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RATGEBER/305: Schluß mit dem Gerücht - Ballast sei gut für den Darm (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT

Ballast sei gut für den Darm


Darmkrebs ist bis heute eine garantiert tödlich endende Erkrankung, deren Entstehungsmechanismus immer noch nicht geklärt werden konnte. Allerdings wird von manchen Medizinern und Experten vermutet, daß er sich teilweise aus entarteten Polypen entwickeln könnte. Ein Polyp ist ein kleiner Tumor auf der Darmschleimhaut, der gutartig, also harmlos, ist. Da er sich aber zum Bösartigen wandeln kann, raten die Mediziner dazu, solche kleinen Auswüchse auf jeden Fall zu entfernen und pathologisch untersuchen zu lassen.

Noch sei nicht geklärt, wodurch ein Polyp in Darmkrebs übergeht, erläutert der Facharzt. Als ungünstig gelten jedoch bestimmte Ernährungsfaktoren. Der Rat von Experten lautet daher derzeit: fettarm und ballaststoffreich essen, wenig dunkles Fleisch, kaum Alkohol.
(Pressemitteilung, Deutsche Krebshilfe e.V., Dr. med. Eva M. Kalbheim, 02. März 2006)

Daß eine fettarme und ballaststoffreiche Ernährung die einzige Möglichkeit ist, Darmkrebs vorzubeugen, davon sind ziemlich alle Mediziner landläufig überzeugt. Fettreduzierte, ballaststoffangereicherte Produkte bis hin zu nährstoffarmer Surrogatnahrung sind vor allem als Diätprodukte zum Abnehmen in Mode. Sie geben allerdings auch einen Trend vor, der vor dem Hintergrund einer zunehmend brisanter werdenden Welternährungslage die Frage aufwirft, ob nicht durch solche Ernährungsempfehlungen Ressourcen und Vorräte gespart werden sollen. Die Wissenschaft liefert hier somit Argumente für eine Gesundheitspolitik, die gleichzeitig Versorgungslücken unter den Teppich kehren soll.

Überhaupt nicht in diesen Trend paßte daher eine Studie, die diese Auffassung wieder in Frage stellte. Laut einer Recherche der BBC, waren Wissenschaftler der Havard Medical School Boston in einer Analyse überraschend zu dem Ergebnis gekommen, daß der Verzehr von Ballaststoffen hinsichtlich einer Schutzwirkung vor Darmkrebs möglicherweise gar keine Rolle spielt. Diese berücksichtigte die Ergebnisse von insgesamt 13 Untersuchungen und bezog dabei über 700.000 Personen ein, die über Zeiträume zwischen sechs und 20 Jahren beobachtet wurden.

Eine Abnahme des Krebsrisikos durch eine ballaststoffreiche Ernährung stellten die Wissenschaftler nur dann fest, wenn die Menge der aufgenommenen Ballaststoffe allein im Zusammenhang mit der Darmkrebshäufigkeit betrachtet wurde. Wurden andere Faktoren wie Vitaminzufuhr und Gesamtenergieaufnahme sowie die Zufuhr von Folsäure, rotem Fleisch, Milch oder Alkohol berücksichtigt, relativierte sich die Bedeutung der Ballaststoffzufuhr. Das heißt, es konnten dann hinsichtlich der Darmkrebsrate keine Unterschiede mehr zwischen Studienteilnehmern mit ballaststoffreicher und solchen mit ballaststoffarmer Ernährung nachgewiesen werden.

Mit diesen Ergebnissen standen die Wissenschaftler aus Boston im Widerspruch zu den Kollegen des EPIC-Konsortiums, einer europäischen Wissenschaftlervereinigung, die sich laut BBC-News mit Darmkrebs und Ernährung beschäftigte. In einer Studie mit über 500.000 Teilnehmern kam man dort zu dem Ergebnis, daß der Verzehr von 35 Gramm Ballaststoffen täglich das Darmkrebsrisiko um bis zu 40% senke.

Dem Sender gegenüber erklärte Professor Sheila Bingham vom EPIC-Konsortium, dass die Menschen, bei denen die größte Verringerung der Krebsrate zu beobachten war, sieben Portionen Obst und Gemüse täglich gegessen hatten. Dies entspräche der Menge, die der durchschnittliche Bewohner der Mittelmeerländer täglich zu sich nimmt und sei das Äquivalent zu fünf Scheiben Vollkornbrot.
(BSMO, 24. Februar 2006, nach Informationen der BBC)

Daß die Ergebnisse so unterschiedlich ausfallen, liege - so wird vermutet - an den unterschiedlichen Untersuchungs- und Auswertungsverfahren. Bei genauerer Betrachtung können aber auch die Bostoner Wissenschaftler bei ihren statistischen Erhebungen die Bedeutung der Ballaststoffe nicht völlig negieren bzw. den vorbeugenden Effekt komplett ausschließen. So werden Gelder gesichert, um weitere "Menschenversuche" durchführen zu können, denn nur gezielte Versuche mit einer reinen Ballaststoffernährung, die keine Vitamine, Mineralstoffe u.ä. als Begleitstoff in sich tragen, könnten die eine oder andere Hypothese stärken.

