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UMWELTLABOR/189: China (1) Mehr Chemie als Wasser im Jindong (SB)


Chemie-Abwasser macht chinesischen Fluß ätzend

Marode Verhältnisse in der chemischen Industrie lassen gesundes Trinkwasser zur Fiktion werden


Womit in anderen Ländern, sei es als Satire, Übertreibung oder Karikatur, brisante Tendenzen thematisiert wurden - Fische in Neoprenanzügen als Schutz vor kontaminiertem Wasser, Angler, die nur noch Fischgräten an der Angel haben und ähnliche Szenarien -, in China sind diese Bilder tatsächlich trauriger Alltag geworden. So berichtete die Schweizer Nachrichtenagentur SDA am vergangenen Freitag:

Erneut Chemie-Gifte in chinesischem Fluss - Dutzende erkrankt

Peking (sda/reuters) Dutzende Chinesen haben durch Chemie-Gifte in einem Fluss teils schwere Hautverbrennungen erlitten. Stunden, nachdem sie Kleidung im Jindong gewaschen hatten, verspürten die Menschen Juckreiz und ein Brennen auf der Haut.

Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua am Freitag. Zuvor waren tote Fische im Wasser getrieben, manche Bewohner kamen mit ihnen in Kontakt.
(sda, 22. Juni 2007)

Die schweren Verbrennungen, mit denen die Betroffenen laut NDR info "ins örtliche Krankenhaus eingeliefert werden mußten", gehen auf das Gift Dimethylamin zurück, das der Fabrik von Boda Chemical zugeordnet wurde. Xinhua zufolge sei der Stoff versehentlich in den Fluß der östlichen Provinz Anhui eingeleitet worden; die Fabrik habe man zum Zwecke der Ermittlungen geschlossen.

Dimethylamin ist bei Raumtemperatur ein farbloses, brennbares Gas, das sich durch Abkühlung verflüssigen läßt und einen typischen fischähnlichen Geruch besitzt. Letzterer prädestiniert es geradezu dazu, daß man es in starker Verdünnung in einem ohnehin nicht geruchsfreien Gewässer kaum als giftigen Zusatz wahrnimmt. Somit ist hinter dem aktuellen Unglück durchaus mehr als ein fahrlässiges einmaliges Versehen zu vermuten. Eher wahrscheinlich ist, daß es unabsichtlich zu einem erheblich größeren Ablassen der fraglichen Substanz gekommen ist, die man in weniger auffälligen Mengen regelmäßig in den Fluß entsorgt.

Dimethylamin wird als Zwischenprodukt zur Herstellung zahlreicher Folgeprodukte wie Lösungsmittel, Pflanzenschutzmittel, Farbstoffe gebraucht und kommt gewöhnlich als 40%ige oder 60%ige wässrige Lösung oder als druckverflüssigtes Gas in den Handel. Allein in der pharmazeutischen Industrie ist es an unzähligen Arzneistoffsynthesen beteiligt. Da es großtechnisch sehr einfach aus Methanol und Ammoniak gewonnen werden kann (bei einer Temperatur von 370-430°C und einem Druck zwischen 20-30 bar) wird es gewöhnlich vor Ort erzeugt und dann weiterverwendet. Ob in der fraglichen Fabrik Dimethylamin hergestellt und gebraucht wird oder der Stoff als Nebenprodukt bei der Herstellung von Methylamin oder Trimethylamin (die aus der gleichen großtechnischen Reaktion hervorgehen) entsteht, wurde nicht weiter erörtert.

Als Gas, Flüssiggas und auch noch als Lösung wird Dimethylamin als hochentzündlich und gesundheitsschädlich deklariert. Im einzelnen werden starke Schleimhautreizung, sowie Brennen in den Augen und auf der Haut, Husten und Atemnot nach Einatmen der Dämpfe, Kopfschmerzen und Übelkeit als Vergiftungssymptome genannt. Nach Kontakt mit der ätzenden Flüssigkeit darf Kleidung nicht mehr am Leib behalten werden, die Haut muß sofort mit viel Wasser gespült und mit Polyethylenglykol 400 (als Komplexbildner und Antidot) abgewaschen werden.

Die starken Hautirritationen und Verbrennungen nach Kontakt mit Kleidung, die in dem mit Dimethylamin verunreinigten Flußwasser gewaschen wurde, ist hiernach ein Hinweis darauf, daß man es unbedingt mit einer hochprozentigen Lösung zu tun hatte oder, anders gesagt, daß man den chemischen Cocktail im Jindong zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr als "Flußwasser" bezeichnen konnte.

Um mit dem gewöhnlichen Flußwasser eine derart ätzende Konzentration zu erzielen, scheint es sehr wahrscheinlich, daß große Mengen reinen Gases an irgendeiner Stelle in den Fluß eingeleitet wurden, die sich im übrigen hervorragend in Wasser lösen, ohne ihre ätzende Natur aufzugeben.

