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UMWELTLABOR/260: Kunststoffe machen Brände zum Inferno (SB)


Rauch und Luftverknappung sind die eigentlichen Todesursachen


Lange Zeit wurde der Rauch zumindest von Laien als eine etwas unangenehme, aber ungefährliche Begleiterscheinung von Bränden angesehen, die hauptsächlich mit einer unvollständigen, d.h. sauerstoffarmen Verbrennung einhergeht. Doch das kann man heute bestenfalls noch von Waldbränden behaupten, bei denen nur die im Holz enthaltenen Kohlenhydrate (Cellulose, Lignin) oxidiert werden. Je nach Sauerstoffzufuhr besteht der Rauch dann in erster Linie aus Rußpartikeln, Kohlenstoffdioxid und dem giftigen Kohlenstoffmonoxid, eine Mischung, die nur am Brandherd selbst zum Erstickungstod führen konnte. Heute bilden diese Bestandteile aber lediglich noch die Grundausstattung des Rauchs. Brände, die in Städten, Gebäuden oder Industrieanlagen ausbrechen, sind inzwischen weitaus gefährlicher, weil der Rauch, der dort durch die Verbrennungsprodukte mit neuen Baustoffen und Isolierungsmaterialien entsteht, immer giftiger wird. Selbst kleinste Brandherde oder kontrolliert entzündete offene Feuer entwickeln heutzutage sehr viel mehr Rauch, als man gemeinhin erwartet. Die Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel, dessen allzu offensichtliche Lösung scheinbar so etwas wie ein Tabu-Thema geworden ist.


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Zwar wird oft über Großfeuer und Brandkatastrophen gesprochen, doch selten dabei erwähnt, daß es sich eigentlich um Rauchkatastrophen handelt. In der populärwissenschaftlichen Zeitung P.M. wurde in der Augustausgabe 2001 von allein jährlich 700 Brandopfern in Deutschland gesprochen. Nur die wenigsten davon erlitten den Flammentod. 80 Prozent der Opfer werden nur durch Rauch getötet.

Die chemischen Reaktionen, die bei diesen Bränden mit Kunststoffen und Baumaterialien entstehen können, sowie die Zusammensetzung des Qualms sind so vielzählig wie die derzeit verfügbaren Kunststoffe selbst, inzwischen kennt man bis zu 5000 giftige Bestandteile, die immer wieder im Rauch von Gebäudebränden vorkommen. Eine schätzungsweise mindestens ebenso große Menge von Schadstoffen wird gar nicht erst erfaßt, weil die Analysemethoden nicht ausreichen.

Im September 1993 entstand laut P.M. beim Brand einer Video-Installation im Düsseldorfer Kunstmuseum Chlorwasserstoffgas (HCl), das sich im Wasserdampf beim Löschen bekanntlich in Salzsäure löst. Binnen Sekunden soll sich ein ätzender, zäher Schleim auf Lagerbestände, Möbel und Geräte gelegt haben, zudem habe der Salzsäuredampf in dem benachbarten Aufzug solche Verheerungen angerichtet, daß er komplett ausgetauscht werden mußte.

Die Feuerwehr (beispielsweise die Hamburger) macht vor allem moderne Kunststoffe für diese Entwicklung verantwortlich. Nehmen wir beispielsweise das allgegenwärtige Polypropylen (Grundbaustein: -(CH2-CHÍÍCH2)n-: Zusammen mit Polyethylen (-CHÍÍCH)n-, Polyamid (Ausgangsstoffe: Phenol und Ammoniak, NH3) und PVC sind dies die Stoffe, aus denen fast alle Kunststoffgeräte, Haushaltsgeräte, Möbel, Spielzeuge, Verpackungen, Sportbegleitung usw. (letztlich unsere ganze alltägliche Umgebung), aufgebaut sind. Als die beiden Entdecker dieses Stoffs 1951 zum erstenmal sahen, wie sich das Gas Propylen in einen gummiartigen Feststoff verwandelte, wußten sie, daß sie auf etwas Außergewöhnliches gestoßen waren. Die US-amerikanische Firma Philipps Petroleum ließ das Verfahren patentieren und der 32jährige Paul Hogan wie der 30jährige Robert Banks arbeiteten noch viele Jahre an der Weiterentwicklung des Produkts. Weder ihnen noch anderen Chemikern oder Unternehmen, die ebenfalls Polypropylen zum Patent anmeldeten, wie 1954 Giulio Natta, war jedoch klar, daß sie mit dem neuen Stoff, dessen Jahresproduktion sich heute auf etwa 35 Millionen Tonnen beläuft, gleichzeitig einen tödlichen Qualm erschaffen hatten, wenn man das Zeug zum Beispiel in normalen Müllverbrennungsanlagen beseitigen wollte.