Die Schwierigkeit, eine genaue Aussage zu treffen, liegt - wie man daran sehen kann - u.a. darin begründet, daß der Begriff Ballaststoff weit gedehnt werden kann und wird.

Wenn Ballaststoffe als wertvoller Inhaltsstoff oder Nahrungsergänzung in der Liste der Zutaten aufgeführt wird, versteht man darunter gewöhnlich nur die Abfälle aus den Getreidemühlen, also nährwertlose Cellulose in Form von Kleie.

Zu den Ballaststoffen gehört auch Dörrobst, das außer dem eingetrockneten Celluloseanteil auch noch verschiedene Zucker, Vitamine und Mineralstoffe, also wertvolle Nährstoffe enthält. Zwar gehen durch den Trockenvorgang empfindliche Vitamine wie das Vitamin C zum Teil verloren. Aber Trockenfrüchte weisen einen hohen Gehalt an Mineralstoffen und zum Beispiel B Vitamine auf und gelten sogar als gute Alternative zu frischem Obst, insbesondere in der Winterzeit. Auch der Zuckergehalt steigt beim Trocknen an. Dörrobst ist also viel kalorienreicher als frisches.

Schließlich gelten auch einige Stärkearten aus den äußeren Schichten des Reis, aber auch aus der Kartoffel (und vielen anderen stärkehaltigen Pflanzenprodukten) als Ballaststoffe, die mit den oben genannten nur eines gemein haben: sie quellen im Darm auf und fördern so die Verdauung:

Inulin ist ein Zucker aus der Klasse der Fruktane, also Polysacchariden, die aus Fruktose (Fruchtzucker) zusammengesetzt sind. Die normale Stärke ist dagegen aus Glucose (Traubenzucker) aufgebaut. Die Fruktane werden im Lebensmittel zu den Ballaststoffen gerechnet und wirken sich günstig auf die menschliche Darmflora aus.
(Pressemitteilung, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Dr. Andreas Trepte, 26. September 2005)

Kurz gesagt sind sich die Wissenschaftler, was Ballaststoffe angeht, aus unterschiedlichen Beweggründen dahingehend einig, daß diese zu einer "ausgewogenen" Ernährung gehören und in jedem Fall verdauungsfördernd wirken.

Doch auch diese Ansicht könnte nun zumindest der eine oder andere wieder relativieren, wenn man die jüngsten Forschungsergebnisse zur Wirkweise von Ballaststoffen betrachtet.

Danach wirken sie wie feine Darmhobel, die dem Darm kleine Mikroverletzungen zufügen. Dadurch aktiviert der Darm seine Reparaturmechanismen, die von einer verstärkten Schleimabsonderung begleitet sind und auf diese Weise erst für die nun fraglich gewordene "gesunde" Verdauung sorgen.

Das wissenschaftliche Internetmagazin LiveScience vom 22. August 2006 sprach dies auch deutlich aus:

"Why Fiber is Healthy: Because It Damages Our Insides"
["Warum Ballaststoffe gesund sind: Weil sie unsere Eingeweide ankratzen"]

Fiber helps keep us "regular" by banging up against the gastrointestinal tract and tearing cells, which release mucus that helps us, well, go, scientists reported today. The frequent injury of cells and their subsequent repair cause more mucus production, which eases food through the pipes and provides protection for the cells themselves.

[Ballaststoffe verhelfen uns zu einer "geordneten" Verdauung, indem sie den Gastrointestinaltrakt angreifen und Zellen aufreißen, die einen Schleim absondern, der uns - sagen wir mal - funktionieren läßt, berichteten Wissenschaftler heute. Die regelmäßige Verletzung von Zellen und ihre zwangsläufige Reparatur führt zu weiterer Produktion von Schleim, der die Nahrung durch den Darm gleiten läßt und außerdem eine Schutzfunktion für die Zellen selbst besitzt. Übersetzung Schattenblick-Red.]
(LiveScience, 22. August 2006)

Danach wären die häufige Verletzung der Darmwandepithelzellen der Grund dafür, daß es zur gewünschten verdauungsfördernden Schleimabsonderung komme, der die Zellen wiederum vor weiteren Verletzungen schützen soll.

