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PHARMAZIE/083: Nur ein Placebo? - Zistrose und die Schweine-Grippe (SB)


Über das Naturheilmittel Zistrose und seine Wirkung bei grippalen Infekten


Zumindest auf eine Prognose bei Grippe und Erkältungserkrankungen war bisher immer Verlaß: "Sie dauert mit Medikamenten acht Tage und ohne eine Woche." Dennoch gibt es immer wieder Pharmahersteller, die mit einer lindernden Wirkung bei diesen Infekten werben. Die Säfte, Pasten und Tabletten schaffen dann auch durch Schlaf, Schmerzreduktion u. dgl. etwas Erleichterung oder "Vergessen", die Heilung der "Erkrankung" selbst wird jedoch nicht wirklich forciert.

Einzig das chemische Virenbekämpfungsmittel bzw. die antiviralen Medikamente Tamiflu oder Relenza, von denen ersteres auch wegen seiner Bedeutung bei der Vogelgrippe seinerzeit von sich Reden machte und aktuell als mögliche Therapie gegen die als Schweinegrippe bekanntgewordene Influenza A (H1N1) diskutiert wird, soll Viren direkt angreifen, indem es sie so verklebt und verklumpt, daß sie sich nicht mehr an die Rezeptoren der Schleimhäute anheften können.

Doch auch gegen diese Mittel wurden schon Resistenzen beobachtet, so daß ihr Einsatz fraglich bleibt. Und die derzeit favorisierten Impfungen sind nicht wirklich ausgereift. Nebenwirkungen der neuen Herstellungsverfahren werden sich quasi erst nach dem ersten Großeinsatz herausstellen. Doch das ist ein anderes Thema...

Medikamente mit Wirkstoffen wie Oseltamivir (Handelsname: Tamiflu) oder Zanamivir (Handelsname: Relenza) blockieren einen viruseigenen Eiweißstoff, den der Erreger benötigt, um sich von den Wirtszellen ablösen und weitere Zellen befallen zu können. Da aber Grippeviren häufig spontan mutieren und dabei ihre Oberflächeneiweiße verändern, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie über kurz oder lang resistent gegen diese Medikamente werden.
(Berliner Zeitung, 22. November 2005)

Sollte es tatsächlich zu einer Pandemie kommen, sind Alternativen offenbar zwingend notwendig. Ein Naturheilmittel war schon vor drei Jahren im Gespräch, das - angeblich unerkannt - vor unserer Haustür wachsen sollte, wie Forscher aus Tübingen und Berlin behaupteten und laut einem am 12. Januar 2008 von multiMEDvision (mMv) - Berliner Medizinredaktion verbreiteten Pressetext "der einzig bislang praktikable Ansatz zur Infektions-Vermeidung" sei...

...Ein spezieller Extrakt der Zistrose (Cistus incanus ssp. Pandalis) - Cystus052 - ist in der Lage, Krankheitserreger rein physikalisch an einer Infektion von Körperzellen zu hindern.
(mMv, 12. Januar 2008)

Sie warben mit einer wenig eingesetzten und damit weniger von Resistenzen bedrohten Substanz, die zudem auch noch ein reiner Naturstoff sein soll: Der Wirkstoff der graubehaarten Zistrose. Extrakte aus dem im Mittelmeerraum beheimateten immergrünen, rosa blühenden Strauch haben im Laborexperiment die Vermehrung von Grippeviren aufgehalten.

Die Zistrose ist ein uraltes Naturheilmittel. Daraus zubereiteten Tee trinkt man auf den griechischen Inseln schon seit Jahrhunderten gegen Halsweh und andere Erkältungsbeschwerden. Und das aus der Pflanze gewonnene Harz wurde einst als Mittel gegen Bakterien- und Pilzinfektionen gehandelt. Untersuchungen haben ergeben, dass Cistus incanus, wie die Blume botanisch heißt, einen ungewöhnlich hohen Gehalt an Polyphenolen aufweist. Diese Substanzen halten schädliche Oxidationsprozesse in den Zellen auf, wirken entzündungshemmend und krebsvorbeugend. In einer Pressemitteilung des idw vom 3. November 2006 hieß es geradezu schwärmerisch:

