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WERKSTOFFE/039: Material B oder Der selbstheilende Fahrradschlauch (SB)


Siegeszug für Supergummis wird vorausgesagt,

aber hält es auch, was es verspricht?


Wer die Geschichte von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, von Michael Ende gelesen hat, der weiß, daß viele praktische Errungenschaften in der Fiktion bis heute noch ihr praktisches Ebenbild in der Wirklichkeit suchen. Man denke an den berühmten Knopf auf Jimmys Hosenboden, den man, wenn die Hose riß, nur einfach wieder zuknöpfen mußte oder auch an den Magneten an der Angelschnur, mit dem sich die eisenbewährte Lokomotive Emma selbst durch die Wüste ziehen konnte...

Nun zum Glück gibt es auch noch Wissenschaftler wie die Materialforscher um Ludwik Leibler von der École Supérieure de Physique et Chimie Industrielles in Paris, die der Literatur in nichts nachstehen und auch die Realität mit derart praktischen Errungenschaften wie selbstheilenden Fahrradschläuchen oder Regenmäntel bereichern, wie sie uns die jüngste Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft verspricht. Darin schreibt Michael Groß:

Anwendungen - und ein zugkräftiger Name - für Material B sollten nicht lange auf sich warten lasen. Vom selbstflickenden Fahrradschlauch bis hin zu korrosionsfesten Lacken und medizinischen Prothesen lassen sich vielerlei Einsatzmöglichkeiten denken. Da die Ausgangsmaterialien leicht erhältlich und preisgünstig sind, sollten dem Siegeszug des Supergummis keine wesentlichen Hindernisse im Weg stehen.
(Spektrum der Wissenschaft, Juni 2008)

Und mit dieser Ansicht steht er nicht allein:

"Diese Entdeckung steht kurz vor einer wirtschaftlichen Anwendung", beurteilt Takuzo Aida, Chemiker und Kunststoffexperte der Universität Tokio, den neuen Werkstoff. Er kann sich neben selbstheilenden Fahrradschläuchen zahlreiche Produkte vorstellen. Langlebige Beschichtungen, Lacke und Farben für Fassaden und Autos und sogar selbstheilende Implantate für den medizinischen Einsatz hält er auf der Grundlage dieser Entdeckung für möglich. Und schon bald könnten erste Produkte auf dem Markt kommen.
(Welt der Physik 21. Februar 2008)

Wie man sieht, warten wir schon ein Vierteljahr auf wirklich neue Erkenntnisse über diesen scheinbar sensationellen Stoff, denn er machte bereits im Februar als selbstheilendes Gummi in verschiedenen Medien von sich reden.

Was die unspektakulären Ausgangsmaterialien und die leichte Erzeugbarkeit angeht, so ist die Herstellung des supramolekularen Gummis chemisch tatsächlich recht unproblematisch.

Die Forscher beschränken sich bei den Ausgangssubstanzen auf einfachen Harnstoff und Fettsäuren aus Pflanzenöl, aus denen laut Spektrum der Wissenschaft besonders jene mit zwei oder drei Karboxylgruppen (frührer: Carboxylgruppen = -COO) zum Aufbau molekularer Netze genutzt werden:

An die Karboxylgruppen knüpften Leibler und seine Kollegen mittels einer so genannten Kondensationsreaktion - durch die sich auch Aminosäuren unter Abspaltung von Wasser zu Proteinketten aufreihen - stickstoffhaltige organische Moleküle, die von Harnstoff oder Imidazol abgeleitet waren. Sie enthalten sowohl Donorgruppen, die ein teilweise positiv geladenes Wasserstoffatom als Brückenkopf zur Verfügung stellen (etwa -OH, -NH2), als auch Akzeptoren mit partiell negativer Ladung, die mit diesem Atom wechselwirken können (wie =O). Alle verwendeten Substanzen sind gängige, kostengünstige und leicht handhabbare Chemikalien, die bereits im industriellen Maßstab hergestellt und eingesetzt werden.
(Spektrum der Wissenschaft, Juni 2008)

Darüber hinaus sollen sowohl der größte Teil der Ausgangsstoffe wie auch das Produkt selbst umweltverträglich und recyclefähig sein.

Wie das online verfügbare "TechPortal - Zukunft im Blickpunkt" im Februar berichtete, entstand zunächst eine durchscheinende glasartige Plastiksubstanz, deren Glasübergangstemperatur bei 28 °C lag. Diese Substanz wurde dann durch Zugabe von Dodecan (Mineralölbestandteil, schlichte lineare Kohlenwasserstoffkette mit zwölf Kohlenstoffatomen, C12H26) wieder erweicht, so daß sich die Übergangstemperatur auf 8 °C verringerte und sich ein gummiartiges, glattes und keinesfalls klebriges Material - das supramolekulare Gummi - bildete. Das Netz enthält zwei Sorten von Molekülen: stäbchenförmige "ditopische" Moleküle mit zwei Wasserstoffbrücken an ihren Enden, die Ketten bilden können, und sternförmige "tritopische" Moleküle mit drei Brücken, die für die Vernetzung sorgen.

