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RATGEBER/343: Brot - Mangelentlarvung ... (SB)



Kaum ein Thema der Medienwelt scheint mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen als das über mehr oder weniger gesunde Lebensmittel. Von YouTube-Videos, Zeitungsartikeln, Radio und Podcast bis zu Diät- und Heilung-durch-die-richtige-Ernährung-Büchern überflügeln die Informationsbeiträge über Essen, Trinken bzw. Kochen alle weiteren Lektüre- oder Unterhaltungsangebote. Dennoch hat sich der Bundeszentrale für politische Bildung zufolge das Ernährungsverhalten der Deutschen in den letzten zehn Jahren kaum verändert. Auch wenn die Nährstoffzufuhr hierzulande überwiegend im wünschenswerten Bereich läge, dürfe dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Lebensmittelauswahl noch weit von den Empfehlungen für eine gesunde Ernährung entfernt sei, heißt es in der Zusammenfassung einer Veröffentlichung von 2018 zu diesem Thema. [1] Zu den grundlegenden zehn Regeln, die hiernach zu wenig befolgt werden, gehört z.B. Vollkornprodukten den konsequenten Vorzug gegenüber Weißmehlerzeugnissen zu geben. Denn erstere machten lange satt und seien "gesünder", sagt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), die mindestens vier Scheiben Vollkornbrot täglich sowie Vollkornnudeln oder Reis zum Mittagessen für unentbehrlich hält.

Da selbst schlanke DGE-Konformisten nicht davor gefeit sind, an Diabetes zu erkranken, Rheuma zu bekommen und vor Abschluß des 90sten Lebensjahrs zu sterben, scheinen Zweifel am Sinn der gemeinhin als "gesund" geltenden Richtwerte, Schätzwerte und Empfehlungen durchaus angebracht, zumal es keinen wissenschaftlichen Nachweis für die gesundsfördernde Wirkung von Getreide gibt.

Allerdings erweisen sich gerade die Kritiker der DGE Empfehlungen zumeist als orthodoxe Vertreter des Glaubens an eine "richtige", bessere bzw. gesunde Ernährung. Und weil die geheime Formel hierfür bislang noch nicht gefunden wurde, wird das Süppchen aus Konzepten und Theorien solange neu angereichert und umgerührt, bis wieder einmal etwas Überraschendes und scheinbar neues hochkocht:

Neben Ernährungsreformern, die für eine noch strengere Befolgung althergebrachter Diätvorschriften plädieren, d.h. noch mehr oder noch frischere Vollkornprodukte, noch weniger Fleisch und Fett, und die den Totalverzicht auf Zucker fordern, mehren sich zunehmend die widerständigen "Nö"-Sager, die alles, was bisher als "gesund" galt, ablehnen. In Büchern wie "Die Vollkornlüge und andere Ernährungsmärchen" von Kathrin Burger [2] oder "Prost Mahlzeit! Krank durch gesunde Ernährung" von Udo Pollmer, Andrea Fock, Ulrike Gonder und Karin Haug, [3] zwei unterschiedliche populärwissenschaftliche Ansätze zum Thema, wird deutlich, daß es durchaus zahlreiche plausible Anhaltspunkte gibt, einfach nur das zu essen, was einem schmeckt und anderen Rat in den Wind zu schlagen ...

Ein für 2019 noch neues Werk aus diesem "Alles-was-Sie-bisher-geglaubt-haben-ist-falsch"-Genre macht unlängst von sich reden. Es erweist sich bei genauerer Betrachtung als der zweite Aufguß des bereits 2015 erschienenen Ernährungsratgebers: "Prophylaxe und Therapie durch Artgerechte Ernährung: ... oder wollen Sie lieber mit voller Stärke ins Gras beißen?" des Heilpraktikers, Physiotherapeuten und Osteopathen Klaus Wührer. Dieser hat das eigene Ernährungskonzept noch einmal auf die vollmundige und leicht verdauliche Formel heruntergebrochen: "Zucker macht krank - Vollkorn macht kränker ... und keiner merkt's!" Danach sind Müsli-Esser ebenso vom krankmachenden Zucker bedroht wie Milchbrötchen und andere Süßzähne.