Das Geheimnis ihrer Heilkraft schlummert nicht in den hübschen Blüten, sondern in ihren Blättern. Darin befinden sich so genannte Polyphenole, jene Substanzen, die auch den Rotwein so gesund machen. Die Zistrose enthält nur die wertvollsten Polyphenole - und die in extrem hoher Konzentration.
(idw, 3. November 2006)

Und diese "wertvollen" langkettigen Polyphenole, die auch schon wegen krebsverhindernder und gefäßstabilisierender Eigenschaften - die allerdings bis heute nicht wirklich bewiesen werden konnten - immer wieder diskutiert werden, sollen über einen völlig neuen Wirkmechanismus den aggressiven Grippeviren den Garaus machen, wie die Forschungen von Oliver Planz vom Friedrich-Löffler-Institut in Tübingen herausgefunden hatten:

"Was wir in den letzten Jahren herausgefunden haben, ist, dass sich diese Polyphenole wie ein Film um ein virales Protein lagern und somit die Anheftung des Virus', des Grippevirus' an die Wirtszelle verhindern."
(idw, 3. November 2006)

Das ist im Grunde ganz ähnlich wie der von Tamiflu behauptete Wirkmechanismus. Nur statt eines Kaugummis (das in allen Richtungen anklebt) soll man sich die Wirkung der Polyphenole etwa so vorstellen, als würde man einen Haustürschlüssel mit Tesafilm umwickeln. Man braucht nur ein kleines Stück davon und der Schlüssel paßt nicht mehr in das Türschloß, geschweige denn, daß man sie damit aufschließen könnte.

Dieser Schlüssel, der einem Grippevirus Zutritt zu menschlichen Zellen verschafft, heißt Hämagglutinin und genau dieses Eiweiß sollen die Polyphenole aus dem Cystusextrakt gründlich verkleben.

Dieser Vorgang blockiere letztlich das Andocken der Viren an Zellen ("Adhäsion") und ihr Eindringen ("Infektion"). Folge: Die deaktivierten Erreger werden einfach heruntergeschluckt und im Magen zerstört, eine Infektionskrankheit bleibt aus.

Schon vor drei Jahren hatten die Forscher den neuen Wirkstoff in einem Aerosol an Mäusen ausprobiert, um diese Polyphenole in die Atemwege der Nager zu plazieren und dann offenbar anschließend Erkältungsviren ausgesetzt. Oliver Planz zeigte sich begeistert:

"Die Ergebnisse haben unsere Erwartungen bei weiten übertroffen. Es war eigentlich so, dass die mit Cystus behandelten Mäuse, die zeigten keinerlei klinischen Symptome. Sie zeigten keine Veränderung. Man konnte vielleicht mal sagen, dass die eine oder andere Maus sich ein kleines bisschen unwohl gefühlt hat. Das war aber eher subjektiv und konnte nicht irgendwie gemessen werden. Hingegen die Kontrollmäuse, die also kein Cystus erhalten haben, die erkrankten alle sehr, sehr stark, und 50 Prozent der Mäuse starben auch an dieser Erkrankung."
(idw, 3. November 2006)

Er hätte seine Ergebnisse gerne noch mit der Standartbehandlung gegen Grippe verglichen und die heißt im Moment noch Tamiflu. Die Firma Roche hatte sich allerdings geweigert, den Forschern die Reinsubstanz, die sie für ihre Untersuchungen brauchen, zur Verfügung zu stellen. So ein Vorgehen sei innerhalb der Pharmaindustrie und unter Wissenschaftlern eigentlich unüblich, zumal es sich um ein Forchungsprojekt der Universität und nicht das eines kommerziell ausgerichteten Unternehmens handelte.

Ein Jahr zuvor hatte schon das Pharmaunternehmen Pandalis im niedersächsischen Glandorf die Wirkung des Pflanzensuds gegen Grippeerreger ausführlich untersuchen lassen. Pandalis vertreibt unter dem Markennamen Cystus seit langem zistrosehaltige Tees, Gurgellösungen und Lutschtabletten.

