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RATGEBER/303: Schluß mit dem Gerücht - Studentenfutter helfe denken (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT

Studentenfutter helfe denken


Wer kennt sie nicht, die verheißungsvollen Knabbertüten, die häufig von Eltern und Pädagogen als legale Alternative zum ungesunden Schokoriegel akzeptiert oder gar empfohlen werden, wenn es einem beim Lernen oder bei den Schularbeiten nach Süßigkeiten verlangt. Als Flucht- oder Ausweichmöglichkeit, wenn der Kopf brummt, verspricht das Beschäftigen der Backenwerkzeuge, sprich: intensives Kauen, verbunden mit einem süßen Geschmack, Erleichterung und Schwung, um die Schwierigkeiten noch einmal von vorne anzugehen. Leichter wird das Lernen, d.h. das dauerhafte Stimulieren bestimmter Gedächtnisleistungen, das Lösen eines bestimmten Problems oder der Nachvollzug und das Verständnis schwieriger Texte durch das Kauen oder Essen bestimmter Nahrungsmittel sicher nicht, obwohl es immer wieder gerne geglaubt wird. So soll das berühmte Studentenfutter - eine Mischung aus Rosinen, getrockneten Früchten, verschiedenen Samen und Nüssen - ausreichend Fruchtzucker, Fette, Kohlehydrate, Eiweiße und dazu eine Reihe wichtiger Mineralien, Vitamine und Spurenelemente bieten, die im Volksmund als "Nervennahrung" bezeichnet werden.

Das Trocknen der Früchte setzt chemische Prozesse in Gang, die auch die Nährstoffzusammensetzung verändern: Durch den Wasserentzug steigt daher natürlich der prozentuale Anteil der Vitamine und der Mineralstoffe. Es gibt aber auch Verluste. Empfindliche Vitamine, wie das Vitamin C, gehen zum Teil durch diesen Vorgang verloren. Aber Trockenfrüchte weisen einen hohen Gehalt an Mineralstoffen und zum Beispiel B-Vitamine auf und sind daher eine gute Alternative zu frischem Obst, insbesondere in der Winterzeit.

Auch der Zuckergehalt steigt beim Trocknen an. Dörrobst ist also viel kalorienreicher als frisches. Die konzentrierten Faser- und Ballaststoffe regen die Verdauung an und wirken leicht abführend.

Das ist alles sehr gesund, doch fördert es nicht das Denken, zumindest nicht mit Sofortwirkung. Statt dessen ist besonders das attraktiv aussehende Dörrobst meist mit Schwefel behandelt, womit bestimmte zersetzende Bakterien abgetötet werden und die Farbe erhalten bleibt. Auf Schwefelverbindungen, die daraus durch Oxidation mit dem Luftsauerstoff entstehen können, reagieren viele Menschen mit Kopfschmerzen. Und das ist nicht gerade förderlich für Denkprozesse.

Dennoch, nach den hilfreichen Lebensweisheiten, auch "Einbildung ist Bildung" und "jeder Frosch weiß, was gut für ihn ist", sollte man keinem "Studenten" sein "Futter" madig machen, selbst wenn es der Schokoriegel ist, der immerhin noch eine Menge lebenswichtiger Vitamine und nervenstärkendes Lecithin enhält.

Schlimmer sind da schon die Behauptungen, wie sie immer mal wieder im Internet erscheinen: "Die Gehirnforschung hätte herausgefunden, Trauben helfen gegen Vergeßlichkeit".

Laut einer 2006 veröffentlichten Nachricht sollen Obst- und Gemüsesorten beispielsweise eine besondere Substanz enthalten, "Fisetin", die angeblich das Langzeitgedächtnis verbessere. Besonders hoch konzentriert soll sie in Weintrauben vertreten sein, also jenen Früchten, Rosinen, aus denen die Basis des Studentenfutters, gemacht wird. Aber auch in Erdbeeren, Tomaten, Zwiebeln, Kiwis, Äpfeln und Orangen komme sie vor.