Wührer macht eine einfache und durchaus nachvollziehbare Kinderrechnung auf: Stärke ist ein Polysaccharid mit der Summenformel (C6H10O5)n. Das heißt, sie besteht aus einem Vielfachen einer Grundeinheit, die einzeln betrachtet reiner Traubenzucker (D-Glucose oder C6H10O5 * H2) ist, in den die Stärke während der Stoffwechselprozesse letztlich auch zerlegt wird. Die Behauptung der Ernährungswissenschaft, daß Glucose aus Stärke durch den zeitaufwendigen Zerlegungsprozeß nicht so schnell im Blut ankommt, hält Wührer für falsch. Seiner Erfahrung nach sind Stärke wie Zucker gleich schnell verfügbar, was sich auch nach dem Genuß von stärkehaltigen Produkten bei Blutzuckerkontrollen nachweisen ließe. Daher rechnet Wührer die von Vollkornbrot und Brotmehl bzw. Stärke ausgehende Blutzuckerbelastung eins zu eins in Zuckereinheiten um. Seine wesentliche Kritik an der von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlenen Diätvorschriften sieht er darin begründet, daß man auf diese Weise "Zuckermengen" zu sich nimmt, die allen Vertretern "gesunder Ernährung" die Haare zu Berge stehen lassen würden.

So hätten hiernach zwei handelsübliche Scheiben Vollkornbrot (ca. 50 Gramm) den gleichen Zuckergehalt wie 22 Stück Würfelzucker oder wie 1½ Tafeln Schokolade. Der Heilpraktiker empört sich darüber, daß alle Gesundheitsbewußten durch die offiziellen DGE Empfehlungen an der Nase herumgeführt werden und sich mit vermeintlich "gesunden Kohlenhydraten" aus Vollkornprodukten zum Frühstück, Mittag- und Abendessen insgesamt die Zuckermenge von 5 Tafeln Schokolade einverleiben. Entsprechend erwartet Wührer von Vollkornprodukten die gleichen Probleme, die gemeinhin dem Konsum von "blankem Zucker" zur Last gelegt werden: Schädigung von Zahnfleisch und Gebiß, Übergewicht, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Insulinresistenz und Diabetes, d.h. die gefürchteten Eckpfeiler des Metabolischem Syndroms mit all ihren Folgeerkrankungen (Nervenerkrankungen, Augenerkrankungen, arteriellen Verschlußerkrankungen usw.). Auf allein 30 Seiten seines Buches zählt er auf, was ein Zuviel an Stärke und damit Zucker im Verdauungssystem, im Blut (Hyperglykämie) und Körpergewebe, sowie durch die dadurch ausgelöste hohe Ausschüttung an Insulin im menschlichen Organismus anrichten kann. Allein die Lektüre eines Teils des Inhaltsverzeichnisses sollte bei interessierten Lesern bereits massive Vollkorn bzw. Zucker/Stärke-Phobien auslösen:

4.1.1 Zu viel Stärke und Zucker im Magen-Darm-Trakt
4.1.1.1 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Zahn- und Zahnfleischerkrankungen
4.1.1.2 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Sodbrennen und Gastritis
4.1.1.3 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Blähungen
4.1.1.4 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Entzündungen der Darmschleimhaut
4.1.1.5 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Resorptionsstörungen
4.1.1.6 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Krämpfen im Magen-Darm-Trakt
4.1.1.7 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Durchblutungsstörungen
4.1.1.8 Zu viel Stärke und Zucker führen zu Beschwerden im Nackenbereich
4.1.2 Zu viel Stärke und Zucker im Blut - Hyperglykämie
4.1.2.1 Zu viel Zucker im Blut führt zu Zuckerüberschuss in den Zellen
4.1.2.2 Zu viel Zucker hemmt die Mitochondrienfunktion
4.1.2.3 Zu viel Zucker führt zur Übersäuerung des Gewebes
4.1.2.4 Zu viel Zucker in den Zellen fördert das Tumorwachstum
4.1.2.5 Zu viel Zucker führt zu Entzündungen
4.1.2.6 Zu viel Zucker löst Immunkilling aus
4.1.2.7 Zu viel Zucker fördert die Bildung von freien Radikalen
4.1.2.8 Zu viel Zucker hemmt die Produktion und Freisetzung von Noradrenalin
4.1.2.9 Zu viel Zucker wird in Fettsäuren und Fett umgewandelt
4.1.2.10 Zu viel Zucker verhindert den Fettabbau
4.1.2.11 Zu viel Zucker führt zur Fettleber
4.1.3 Zu viel Stärke und Zucker führt zur Freisetzung von Insulin
4.1.3.1 Zu viel Insulin führt zu Zuckerüberschuss in den Zellen
4.1.3.2 Zu viel Insulin verhindert die Freisetzung der Glucose aus der Zelle
4.1.3.3 Zu viel Insulin fördert die Fettsäuresynthese in den Zellen
4.1.3.4 Zu viel Insulin verhindert den Fettabbau
4.1.3.5 Zu viel Insulin erhöht Cholesterin im Blut
4.1.3.6 Zu viel Insulin hemmt die Mitochondrienfunktion
4.1.3.7 Zu viel Insulin fördert das Tumorwachstum
4.1.3.8 Zu viel Insulin hemmt die Apoptose der Zellen
4.1.3.9 Zu viel Insulin führt zu Entzündungen
4.1.3.10 Zu viel Insulin hemmt die Cortisolwirkung
4.1.3.11 Zu viel Insulin führt zur Freisetzung von Adrenalin
4.1.4 Zu viel Stärke und Zucker bilden AGEs
4.1.4.1 AGEs führen zu Entzündungen
4.1.4.2 AGEs fördern die Bildung freier Radikale
4.1.4.3 AGEs lösen Rheuma und Autoimmunprozesse aus
4.1.4.4 AGEs lösen Zelltod aus
4.1.4.5 AGEs fördern Tumorwachstum
4.1.4.6 AGEs führen zu Arteriosklerose und Thrombosen
4.1.4.7 AGEs führen zu Degeneration und Arthrose
4.1.5 Zusammenfassung: Schäden durch Stärke und Zucker [5]

Zur Erklärung: AGE steht hier für den wenig bekannten Begriff "Advanced Glycation Endproducts" (Endprodukte der Glykierung). Diese bilden das Fundament einer Theorie, nach der jede normale, empfohlene Mahlzeit zu einem dauerhaft hohen Blutzuckerspiegel über mehrere Stunden am Tag führt, dem "Zucker-Tsunami". Dabei könnten zahlreiche Körperzellen mit dem Zucker dauerhafte Verbindungen eingehen ("glykieren"). Außer Hämoglobin, dessen verzuckerte Variante (HbA1c) in der Diabetologie eine Rolle für die Diagnostik spielt, würden auch Sehnen-, Bänder-, Knorpel- und Knochengewebe mit Glucose reagieren und ebenfalls das Myelin, die Hüllschicht der Nervenzellen, dessen Glykierung mit merklichen Funktionseinschränkungen einhergeht.

Doch trotz dieses massiven Aufrisses an gesundheitlichen Bedrohungen, sollte auch der Nachsatz des Titels, "... doch keiner merkt's", nicht unkommentiert bleiben. Die vom Autor aufgeführten Schädigungen tangieren nämlich nur den Bereich des Möglichen und bewegen sich in einer Größenordnung, in der sie lange Zeit keine Symptome zeigen und eventuell unterschwellig zu Problemen akkumulieren, oder auch nicht.