Der von der Naturprodukte-Firma beauftragte Virologe Stephan Ludwig von der Universität Münster behandelte menschliche Lungen- und Nierenzellen im Laborversuch mit unterschiedlichen Konzentrationen des Extrakts. Anschließend infizierte er die Zellen mit menschlichen Influenzaviren sowie mit Vogelgrippeviren vom Typ H7N7 - nicht jedoch mit dem H5N1-Stamm, der als erster Kandidat für eine neue, auch dem Menschen gefährliche Vogelgrippevariante gilt.

Nach 24 Stunden hatten sich die Viren in den Gefäßen mit den behandelten Zellen in deutlich geringerem Ausmaß vermehrt als in solchen mit unbehandelten Zellen. Je höher die Konzentration des Zistrosenextraktes, desto stärker war der virushemmende Effekt.
(Berliner Zeitung, 22. November 2005)

Chef der Herstellerfirma, Georgios Pandalis, war infolgedessen von seinem Produkt derart überzeugt, daß er sich in der TV-Sendung "Report" des Bayerischen Rundfunks über das Bundesverbraucherschutzministerium beschwerte: Es habe seine Hinweise auf die Forschungsergebnisse aus Münster komplett mißachtet, trotz der weltweit kursierenden Warnungen vor einer Grippewelle und weiterer Experimente:

Pandalis beauftragte daraufhin das dem Ministerium unterstellte Friedrich-Löffler-Institut mit der Prüfung des Zistrosensuds. Die Forscher dort testeten den Extrakt an Zellkulturen, die mit verschiedenen Stämmen von Vogelgrippeviren infiziert wurden. Auch in dieser Untersuchung zeigte der Extrakt im Laborversuch eindeutige antivirale Wirkung. Dieses Resultat erlaube jedoch keinerlei Rückschlüsse auf die Wirkung im lebenden Organismus, lässt das Friedrich-Löffler-Institut über seine Pressestelle ausrichten. Der Bericht sei an den Hersteller gegangen, und diesem obliege es jetzt, das Präparat in Tierversuchen und klinischen Tests weiter untersuchen zu lassen.
(Berliner Zeitung, 22. November 2005)

Auch ein Versuch an Menschen soll die Forscher zufrieden gestellt haben: von 141 Versuchspersonen, die definitiv eine Grippe hatten, sollen nur 29 nach der Cystus-Behandlung keinen Effekt gezeigt haben. Anders als die Mäuse erhielten die Menschen den Cystusextrakt allerdings in Form von Lutschtabletten, die es übrigens jetzt schon freiverkäuflich in jeder Apotheke gibt.

Wegen der rein physikalischen Wirkung des Extraktes soll es potentiellen Erregern angeblich unmöglich sein, Resistenzen zu entwickeln. Die Wirkung müßte also auch bei längerer Anwendung oder nach größeren Anwendungspausen erhalten bleiben. Diese Behauptung des Herstellers ist unlogisch, da sich ähnlich wie bei Tamiflu nur die entsprechenden Oberflächeneiweiße verändern bzw. ausbleiben müßten, damit das Polyphenol sie nicht mehr einwickeln kann. Tatsache ist aber, daß in allen bisherigen Untersuchungen weder gegen Influenza- noch Vogelgrippe-Viren Resistenzen aufgetreten sind.

Inzwischen ist es still geworden, um dieses vielversprechende Heilmittel. Von weiteren Erfolgsmeldungen einer antiviralen Wirkung war seither nie mehr die Rede. Und auch im Zusammenhang mit der Schweinegrippe H1N1 wird das Naturheilmittel nicht mehr erwähnt.

Dabei hat selbst schon das durch Lutschen hervorgerufene Anfeuchten der Atemwegsschleimhaut einen positiven, beobachtbaren Effekt. Nicht umsonst gehören Lutschtabletten gegen Halsschmerzen zu den wirksamsten Placebos. Denn was letztlich als Besserung gewertet wird, ist äußerst subjektiv und von dem Empfinden der einzelnen Testpersonen abhängig. Und in Erwartung eines Einflusses hilft dann oft schon der Geschmack und der kühlende Effekt von Minze.