Das klingt zwar irgendwie paradox, wird von den Autoren der Studie jedoch ebenso als positiver Effekt gewertet, wie die frühere Version, in der Ballaststoffen nur eine passive raumfüllende Rolle zukommt:

Sie können vom menschlichen Darm nicht aufgenommen und verarbeitet werden, stattdessen binden sie Wasser und füllen so den Darm. Dadurch wird die Darmaktivität angeregt. Darüber hinaus haben Ballaststoffe einen positiven Einfluss auf Cholesterin- und Blutzuckerspiegel und wirken damit Herz- Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus entgegen. Zu den ballaststoffreichen Nahrungsmitteln gehören vor allem Obst und Gemüse oder Vollkornprodukte.
(BSMO, 24. Februar 2006)

So versteht Koautor, Paul L. McNeil, ein Zellbiologe am Medical College of Georgia, die Zellen der Darmwand als Grenze zwischen der Innenwelt des Körpers und der bösen Außenwelt. Die Rauhigkeit dieser Außenwelt stelle mit ihren unverdaulichen Körnern und Fasern eine tägliche Herausforderung für diese Zellen dar.

Schon in früheren Studien hatte McNeil gezeigt, wie solche Zellen auf die Verletzung ihrer äußeren Zellschicht durch die Absonderung von Schleim reagieren:

When a cell's outer membrane tears, calcium, lethal in large doses, from outside the cell rushes in. [Sobald die äußere Zellmembran reißt, dringt Calcium, das in hohen Dosen tödlich ist, von außen in die Zelle ein.]

At a first hint of calcium, internal mucus-filled compartments of the epithelial cells, which line inside of our cavities, fuse together to patch the tear. They also get rid of extra mucus, which lubricates the GI tract. [Bei der ersten Spur von Calcium, fusionieren innere schleimgefüllte Kompartimente der Epithelzellen, die unsere Darmwand auskleiden, um den Riß zu flicken. Dabei scheiden sie eine Extraportion Schleim ab, der den Gastrointestinaltrakt schmiert. Übersetzung Schattenblick-Red.]
(LiveScience, 22. August 2006)

Wenn also die äußere Membran einreißt und Calciumionen in die Zelle eindringen können, die in höheren Dosen für die Zelle schädlich wären, beginnen innere schleimgefüllte Vakuolen mit Epithelzellen zu fusionieren, um die entstandene Lücke bzw. den Riß zu schließen. Gleichzeitig sondern sie auch überflüssigen Schleim ins Innere des Gastrointestinaltraktes ab. Der die Gleitfähigkeit fördernde und daher verdauungserleichternde Schleim ist also weiter nichts als ein Abfallprodukt dieses Reparaturmechanismusses, demzufolge ist ein auf diese Weise geregelter Stuhlgang in etwa genauso gesund wie der Muskelkater, der ja auch nicht - wie früher geglaubt - durch Stoffwechselprodukte wie Milchsäure verursacht wird, sondern durch feine, schmerzhafte Mikroverletzungen und deren Reparatur samt Narbenbildung.

Umgekehrt könnte also auch eine Erkrankung des Darms, bei der die potentiell zellzerstörenden Verletzungen nicht mit Schleim repariert werden können, zu einer Art Muskelschwund in der Darmwand führen. Verlangsamung der Peristaltik und Verdauungsstörungen wären die logische Folge davon.

Doch hält der Leiter der Studie Katsuya Miyake diese verletzungsträchtige Schleimförderung über den Ballaststoffhobel immer noch für eine natürliche und gesunde Sache.

Vor dem Hintergrund der Darmpolypen, die sich eventuell einmal in bösartige Tumoren verwandeln können, erscheinen diese Überlegungen ebenfalls wie ein zweischneidiges Schwert.

So könnte die ständige Anregung der natürlichen Reparaturmechanismen und das Abschilfern der Darmwand auch für eine ständige Reparatur solcher warzenartiger Anfänge von gutartigen Tumoren sorgen und die Darmwand durch regelmäßige Erneuerung pflegen.

Es wäre aber ebenso vorstellbar, daß eine ständig verletzte Darmwand auch wesentlich anfälliger für Entartungen wird.

Angesichts einer immer nährstofffeindlicheren Ernährung und der allesbegründenden Antidiapositasbewegung, in der selbst Fette mit unverdaulichen, fettähnlichen, petrochemischen Ersatzstoffen ergänzt, Getreideprodukte über ihre eigenen Kornhülsen hinaus mit zusätzlichen Abfallprodukten aus den Getreidemühlen verfälscht und viele Lebensmittel mit unverdaulichen Füllstoffen von Kieselerde bis Tapetenkleister "angereichert" werden müssen, weil es eigentlich gar nicht genügend Nahrungsmittel mehr gibt, ist schon absehbar, für welche Version sich die Ernährungsmedizin letztlich entscheidet. Und diese Entwicklung zeichnet sich inzwischen immer deutlicher ab.

Erstveröffentlichung 25. August 2006
neue, aktualisierte Fassung

25. September 2009