Das fertige Material B soll die gleiche Dehnbarkeit und Elastizität besitzen wie herkömmliches aus vulkanisiertem Kautschuk hergestelltes Gummi. Während letzteres jedoch beim Vulkanisieren durch feste, kovalente, chemische Bindungen quervernetzt ist, bleiben die Bindungen des neuen Stoffs chemisch flexibel, lassen sich leicht wieder auflösen, umordnen und neu verknüpfen. Das liegt daran, daß es sich bei der hier vorherrschenden Bindungsart um Wasserstoffbrücken handelt, deren Zusammenhalt man theoretisch mit der elektrostatischen Dipol-Wechselwirkung erklärt. Genau genommen gibt es dabei nur bestimmte Ausrichtungen der Stoffbestandteile, die aber durchaus feste Eigenschaften besitzen. Man denke an die Härte eines Wasserstrahls, der sich aber doch jeder Zeit teilen läßt. Die Flüssigkeit des Wassers kommt durch ähnliche Ordnungsstrukturen zustande. Gerade diese wenig statischen Verbindungen bestimmen bei natürlichen, biochemischen Strukturen wichtige Unterschiede. Sie sind z.B. maßgeblich für die Struktur des Haares, für den Zusammenhalt der DNA-Doppelhelix oder auch dafür verantwortlich, daß man ein gekochtes Ei von einem rohen unterscheiden kann.

Der Vorteil: Diese Bindungen lassen sich im Unterschied zu den festen kovalenten Bindungen zwischen Atomen auftrennen und bis zu 12 Stunden danach wieder verknüpfen, und das angeblich völlig problemlos:

Einmal zerschnitten, müssen die Enden nur etwa eine Minute aneinander gehalten werden. Wie von Geisterhand verbinden sich die Stücke über neue Wasserstoffbrückenbindungen miteinander und zeigen das gleiche Dehnungsverhalten wie zuvor. Für diesen Prozess muss das Material nicht einmal aufgeheizt werden, es funktioniert zuverlässig bei Raumtemperatur. (Welt der Physik 21. Februar 2008)

Wenn man ein Gummiband aus Material B durchschneidet oder zerreißt, lassen sich die beiden Teile bei Raumtemperatur einfach wieder miteinander verbinden - man muss sie nur mit den Enden einige Minuten aneinanderpressen. Der Bruch verheilt, ohne eine Schwachstelle zu hinterlassen, und das Material kann an derselben Stelle beliebig oft zertrennt und wieder zusammengefügt werden, ohne dass diese Behandlung bleibende Spuren hinterlässt.
(Spektrum der Wissenschaft, Juni 2008)

Die Selbstheilung verlaufe narbenfrei und könne die Zugfestigkeit des Materials vollständig wiederherstellen, schrieben die Forscher auch im Magazin "Nature". Doch das ist maßlos übertrieben. Schon über die Dauer der Rekonvaleszenz herrschen sehr unterschiedliche Meinungen. Spricht "Welt der Physik" von einer Minute, so hieß es im Scienceticker.info - Wissenschaftsnachrichten, je nachdem, wieviel Zeit man dem "Heilprozeß" lasse, könnte die alte Reißfestigkeit wieder vollständig hergestellt werden und die Narbe verschwinden, doch schon nach einigen Minuten wäre es wieder mechanisch belastbar.

Am genauesten wurden die Eigenschaften des neuen Werkstoffs auf der Webseite von TechPortal - Zukunft im Blickpunkt - News beschrieben:

Die elastischen Eigenschaften und die selbstheilenden Fähigkeiten ihres Materials haben die Forscher intensiv untersucht und auch mit Videos dokumentiert. Wurde das supramolekulare Gummi um 300% in die Länge gezogen, so behielt es seine Elastizität und blieb nach Entlastung um weniger als 5% gedehnt. Wurde das Gummi um mehr als 500% in die Länge gezogen, so zerriss es an einer Stelle. Wenn die Forscher ihr Gummi zerrissen oder zerschnitten und die Trennflächen bei Zimmertemperatur und ohne Druck für 15 Minuten aneinander hielten, so verbanden sich die Enden miteinander. Das Gummi konnte dann wieder um bis zu 200% [aber nicht wieder 500%, Anm. d. SB- Red.] gedehnt werden, bevor es an der Schwachstelle erneut brach.
(TechPortal, 21. Februar 2008,Quelle: Rainer Scharf/Pro-Physik News)

Diese Prozedur könne man beliebig oft wiederholen, hieß es weiter: Die Selbstheilungskräfte ermüdeten nicht. Allerdings nur dann, wenn die Trennflächen für einige Stunden aneinander gehalten wurden. Dann soll das Gummi sogar wieder um 500% gedehnt werden können, ehe es reißt. Bei einem Heilprozeß von 15 Minuten oder nur einer Minute komme es dann aber doch zu einer Materialermüdung.