Daß Wührer damit im Grunde in das gleiche Horn von WHO, DGE, DAG (Deutsche Adipositas Gesellschaft) und DDG (Deutsche Diabetes Gesellschaft) und der Medizin schlechthin stößt, die er gleichzeitig der Konsumenten-Täuschung bezichtigt, wird im weiteren Kontext nicht mehr hinterfragt. Doch wie die erwähnten Instanzen, d.h. DGE, DAG und DDG in einem gemeinsam veröffentlichten Konsensuspapier, in dem die empfohlene maximale Zufuhr von freiem Zucker auf 50 Gramm pro Tag (d.h. 10 Prozent der Gesamtenergiezufuhr von hier: 2000 kcal) festgelegt wird, geht auch Wührer davon aus, daß etwa 60 Gramm Glucose pro Tag für den Energiehaushalt lebensnotwendig sind, nur daß sie seiner Ansicht nach komplett aus Obst und Gemüse bezogen werden sollten. Ansonsten rät er nach Vorbild von Jägern und Sammlern zu Fleisch und Milchprodukten. Korn und Brot, wie auch Reis und Kartoffeln seien nämlich in der ursprünglichen Ernährung unserer Urahnen nicht vorgesehen, die ihre Evolutionsstufe gerade durch die Umstellung auf besonders eiweißreiche Kost erreicht hätten. Demzufolge verträgt der Mensch diese Lebensmittel nicht.

Daß sein Konzept gerade in dieser Hinsicht einige Widersprüche aufweist, etwa die besonders zuckerhaltige Rübe zu den empfehlenswerten Lebensmitteln der "Sammler"-Seite zu zählen oder zu vergessen, daß viele zuckerreiche Obstsorten, Gemüse-, und Milchprodukte ebensowenig zum Speiseplan unserer Urahnen gehörten wie Getreide, sei dahingestellt. Selbst der reine Rübenzucker, als Extrakt der Zuckerrübe und raffiniert mit chemischen Mitteln, gilt in seiner Einteilung in gute und schlechte Lebensmittel als die bessere Wahl vor Stärke, Brotmehl und Getreide.

Daß sich bei vielen seiner Patienten bereits nach acht Wochen ohne Vollkorn eine deutliche gesundheitliche Verbesserung einstelle, wie der Heilpraktiker in einem Fernsehbeitrag des Bayerischen Rundfunks erklärte [5], ist sicher ein schwerwiegendes Argument, denn wer heilt, hat recht!

Es gibt aber auch einige andere, weniger beachtete Hypothesen, die zu dem gleichen Schluß gelangen, Vollkorn sei nicht so gesund wie gedacht. Zum einen ist Vollkornbrot, vor allem wenn es zusätzliche, ölhaltige Körner enthält (Leinsamen, Sonnenblumenkerne etc.) wesentlich kalorienreicher und trägt ggf. zum Übergewicht bei. Zum anderen vertragen viele Menschen Vollkornbrot nicht. Sie bekommen Blähungen, Völlegefühl und Leibschmerzen, fühlen sich somit nach dem Verzehr krank! Dies wird jedoch nicht auf den Zuckergehalt des Korns zurückgeführt, sondern auf die in seiner Hülle enthaltenen sekundären und vor allem toxischen Inhaltsstoffen, die sogenannten Antinutriva (Lektine, Phytinsäure und Enzyminhibitoren).

