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UMWELTLABOR/230: Brisante Weichmacher für unschädlich erklärt (SB)


Gefahr von Bisphenol A immer noch akut,
nur der Grenzwert wurde heraufgesetzt.


Nach Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom 23. Juli 2008 wurde die umstrittene Menge der chemischen Substanz Bisphenol A, die in Babyflaschen nachgewiesen werden konnte, von der EU-Behörde für harmlos erklärt. Sorgen wären unbegründet, hieß es weiter.

Die Debatte um die meist unterschätzte toxische Substanz, welche Bayer AG seit über 40 Jahren in großtechnischem Maßstab synthetisiert, wird immer wieder angefacht, weil einerseits ihre Schädlichkeit mit neuen Versuchen belegt werden soll, während andererseits die Behörden gemeinsam mit der chemischen Industrie um Beschwichtigung bemüht sind und ihrerseits Experimente fördern, die das Gegenteil beweisen. Dabei ist ohnehin schon lange klar, daß man auf diesen Umweltschadstoff nicht verzichten kann und seine Verbreitung in der Umwelt zwangsläufig immer stärker zunehmen wird.

Laut Reuter sei die Diskussion über BPA in den Vereinigten Staaten und Kanada erneut entfacht, weil verschiedene Studien und Untersuchungen an Nagetieren noch einmal darauf hinwiesen, daß selbst sehr kleine Mengen BPA - das als Weichmacher in Babyfläschchen oder Lebensmittelverpackungen aus Polykarbonat bzw. anderen Kunststoffprodukten (CDs, Plastikverpackungen, Innenwänden von Konservendosen (Oberflächenschutz von Metallen), Gießharzen, Einbrennlacken, Klebstoffen oder auch zahnmedizinischem Material) vorkommen kann - gesundheitsschädlich sein können. Man spricht dabei von Niedrigdosen-Effekten. Im Originalbericht hieß es:

Earlier this year, a heated debate over BPA safety sparked in the United States and Canada after various studies involving laboratory rodents suggested that even small levels of BPA - used in products ranging from baby and water bottles to beverage cans - can be harmful.
(Reuter via AP, 23. Juli 2008)

Diese Behauptung wird von der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA (European Food Safety Authority) bestritten, derzufolge die winzigen Mengen, denen Menschen durch solche Produkte ausgesetzt werden, keinen Schaden anrichten können, da gerade der Mensch sie sehr schnell verstoffwechseln und ausscheiden würde. Die EFSA stützt sich hierbei, einer Nachricht in der Süddeutschen Zeitung zufolge, auf eine durch die chemische Industrie finanzierte Untersuchung, nach der ein Mensch fünfmal mehr BPA verträgt als man bisher glaubte. Allerdings hält sich die EU-Behörde im Hinblick auf die Untersuchungen bedeckt, auf die sie ihre aktuelle Argumentation aufbaut. So hieß es in der Süddeutschen Zeitung:

Auffällig ist dabei, daß es stets öffentlich finanzierte Arbeiten waren, die Beeinträchtigungen durch BPA feststellten: 153 dieser Studien fanden negative Effekte schon bei niedrigen Konzentrationen, nur 14 fanden keine. Dagegen kamen alle 13 von der Industrie geförderten Studien zu dem Schluss, BPA sei eher harmlos.
(Süddeutsche Zeitung, 27. Juni 2008)

Die Möglichkeit des Menschen zu einer schnelleren Stoffwechselverarbeitung mache den entscheidenden Unterschied zu Ratten und Versuchstieren aus, hieß es in der Stellungnahme der EFSA zu diesem Thema.

"The conclusions of the panel are that after exposure to BPA the human body rapidly metabolizes and eliminates the substance. This represents an important metabolic difference compared with rats," EFSA said in a statement.
(Reuter via AP, 23. Juli 2008)

Dabei hat man offensichtlich vergessen, daß gerade Ratten im Vergleich zum Menschen als besonders anpassungsfähig gelten, was die Verarbeitung von Giften angeht und was sie u.a. auch dazu befähigt, in hochbelasteten Umgebungen wie Abwassersystemen u. dgl zu überleben.