Darüber hinaus entstehen weitere Probleme bei der erneuten Verschmelzung der Trennflächen, doch anders als vielleicht erwartet. Wartet man beispielsweise zu lange, bis man die getrennten Teile in Kontakt bringt, dann haben sich die getrennten Flächen möglicherweise schon an der Oberfläche selbst ausgeheilt. D.h. die freien Wasserstoffenden haben sich mit Molekülen der eigenen Seite verbunden und stehen für den Heilvorgang nicht mehr zur Verfügung:

Je höher die Temperatur war, umso agiler waren die gebrochenen Wasserstoffbrücken und umso schneller mussten die Trennflächen in Kontakt gebracht werden, damit eine belastbare Verbindung zustande kommen konnte. Bei 20 °C konnte man noch bis zu 48 Stunden damit warten, bei 120 °C waren es nur noch 5 Minuten. Anders als herkömmlicher Gummi, der durch robuste kovalenten Bindungen vernetzt ist, kann der supramolekulare Gummi die Zugbeanspruchung nicht beliebig lange aushalten, ohne zu fließen. Die Forscher betonen allerdings, dass ihr Gummi immerhin 10 Stunden lang einer kontinuierlichen Belastung standhielt.
(TechPortal, 21. Februar 2008,Quelle: Rainer Scharf/Pro-Physik News)

Daß die hier immer noch erstaunlichen, wenn auch wesentlich realistischeren Erkenntnisse zum neuen Werkstoff, die letztlich doch eine gewisse Abnutzung an der Bruchstelle dokumentieren und einen zwangsläufigen Verlust der ursprünglichen Eigenschaften, bisher noch keine Umsetzung in die Alltagschemie gefunden haben, geht hieraus auch hervor: Denn was nützt ein Fahrradschlauch, der sich unendlich bis um 500% dehnen läßt, andere Quellen sprechen vom Fünf- bis Sechsfachen seiner ursprünglichen Länge, ehe er reißt. Fahrradschläuche aus gewöhnlichem Gummi setzen dem Aufblasen normalerweise einen leichten Widerstand entgegen, der sich aus ihrer Struktur ergibt. Entsprechend leichter dehnbares Material wird daher schon durch die normale Handhabung (wie bei der Nutzung herkömmlicher Materialien) schneller an seine Belastungsgrenzen gebracht, einfach deshalb, weil es möglich ist. Der neue selbstheilende Fahrradschlauch läßt sich bei einer Punktur demnach einfach durch Entfernen des spitzen Objekts und quasi durch Handauflegen wieder heilen, doch schon beim versehentlich übermäßigen Aufblasen, z.B. bei der Belastbarkeitsprobe im Wasserbassin, um die Dichte der Punktur zu überprüfen, könnte die Stelle wieder platzen. Außerdem hat ein punktierter Reifen, der erst einmal eine Weile in der Sonnenhitze parkt, überhaupt keine Chance mehr, sein Loch wieder zu schließen. Und wer hat wohl im Notfall dafür Zeit, das zu schließende Loch eine Stunde lang zusammenzudrücken...

Abgesehen von der witzigen Idee als Theorie und einem exklusiven Partygag unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen bleibt von der "tollen Sensation" nur noch die Hoffnung der Forscher, man könne durch Zugabe weiterer Substanzen die magische Mischung bzw. "die ungewöhnlichen Materialeigenschaften vielleicht noch in weiten Grenzen modifizieren" (TechPortal, 21. Februar 2008), so daß schließlich noch etwas Nutzbares dabei herauskomme.

Immerhin arbeitet Ludwik Leibler mit dem Chemieunternehmen Arkema zusammen, das nun die Kommerzialisierung des neuen Werkstoffs in Angriff nehmen will, koste es was es wolle...


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 6/2008,
Selbstheilendes Gummi (Michael Groß)

Welt der Physik - Welt der Stoffe 21.02.2008
Flexibles Gummi heilt sich selbst

scienceticker.info,
Wissenschaftsnachrichten 20.02.2008
Selbstheilender Gummi

TechPortal, Zukunft im Blickpunkt, News 21.02.2008
Rainer Schar, Pro-Physik, Selbstheilender Gummi

Originalveröffentlichung:
Philippe Cordier et al.: Self-healing and thermoreversible rubber from supramolecular assembly. Nature 451, 977 (2008).

20. Juni 2008