Lektine sind Eiweißstoffe, die in hohen Konzentrationen bei Tierversuchen nachweislich Darmschädigungen nach sich gezogen haben. Das hieraus zunächst abgeleitete Risiko für den Menschen konnte bislang aber nicht bestätigt werden. Man geht davon aus, daß der menschliche Darm mit einer Schutzschicht ausgestattet ist, welche auch für die Lektine unüberwindlich ist. Die gleichen Erkenntnisse wurden von Privatunternehmen, die mit darmschützenden Gegenmitteln Geschäfte machen wollen, dahingehend interpretiert, daß auch diese Schutzschicht von Lektinen angegriffen werden kann, so daß ein "undichter Darm" entsteht, durch den dann vor allem "Endotoxine" ins Körperinnere eindringen könnten, die in Folge für Übergewicht und Diabetes verantwortlich seien.

All das ist ebensowenig bewiesen wie die scheinbar gesundheitsfördernde Wirkung von Lektinen zum Beispiel bei der Darmkrebsprävention, die ebenso diskutiert wurde.

Phytinsäure kann sich im Darm mit Mineralstoffen und Spurenelementen verbinden, welche dann für die Verwertung nicht mehr voll zur Verfügung stehen. In Entwicklungsländern, in denen die Kost sehr einseitig ist, führt die Phytinsäure besonders zu einem Mangel an Zink und Eisen. Und tatsächlich wurde auch bei Menschen in Deutschland, die sich vorwiegend vollwertig ernähren, häufig ein Eisen- oder Zinkmangel festgestellt. Dieser kann allerdings auch auf den bei der Ernährungsumstellung gleichzeitig reduzierten Konsum von tierischen Lebensmitteln wie Fleisch, Eier und Milch zurückzuführen sein.

Enzyminhibitoren sind Stoffe, die durch Eindämmung der Enzymaktivität die Verdauung im menschlichen Körper hemmen. Dadurch können manche Nährstoffe nicht verwertet werden und erzeugen Beschwerden im Magen-Darm-Trakt. Abgesehen davon, daß auch hier einige Physiologen gerade von der enzymhemmenden Aktivität des rohen Getreides einen günstigen Einfluß auf den Blutzuckerspiegel erwarten, wird jede Enzymwirkung durch die Hitzeeinwirkung beim Kochen und Backen bereits weitgehend ausgeschaltet.

Und schließlich spricht vieles dafür, daß selbst die gesundheitsfördernde Wirkung von B-Vitaminen oder anderen sekundären Inhaltsstoffen, die in der Getreidehülle enthalten sein sollen, stark überschätzt worden ist. [3]

Laut Kathrin Burger gehören die Anti-Vollkorn-Theorien ebenso den in ihrem Buch verpönten "anderen Ernährungsmärchen" an wie alles andere. Denn wie sie bereits in der Einleitung ihres Buches schreibt, gibt es auch für die Obst- und Gemüsediät keine signifikanten Hinweise, daß sich chronische Krankheiten damit verhindern lassen. Dies habe 2004 der Harvard-Wissenschaftler Hsin-Chia Hung anhand einer Kohortenstudie mit 109.000 gesunden Krankenschwestern gezeigt. [2]

Und was ist mit all jenen, die behaupten, daß sie sich ohne ein "gesundes" Haferflockenmüsli am Morgen nur wie ein halber Mensch fühlen, daß ihnen nur Brot mit ganzen Körnern, Vollkornnudeln und Gemüse ein zufriedenes, sattes Bauchgefühl geben kann? Sollte nicht für jeden der gleiche Maßstab angelegt werden: Wer heilt und wer sich in seiner Haut wohl fühlt, hat recht?

Der Ernährungswissenschaftler Tal Korem und einige andere Forscher vom Weizmann-Institut in Tel Aviv wollten dies genauer wissen und lancierten eine Untersuchung mit zwei repräsentativen Propandengruppen, die wechselseitig 14 Tage lang ein Viertel ihres Tagesbedarfs an Kalorien entweder mit abgepacktem Toastbrot aus dem Supermarkt-Regal oder mit frisch gebackenem Vollkorn-Sauerteigbrot aus der Bäckerei deckten. Nach einer Woche und einer zweiwöchigen "Brot-Pause" tauschten die Versuchsteilnehmer die Brotsorten. Weitere Weizenprodukte, etwa Nudeln, waren in er gesamten Testphase tabu. [6]

