel in meiner Wiese nicht mehr ruft, wenn ich sie auch tatsächlich kannte. Und nur diese Betroffenheit über die verlorene Vielfalt führt vielleicht zu einer Änderung in meinem Konsumverhalten und fördert so möglicherweise eine veränderte Landnutzung. Aber auch die Freude über den ersten Star der zurückkehrt, die erste Feldlerche, die singt, macht das Leben reicher und lebenswerter. Man ist nicht nur gebildeter, wenn man mehr kennt, man begreift einfach mehr, erkennt z. B. den Einfluss vom Klimawandel auf das eigene Umfeld über den plötzlich hier überwinternden Hausrotschwanz, und ist sensibler für die Veränderungen in der Landschaft. "Die Lesbarkeit der Welt", wie es Gerhard nennt, und damit das Verständnis der Zusammenhänge nimmt mit der Artenkenntnis zu. Das sollten wir unseren Kindern nicht vorenthalten.


*


Literatur zum Thema:

Brämer, R. (2006): Natur obskur: Wie Jugendliche heute Natur erfahren. oekom München.

Gerhard, U. (1995): Die Lesbarkeit der Welt. Zur psychischen Funktion von Formenkenntnissen. In: Mayer, J.: Vielfalt begreifen - Wege zur Formenkunde.

Orendt, B. (2007): Naturverständnis und Umweltverhalten bei Jugendlichen. Nachhaltigkeit? Was ist das, bitte? Nationalpark 137: 28-31.

Randler, C. & K. Metz (2005): Zusammenhänge zwischen Artenkenntnis und Artnamen. Praxis der Naturwissenschaften. Biologie in der Schule 54: 41-42.

Zahner, V., S. Blaschke, P. Fehr, S. Herlein S, K. Krause, B. Lang & C. Schwab (2007): Eine Studie zur Artenkenntnis bei Vögeln, durchgeführt mit bayerischen Schülern. Vogelwelt 128: i. Dr.

PDF nach Erscheinen auf: www.vogelwelt.com


*


Der Test

Im ersten Teil der Befragung wurden die Schüler gebeten, zwölf Vögel richtig zu benennen. Bei der Studie wurden den Schülern die Vogelarten als Präparate vorgestellt. Der zweite Teil des Fragebogens beschäftigte sich mit dem Wissenserwerb der Schüler und sah neben vorgegebenen Möglichkeiten auch individuelle Antworten vor. Gefragt wurde, woher man die Vögel kennt, ob man über einen Garten, einen Nistkasten und eine Vogelfütterung verfügt, wie häufig man sich in der Natur aufhält, wie interessant man Vögel findet und was der Lieblingsvogel sei. Näheres zur Methode findet sich im Vogelwelt-Beitrag (s. Literatur zum Thema).


*


Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 4/2008
55. Jahrgang, April 2008, S. 136-141
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141; Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,60 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 47,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2008