Zistrose enthält jedoch neben dem als Ladanum bezeichneten Harz und den schon erwähnten Polyphenolen ätherische Öle, Borneol, Zineol, Eugend, Ledol, Limonen, Phenol, die ebenfalls eine desininfizierende Wirkung besitzen. Die Pflanze hat somit eine antibakterielle, antivirale, schleimlösende, pilzhemmende, antioxidative, Immunsystem stärkende, anregend menstruationsfördernde und entzündungshemmende Wirkung und wirkt zudem antioxidativ. Sehr wahrscheinlich spielen die Inhaltsstoffe der Zistrose in diesem natürlichen Verbund am besten zusammen.

Weitere positive Eigenschaften der Heilpflanze wurden von der Berliner Medizinredaktion folgendermaßen zusammengefaßt:

* Die Cystus052-Polyphenole können wegen der erheblichen Molekülgröße nicht vom Körper aufgenommen werden. Systemische Nebenwirkungen bei örtlicher Anwendung (Gurgeln, Lutschen) sind deshalb weitgehend ausgeschlossen. Nebenwirkungen kommen in den bislang vorgelegten klinischen Studien praktisch nicht vor.

* Der unspezifische Wirkmechanismus hemmt Infektionen im Bereich der oberen Atemwege unabhängig vom Erregertyp. In wissenschaftlichen Studien wurde bislang die Wirksamkeit gegenüber typischen Erkältungs-Viren, Influenza-Viren sowie Vogelgrippe-Viren nachgewiesen. Andere Studien, zum Beispiel zur Anwendung des Cystus052-Extraktes bei Tonsillopharyngitis, deuten darauf hin, dass auch bakterielle Infektionen im Bereich von Mundhöhle, Rachen oder Kehlkopf gehemmt werden können.

* Die Infektionsblockade durch Cystus052 bezieht sich nicht nur auf die primäre Ansteckung, also die Erstinfektion. Sondern sie blockiert auch die Erreger-Ausbreitung nach einer Infektion im Bereich der oberen Atemwege ("Re-Infektion"). Dies kann - zum Beispiel bei einer viralen Halsentzündung - zu deutlich geringeren Krankheitsbeschwerden und einem verkürzten Krankheitsverlauf führen. Schließlich verringert eine Infektionsblockade die Ausbreitung von Viren auf andere Menschen, was besonders als Vorbeugung drohender Epidemien von Bedeutung ist.
(mMv, 12. Januar 2008)

Da in dieser Zusammenfassung auf ein bestimmtes Präparat Bezug genommen wird, ist anzunehmen, daß es sich ausschließlich um die von Pandalis finanzierten Forschungsergebnisse handelt. Dennoch rechtfertigen diese Behauptungen im Ernstfall durchaus einen Therapieversuch.

Möglicherweise wird die antivirale Wirkung der Zistrose deshalb öffentlich totgeschwiegen, weil sich Naturheilmittelhersteller bei der behördlichen Zulassungspolitik querstellen. Cystus-Präparate sind als Medizinprodukte, nicht aber als Arzneimittel zugelassen. Um letzteres zu erwirken, müßten kostspielige Prüfungsverfahren für jeden einzelnen Inhalts- und möglichen Wirkstoff durchgeführt werden, um den chemischen Wirkstoff (den es als solchen vielleicht gar nicht gibt) zu ermitteln. Darüber hinaus würde das Verfahren bis zu zehn Jahre beanspruchen.

Da der Heilpflanzenextrakt schon etabliert sei und Nebenwirkungen bislang nicht aufgetreten sind, sehen die Hersteller den Aufwand nicht ein. Es gibt allerdings bisher auch keine bekannten Polyphenole, die für unseren Organismus schädlich wären, somit kann jeder von Erkältung oder Grippe Betroffene die neuen Lutschwunder relativ schadlos ausprobieren, um die Wirksamkeit und Eignung für sich selbst zu überprüfen. Es wird schlimmstenfalls nichts weiter passieren, als daß sich die Erkältung nach acht Tagen allmählich verzieht...

24. September 2009