In dieser Zeit wurden bei jedem Versuchsteilnehmer täglich die meßbaren, gesundheitsrelevanten Blutparameter wie Glukose, Cholesterin- und Nierenfunktionswerte, Mineralstoffe und Vitamine u.a. aufgezeichnet. Nichts davon konnte mit der jeweiligen Ernährung zusammengebracht werden. Allerdings stieg bei einigen Probanden der Blutzuckerspiegel nach dem Weißbrotkonsum überdurchschnittlich schnell an, bei anderen nicht. Ähnliche Beobachtungen ergaben sich auch bei den Vollkorn-Konsumenten. Diese individuellen Unterschiede werden von den Ernährungswissenschaftlern anderen Vorbedingungen zugeschrieben, etwa der unterschiedlichen Darmflora oder einer genetischen Disposition und gelten vermutlich nicht nur für Brot, sondern für alle Nahrungsmittel.

Es scheint somit weitgehend egal zu sein, ob man Graubrot, Vollkornbrot oder süßes Weißbrot ißt, oder ob man Getreide ganz meidet, wie es Herr Wührer empfiehlt. Man kann sich aber auch von der Entscheidung entlasten, Butter oder Margarine aufs Brot zu schmieren, schwarzen oder grünen Tee zu trinken, Rindfleisch oder Hühnerbrust zu favorisieren, Sojamilch- oder probiotischen Joghurt zu löffeln. Ob man Nudel-Fan oder Kartoffelfreund ist, spielt für die Gesundheit ebenso wenig eine Rolle wie die Vorliebe für Vollmilch oder Bitterschokolade. Selbst die häufig beschworene, abwechslungsreiche Ernährung ließe sich in Frage stellen. So hatte etwa die 30.000köpfige Einwohnerschaft des pakistanischen Hunzatals trotz einer eintönigen Ernährung aus trockenem Obst, Ziegenmilch und Getreide viele Jahre eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung. Seit der Einführung neuer und abwechslungsreicherer Kost scheint diese zu sinken.

Ein Blick über den Tellerrand der Ernährungswissenschaft hinaus könnte dem derzeitigen Anti-Vollkorn-Trend allerdings noch einen weiteren Sinn abgewinnen. Zeitgleich mit der Verteufelung der Vollkornernährung hat 2018 zum zweiten Mal in diesem Jahrzehnt die weltweit produzierte Getreidemenge nicht ausgereicht, um den Bedarf zu decken, und diese Entwicklung scheint sich im Zuge des Klimawandels fortzusetzen. [7] Nur reicht mit Sicherheit die vermeintlich artgerechte Alternative landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Obst, Gemüse, Fleisch und Milch bereits heute nicht aus, um alle Menschen gleichermaßen satt zu machen.


Anmerkungen:

[1] https://www.bpb.de/apuz/262256/ernaehrungsverhalten-in-deutschland?p=all

[2] https://www.wissenschaft.de/rezensionen/buecher/die-vollkornluege-und-andere-ernaehrungsmaerchen/

[3] https://kupdf.net/download/prost-mahlzeit-krank-durch-gesunde-ern-auml-hrung_5af9597be2b6f5900fe12470_pdf

[4] https://www.dge.de/presse/pm/empfehlung-zur-maximalen-zuckerzufuhr-in-deutschland/

[5] https://www.br.de/mediathek/video/ernaehrung-zucker-macht-krank-vollkorn-macht-kraenker-av:5cab72dcc3b166001a0db9bd

[6] https://www.focus.de/gesundheit/videos/vollkorn-oder-weizen-zu-unrecht-verteufelt-weissbrot-ist-gar-nicht-so-schlecht-wie-es-immer-heisst_id_7230614.html

[7] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umme-293.html

2. Mai 2019


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