Einmal in Brand geraten, wird aus dem nützlichen Plastik nämlich ein chemischer Kampfstoff, der die Opfer gnadenlos außer Gefecht setzt: Aceton, Acetaldehyd und Äther werden freigesetzt, sorgen für Betäubung und verursachen gleichzeitig Übelkeit und Erbrechen. Formaldehyd reizt die Augen und erschwert die Atmung. Crotonaldehyd führt zum gefürchteten Glottisödem, bei dem der Kehlkopf blitzartig anschwillt. Rettung vor dem drohenden Erstickungstod kann hier unter Umständen nur noch ein sofortiger, gezielter Kehlkopfschnitt bringen. Polystyrol-Hartschaum, der in vielen Dämmschichten verarbeitet wird, setzt bei unvollständiger Verbrennung Styrol frei, das in seiner Giftigkeit und krebserregenden Wirkung Benzol in nichts nachsteht, durch die Lunge aufgenommen und bis in das zentrale Nervensystem gelangen kann, wo es schließlich sein Unwesen treibt. Vergiftungen und schwer narkotisierende Wirkungen sind die Folge.

PVC (Polyvinylchlorid (-CHCl--CH2)n--)), das immer noch die Ummantelung vieler älterer Elektrokabel darstellt, außerdem in Fußbodenbelägen, Fasern, Schaumstoffen und Folien enthalten ist, kann bei Bränden Phosgen entwickeln, einen Kampfstoff, den man schon aus dem Ersten Weltkrieg kennt. Eine Vergiftung damit zählt zu den entsetzlichsten Todesarten, die sich Menschen für Menschen ausgedacht haben. Phosgen setzt sich auf der Schleimhaut der Lunge ab und zersetzt sie allmählich. Durch die Zerstörung der Lungenbläschen dringt Lymphflüssigkeit in die Lunge ein. Das Opfer ertrinkt quasi an seiner eigenen Körperflüssigkeit.

Phosgen ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs, was im Rauch bei unkontrollierten Bränden entstehen kann. Viele Kunststoffe (z.B. PVC), aber auch Waschmittel, Gummis, Klebstoffe, Reinigungsmittel, Lösungsmittel, Farben und Lacke enthalten "Chlor". Und Chlor ist wiederum der entscheidende, hochreaktive Grundstoff für zahlreiche chemische Kampfstoffe.

Aus den oben genannten alltäglichen Grundstoffen wird bei der Verbrennung beispielsweise Chlorgas freigesetzt, das mit anderen Verbrennungsprodukten neue Verbindungen eingehen kann. Für die Darstellung von Phosgen reicht außer Chlorgas (Cl2) nur noch Kohlenstoffmonoxid (CO):

CO
+
Cl2
−−−−−>
Cl2C=O
(Phosgen)

Diese einfache Verbindung ist nebenbei bemerkt, großtechnisch hergestellt, das Ausgangsprodukt vieler Pharmazeutika, angefangen von Harnstoff bis hin zu lebenswichtigen Medikamenten.

Neben Phosgen können aus dem alltäglichen Kunststoffmix aber auch Senfgas, Chlorgas, Chlorcyan, Clark 1, Clark 2, Lewisite, Chlorwasserstoff (HCl) sowie die "harmloseren" Tränengase CN und CS entstehen.


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Aber nicht nur qualitativ, auch quantitativ hat sich der Rauch verändert. Unter Einwirkung von Hitze verwandeln sich selbst harmlos wirkende Gegenstände in gefährliche Rauchbomben. Ein in Brand geratenes Telefon reiche vollkommen aus, um innerhalb kürzester Zeit ein Einfamilienhaus völlig zu verqualmen. Doch auch ein etwa 100 Gramm schweres Kunststofftäfelchen reicht schon aus, um eine 80 Quadratmeter große Wohnung in eine tödliche Gaskammer zu verwandeln. So hieß es in P.M.:

Zehn Kilogramm Zellulosepapier ergeben bei der Verbrennung 10.000 Kubikmeter Brandrauch, das entspricht zwölf Einfamilienhäusern à 800 Kubikmeter Rauminhalt. Eine zehn Kilogramm schwere Schaumgummimatratze aus einem Kinderbett verwandelt sich in 25.000 Kubikmeter Rauch (etwa 30 Einfamilienhäuser). Ein 15 Meter hohes Treppenhaus lässt sich bei der Verbrennug von nur zehn Kilogramm Schaumstoff 100 Mal mit Rauch füllen.