Für Labormäuse scheint der Unterschied zum Menschen wohl nicht mehr so groß zu sein, denn das sind die Versuchstiere, die das Team der Biologin Rochelle Tyl am amerikanischen Research Triangle Institute in North Carolina für ihre Untersuchungen einsetzte, worauf sich jetzt die EFSA berufen soll:

Über zwei Generationen hin hätten sich keine negativen Effekte geringer BPA-Dosen gezeigt, berichteten die EFSA-Experten in ihrer Begründung für den heraufgesetzten Grenzwert. Ihnen lag offenbar ein Entwurf der Studie vor, veröffentlicht ist diese jedoch bislang nicht. Auf Anfrage erläuterte eine Sprecherin der EFSA: Die betreffende Studie sei vom European Chemicals Bureau (ECB) im Rahmen der Risikobewertung von bestehenden Chemikalien veranlasst worden, das Vorgehen mit dem ECB abgestimmt.

Es sei gängige Praxis, dass die EFSA-Gremien sich auf solche noch unveröffentlichten Entwürfe stützen. "Die Studie ist noch nicht publiziert, die Veröffentlichung wird aber in den nächsten Monaten erwartet", so die Sprecherin im Februar.
(Süddeutsche Zeitung, 27. Juni 2008)

Selbst Säuglinge und Kleinkinder müßten konsequenterweise danach in der Lage sein, Ratten und Mäuse im Verarbeiten von BPA zu übertreffen und tägliche Dosen des fraglichen Stoffes von 1 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht zu metabolisieren und auszuscheiden. Diese Menge liegt weit oberhalb des neuen tolerierten Grenzwerts TDI (Tolerable Daily Intake) von 0,05 Milligramm (50 Mikrogramm) pro Kilogramm Körpergewicht. Und das macht zunächst einen guten Eindruck.

Im Gegenteil zu der aus Tierversuchen gezogenen Schlußfolgerung, daß BPA extrem placentagängig sei, wäre die Belastung menschlicher Feten während der Schwangerschaft sogar gänzlich zu vernachlässigen, hieß es weiter vom Sitz der EFSA in Parma, weil die Mutter den Stoff mit ihrem Metabolismus schnell genug verarbeiten kann, ohne daß das Kind im Mutterleib davon betroffen würde. Auch die Quellen zu dieser Hypothese gab die EFSA nicht preis.

Statt dessen rechtfertigte sie die Erhöhung der Grenzwerte damit, daß sich der zuletzt festgelegte Risikowert (2006) von 0,05 mg/kg Körpergewicht (entsprechend 50 Mikrogramm) aus dem verträglichen Tagesdosis-Wert von 5 mg/kg Körpergewicht, bei dem keine unerwünschte Wirkung beobachtet wurde, zusammensetzt, den man zusätzlich mit einem Unsicherheitsfaktor von 100 multipliziert.

Mit den jüngsten Untersuchungen will die EFSA diesen neuen TDI als ausreichenden Grenzwert bestätigen, der ihrer Meinung nach genug Spielraum für die Sicherheit des Konsumenten einschließlich Säuglingen und Ungeborenen bietet.

Allerdings muß man sich angesichts des willkürlich festgelegten Unsicherheitsfaktors doch fragen, auf welche Untersuchungen sich eine Analyse gründet, bei der von einer so hohen Fehlerwahrscheinlichkeit ausgegangen werden muß, um letztlich Sicherheit zu gewährleisten.

Mit der Festlegung des TDI wurde nun der bisher gültige gesetzliche Grenzwert von 0,01 mg (bzw. 10 Mikrogramm) deutlich auf das Fünffache heraufgesetzt. Da hierzulande die Grenzwerte meist in Mikrogramm (1 mg = 1000 µg) dargestellt werden, könnte dieser Aspekt einem flüchtigen Betrachter der angelsächsischen Fassung sogar entgehen, was möglicherweise der eigentliche Sinn derart verwirrender Zahlenspiele sein könnte, denn selten wird auf die Erhöhung des Grenzwertes direkt aufmerksam gemacht.

Tatsache ist, daß die gleiche Menge BPA, die beispielsweise ein Babyfläschchen absondert, nun per Dekret seit Anfang dieses Jahres nicht mehr so schlimm sein soll wie noch kurz zuvor. Und das, obwohl die Belastung mit diesem Stoff in der Umwelt weiterhin spürbar zunimmt und es schon jetzt unmöglich ist, den Grenzwert überhaupt einzuhalten. Die meßbaren Konzentrationen in Lösungen (d.h. in den flüssigen Inhalten von Kunststoffverpackungen wie Limonaden und Getränken, Putzmitteln etc.) liegen derzeit schon häufig in Bereichen oberhalb von 50 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht. Darüber hinaus konnte man in den bisher durchgeführten Messungen kontinuierlich ansteigende Werte mit der Alterung des Kunststoffs beobachten, was beispielsweise in den "bruchsicheren" Kunststoff-Babyflaschen höchst brisant wird, wenn sie an die nachfolgenden Geschwister weiter vererbt werden.