Daß der Vorfall gewissermaßen die fahrlässige Entgleisung jahrelanger, bisher unentdeckter Praxis sein könnte, ist schon allein deshalb naheliegend, da der aktuelle Vorfall nur eine weitere Enttarnung in einer ganzen Kette von Umweltkatastrophen und Schadstoffeinträgen in chinesische Wasserläufe darstellt, die in der letzten Zeit publik wurden. In China habe die Zahl der Umweltschäden laut sda entsprechend dem rasanten Wirtschaftswachstum zugenommen. Oft würden Regelungen umgangen oder Verstöße unzureichend geahndet. Die Last trägt letztlich die Bevölkerung: Sauberes Trinkwasser, das hier zum größten Teil aus den Fließgewässern gewonnen wird, ist nicht nur ein kostbares Gut geworden, es ist gewissermaßen eine Fiktion.

Angeführt durch die Explosion in einer Chemiefabrik in der Provinz Jilin, die im November 2005 dazu geführt hatte, daß 100 Tonnen Benzol und Nitrobenzol in den Songhuafluß gelangen konnten, wurden bis heute 45 weitere Chemieunfälle gemeldet.

Entlang der Küsten und Flüsse in China gibt es rund 21.000 Chemiefabriken, die nicht den Ansprüchen westlicher Sicherheitsmaßstäbe entsprechen, wie eine Zählung durch die chinesische Umweltschutzbehörde (Sepa) nach der schweren Benzol- Verseuchung des Songhua ergab.

Über 50% der Industrieanlagen findet man an den beiden größten Flüssen des Landes, dem Yangtse und dem Gelben Fluß. 400 Millionen Menschen leben entlang des Yangtse, 100 Millionen Menschen in der Nähe des Gelben Flusses. Jahrelang hat man nicht auf die Konsequenzen für die Umwelt oder die dort lebenden Menschen geachtet. (Schattenblick 2006, Naturwissenschaften\CHEMIE: NEWS/623: Schadstoffeinleitungen - 20.000 Chinesen ohne Wasser
(SB))

Das blieben aber nicht die einzigen Einleitungen cancerogener Substanzen in chinesische Flußläufe, um nur ein paar Beispiele zu nennen:

- Im Mai 2006 wurde erneut eine hohe Konzentration an krebserregenden Schadstoffen im Chinas Yangtse Fluß festgestellt, die das Trinkwasser von Schanghai und von vielen anderen Städten entlang des Flusses kontaminierte.

- Im April davor hatte die russische Presse angesichts der Schadstoffbedrohung durch die chemische Industrie im benachbarten China von einem fernöstlichen Tschernobyl gesprochen. Längs des Amur (einem Fluß, der chinesische Schadstoffeinleitungen nach Rußland bringt) waren gehäuft gesundheitliche Probleme aufgetreten, die auf Umweltschadstoffe zurückgeführt wurden:

"Liver problems were found in 73 percent of adults tested and in 80 percent of children under 14," the paper said, citing experts. "The number of people suffering from cardio-vascular diseases in riverside villages is significantly higher than those further from the Amur."
(AFP, 17. April 2007)

Tatsächlich hat China seit den 90er Jahren eine beispiellose Entwicklung vollzogen. Von 1999 bis 2006 vervierfachte sich die Zahl der Studierenden auf 17,4 Millionen. Allein die Anzahl der in Deutschland studierenden Chinesen stieg beispielsweise von 5.000 auf 26.000. Jetzt investiert China in die Qualitätssteigerung der Ausbildung und in Forschung und Entwicklung, um unabhängiger von ausländischen Technologien zu werden. Schon heute ist China nach den USA das Land mit den zweithöchsten Forschungs- und Entwicklungs(F&E)- Ausgaben weltweit. Mit den USA wetteifert China allerdings auch jetzt schon um die Stellung des größten Umweltsünders in Sachen Treibhausgase und das kommt vielen Industriestaaten gerade recht, um von den eigenen Problemen abzulenken und mit mahnenden Finger gen Osten zu weisen.

Für seinen wirtschaftlichen Erfolg zahlt China einen hohen Preis. Der Quantensprung an industriellen Errungenschaften und die rasante Geschwindigkeit, mit der es sich an die Maßstäbe westlicher Industriestaaten anzupassen scheint, läßt die Entwicklung und Sorge um Umwelt und Natur auf der Strecke bleiben. Und das betrifft vor allem die ärmere Bevölkerung:

Während viele Landbewohner von der rasanten Wirtschaftsentwicklung profitieren, fallen jährlich zirka 10 Mio. Bauern durch die ökologischen Veränderungen wieder unter die Armutsgrenze. Nach Schätzungen der Weltbank sterben pro Jahr über 300.000 Menschen in China an den Folgen der massiven Umweltverschmutzung.
(idw, 25. Juni 2007)

Über weitere Probleme in China wie die hohe Luftbelastung, saurer Regen, die Verschmutzung der Gewässer durch ungeklärte Abwässer, die bedenkliche Müllentsorgung (auch nukleare Abfälle), die fortschreitende Wüstenbildung, Überdüngung, Austrocknung und Erosion sowie den Verlust an Artenvielfalt berichten wir in der nächsten Folge.

26. Juni 2007