Bei einem Brandversuch wurden im Keller eines dreistöckigen Hauses 700 Kilogramm Holz entzündet. Bereits zwei Minuten später war das gesamte Erdgeschoss verraucht, nach vier Minuten das gesamte Gebäude. "Hätten Sie gewusst", so die Freiwillige Feuerwehr Haßfurt, "dass bei einem Wohnungsbrand in einem Reihenhaus die im Dachgeschoss schlafenden Kinder kaum eine Überlebenschance haben?"
(P.M., August 2001, Seite 22)

Die Schlußfolgerungen, die aus diesen Ergebnissen und Zusammenstellungen gezogen werden, sind ebenso hilflos wie nutzlos und enthalten letztlich nur moralische Verhaltensmaßregeln, mit denen die Schuldzuweisung an die Rauchopfer zurückgegeben wird: Man solle auch in privaten Haushalten Rauchmelder installieren, um nicht im Schlaf von dem giftigen Rauch überrascht zu werden, man solle bei Bränden davon absehen, Fenster zu öffnen, um dem Feuer nicht zusätzlichen Sauerstoff zuzuführen, man solle nicht die Türen zum Brandraum öffnen, sondern auf die Feuerwehr warten, damit der gefährliche Rauch möglichst eingedämmt bleibt. Last but not least wird dazu geraten, wieder zu natürlichen, aber für die meisten Bauherren unerschwinglichen Baumaterialien wie Holz zurückzukehren. Nur wird vergessen, daß weitgehend alle natürlichen Dämmmaterialien wie Holzfaserdämmstoffe heutzutage ebenfalls durch Kunststoffleime fixiert oder zusammengehalten werden, so daß dieser kostspielige Ersatz wohl kaum die Giftigkeit heutiger Rauchbrände entscheidend verändern könnte. Es sei denn, man verzichte ganz und gar auf Chemie (also auch Waschmittel etc.).

Was jedem ins Auge springen müßte, aber nicht in der Fachpresse erwähnt wurde, ist die ungeheure Ausbreitungsmöglichkeit des Rauches, die oft auch noch Personen ereilt und vergiftet, die sich in einiger Entfernung zum Brandherd befinden. Ein Beispiel ist hierfür die Gletscherbahnkatastrophe von Kaprun am 11. November 2000, bei der 155 Menschen ums Leben kamen.

Bevor der Zug im Tunnel ausbrannte, hatte sich dieser längst in eine tödliche Gaskammer verwandelt. Wenige Atemzüge dürften genügt haben, um sämtliche Passagiere zu narkotisieren. Sehr wahrscheinlich waren schon alle tot, ehe die Flammen den Zug selbst erreichten. 300 Kilogramm Skiausrüstungen aus Nylon, Polyamid und Polyester qualifizierten den Rauch zu Giftgas, das sich blitzschnell im gesamten Tunnelsystem ausbreitete. 60 Fahrgäste, die versucht hatten, bergwärts zu flüchten, kamen maximal 50 Meter weit. Dann hatte der Rauch auch sie vergiftet. Und selbst in der drei Kilometer entfernten Bergstation wurden ein Angestellter und zwei Touristen noch Opfer des Rauchs.

Die gemeinhin schulmäßig bekannte Ursache für ungewöhnlich starke Rauchentwicklung und seine breite, blitzartige Spreitung, ist geringer Luftdruck und wenig Sauerstoff. Aber ist nicht genau dies die eigentlich alarmierende Botschaft, die eine von Experten erstaunt wahrgenommene Entwicklung zunehmenden Rauchs bei Brandkatastrophen wesentlich stichhaltiger erklären könnte: Die Zusammensetzung der atmosphärischen Luft hat sich offenbar schon so spürbar verändert, daß sich die Folgen deutlich abzeichnen, doch niemand will dieser Tatsache ins Gesicht sehen.

Erstveröffentlichung 2002
neue, aktualisierte Fassung

15. September 2009