Bei näherer Betrachtung entspricht der neue Grenzwert sogar genau dem alten, ursprünglichen Grenzwert für BPA, ehe dieser von den gleichen EU-Behörden aufgrund der angeheizten Diskussion um die Gefährlichkeit des Stoffes zur Beschwichtigung der öffentlichen Meinung herabsetzt wurde, was aber weder damals noch heute etwas an der Umweltsituation oder an der Belastung für die Betroffenen etwas ändern konnte.

4.4'-Dihydroxy-diphenyl-dimethyl-methan (Dian), das allein mit seiner EU-weiten Jahresproduktion von rund 700.000 Tonnen den Herstellern Milliardenumsätze einbringt (weltweit sind es sogar rund drei Millionen Tonnen BPA), ist ein Ausgangsprodukt für Epoxidharze, in denen es als Bisphenol A-Diglycidäther eine weitgehende Vernetzung der hochmolekularen Produkte und eine bessere Aushärtung der Harze garantiert. Es findet sich in verschiedenen Lackrohstoffen und Kunststoffprodukten, Gießharzen, Einbrennlacken, Klebstoffen oder auch zahnmedizinischem Material, so daß quasi jeder Mensch mit geringen Mengen dieser Substanz allein schon durch Lebensmittelverpackungen in Berührung kommt, ob er nun will oder nicht.

In den seltensten Fällen werden die Verbraucher auf diesen Inhaltstoff aufmerksam gemacht, und wenn doch, dann stehen für dieses Produkt mehrere Namen zur Verfügung, die der Verschleierung des Stoffs und der Verwirrung der Verbraucher Vorschub leisten. So versteht man unter 4.4'-Dihydroxydiphenyl-dimethylmethan oder Dian bzw. Bis-(p- hydroxyphenyl)-propan oder Bisphenol A immer das gleiche Produkt, das sehr leicht über Phenol und Aceton unter Wirkung von 75%iger Schwefelsäure (H2SO4) zugänglich und deshalb auch äußerst preiswert ist.

Da Epoxidharze und Polycarbonatkunststoffprodukte wie CDs sehr leicht zu recyclen sind - nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Kunststoff-Recycling in Köln lassen sich gerade CDs im Gegensatz zu vielen anderen Kunststoffen oder Verpackungsmaterialien angeblich zu annähernd 100 Prozent in sortenreine Bestandteile zerlegen und wieder verwerten -, wird die Freisetzung von Bisphenol A durch die chemische Behandlung während des Recyclingprozesses noch zusätzlich gefördert.

Diese vergleichsweise niedrigen Dosen könnten möglicherweise schon ausreichen, den Stoffwechsel des Menschen gravierend zu beeinflussen. Denn zum einen läßt sich chemisch eine enge Verwandtschaft des Bisphenol A mit dem inzwischen aus dem Verkehr gezogenen Insektengift DDT kaum leugnen, daß nebenbei bemerkt unter den gleichen Versuchsbedingungen wie DDT mit leicht differierenden Ausgangsprodukten in den gleichen Reaktoren der Bayer AG hergestellt wird.

Zum anderen weiß man schon seit 1938, daß Bisphenol A im wesentlichen eine östrogenähnliche Wirkung auf den Menschen besitzt, also genau wie Ethinestradiol, von dem ebenfalls ökologisch bedenkliche Mengen permanent in die Umwelt gelangen.

Da beide Stoffe schon öfter in Verdacht geraten waren und ihre schädigende Wirkung sogar mit unterschwelligen Dosierungen (Niedrigdosis-Effekte) an Zellkulturen, Mäuseföten und Ratten nachgewiesen worden waren, sind die neuerlichen Versuche nur als Möglichkeit zu werten, von der eigentlich brisanten Thematik abzulenken. Denn die damaligen Versuche, ebenfalls an Mäusen, belegten schon im Niedrigdosis-Bereich das genaue Gegenteil:

Männliche Mäuse, die in der Gebärmutter derartigen Substanzen ausgesetzt waren, entwickelten Deformationen der Prostata und der Harnröhre. Tests wurden für Ethinylestradiol und Bisphenol A durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie wurden in den Proceedings of the National Academy of Sciences http://www.pnas.org veröffentlicht.
(pressetext.de, 5. Mai 2005)

Im Gegensatz zu der Studie, auf die sich die aktuellen Grenzwerte berufen, war diese Quelle zumindest zugänglich. Zwar war man auch damals nicht sicher, ob diese Hinweise für Rückschlüsse für das Auftreten ähnlicher Probleme beim Menschen ausreichten. Es ließ sich jedoch angesichts der Fakten kaum noch wirklich ausschließen.

2005 hatten die Wissenschafter den Mäusen Dosierungen der Chemikalien verabreicht, die unter den Mengen lagen, denen schwangere Frauen ausgesetzt sein können, wenn sie während der Schwangerschaft weiter die Pille einnehmen und mit BPA verunreinigte Lebensmittel und Getränke zu sich nehmen. Die männlichen Föten wiesen in der Folge eine Vergrößerung der Prostata und eine Verengung der Harnröhre auf. Der leitende Wissenschafter Frederick vom Saal von der University of Missouri erklärte, daß während der fötalen Entwicklung geringe Mengen von östrogenalen Chemikalien die Zellkontrollsysteme permanent stören und die Prostata anfälliger für Krankheiten machen können. Er gehe auch davon aus, daß diese Chemikalien Prostatakrebs verursachen können.

Der gleiche Forscher hatte schon vor Jahren gezeigt, daß sich die hormonempfindliche Prostata bei Mäuseföten unter Einfluß von Bisphenol A vergrößert; und das bei Konzentrationen, die weit unter den als "wirkungslos" geltenden Mengen lagen.

Damals geriet damit ein Grundprinzip der Toxikologie ins Wanken: nach diesem sollte sich ein potentiell giftiger Stoff bei sinkender Konzentration immer weniger auf den Organismus auswirken und unterhalb einer bestimmten "Dosis ohne Effekt" (international: NOAEL) auch keinen Schaden mehr verursachen.

Auf dieses Prinzip stützt sich, trotz gegenteiliger Erfahrungen (s.o.), auch heute noch das System der Risikoprüfungen. Das scheint geradezu paradox, wenn man bedenkt, daß bei anderen Stoffwechselvorgängen im Organismus geringste Mengen von Spurenelementen, Vitaminen oder körpereigenen Hormonen für bestimmte Abläufe verantwortlich gemacht werden, und - wenn man es sich nicht anders erklären läßt - sogar für die gegenteilige Wirkung, wenn die Konzentration ein bestimmtes Maß unterschreitet.

Darüber hinaus konnte der Toxikologe Ibrahim Chahoud in seinen Studien belegen, daß die Geschlechtsentwicklung der Nachkommen trächtiger Ratten, die mit geringen Spuren von Bisphenol A behandelt wurden, selbst dann nachhaltig beeinflußt war, wenn die Dosis die derzeit akzeptierte "Dosis ohne Effekt" um das 2500fache unterschritt.

Doch all die nachgewiesenen Niedrigdoseneffekte mit BPA, die nachweislichen Schädigungen an Hirn und Hoden, die Störungen in der Embryonalentwicklung sowie die beobachteten Verhaltensänderungen werden von bayerfreundlichen Wissenschaftlern schlicht ignoriert und sollen aufgrund des Stoffwechselunterschieds zwischen Nagetieren und Menschen nicht relevant sein? Ein überzeugender Unbedenklichkeitsnachweis konnte aber bisher auch nicht erbracht werden.

Der Bayer AG scheint jedoch dieser neue positive Stimmungstrend zunächst einmal zu reichen, um weiterzumachen wie bisher.

Kurzum komme es in dem sterilisierenden Chemiecocktail, dem wir dank Bayer und Co ohnehin ausgesetzt sind, auf die weltweite Produktion von jährlich rund drei Millionen Tonnen BPA kaum weiter an. Frei nach dem Motto, was uns nicht umbringt, macht uns stärker, passen wir unseren Stoffwechsel den toxischen Verhältnissen an. Das sind doch vor allem u.a. Bayer, Schering, "Hoechst" beruhigende Aussichten!

30. Juli 2008