Diese Substanz soll allerdings in großen Mengen eingenommen werden, wodurch der Rat, Weintrauben zu verzehren, geradezu gefährlich werden kann: Gerade ältere Menschen, die zusehens ihren Haustürschlüssel suchen, ihre Geheimzahl vom Geldautomaten vergessen haben oder sich wegen anderer kleinerer Vergeßlichkeiten schon Sorgen um mögliche altersbedingte Leistungsrückgänge machen und deshalb solchen Empfehlungen gern auf den Leim gehen, bekommen große Mengen an traubenzucker- bzw. glukosehaltigen und außerdem stark mit Umweltgiften und Pflanzenschutzmitteln belasteten Trauben überhaupt nicht gut, zumal sie, im Übermaß genossen, Verdauungsbeschwerden nach sich ziehen.

Verantwortlich für diese Behauptungen war seinerzeit das amerikanische Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien, dessen Forschungsbericht über diese Dinge in den sogenannten "Proceedings of the National Academy of Sciences" erschien. Fachleute können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Fisetin letztlich nur zu den sogenannten Flavonoiden gehört, das heißt zu einer Gruppe von gewöhnlichen Polyphenolen, die immer wieder für alle möglichen "Gesundheitseffekte" von Obst und Gemüse herangezogen werden. Im wesentlichen handelt es sich dabei um farbgebende Substanzen.

Da aber jedes Gemüse irgend eine Art von Polyphenol oder Flavonoid enthält, ist es nicht schwer, solche jeweils als Ursache von gewünschten Wirkungen herbeizuzitieren. Meist reicht dabei ihre Eigenschaft, leicht oxidierbar zu sein, was vermeintlich dem sogenannten oxidativen Streß als Antioxidant entgegenwirken soll, zur Erklärung des positiven Effekts völlig aus.

Bei Fisetin ist das einmal nicht der Fall, denn laut medical-tribune kann es offenbar noch mehr, was sich nicht mehr allein durch oxidative Prozesse erklären läßt:

Es stimuliert bestimmte Signalketten, wodurch sich das Langzeitgedächtnis verbessert.

Zwar gelang der Nachweis bisher nur bei Mäusen. So konnten Tiere, denen Fisetin verabreicht wurde, sich an bekannte Objekte besser erinnern als Mäuse, denen der Stoff vorenthalten wurde. Fisetin wirkte dabei ebenso gut wie Rolipram, eine Substanz, die die Erinnerungsfunktion verbessert.
(www.medical-tribune.de, 19. Oktober 2006)

Womit zwar nahegelegt, aber nicht gesagt ist, daß der Wirkungsmechanimsus von Fisetin ebenfalls Rolipram gleicht. Wie Fisetin im Einzelnen wirken soll, ist nämlich bisher überhaupt nicht untersucht worden.

In Zellkulturen machten die Wissenschaftler jedoch noch eine andere, vielversprechende Entdeckung: Durch Fisetin reifen Nervenzellen aus und differenzieren sich.
(www.medical-tribune.de, 19. Oktober 2006)

Und das ist nun, ehrlich gesagt, eine ausgesprochen starke Wirkung, die über das, was man gemeinhin mit Vitaminen oder Polyphenolen bewirken möchte, hinausgeht. Jede Art von künstlich erzeugtem Zellwachstum wird unter normalen Umständen als wenig erstrebenswert, wenn nicht gar gefährlich (onkogen, cancerogen) betrachtet. Nur der Umstand, daß es sich um ein in Obst vorkommendes Flavonoid handelt, dem gewissermaßen ein guter Ruf vorauseilt, läßt die Forscher all das positiv interpretieren

Das lässt uns vermuten, dass Nervenzellen durch derartige Stoffe nicht nur vor dem Absterben geschützt werden, sondern dass sogar neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen aufgebaut werden, so Pamela Maher vom Salk Institute.
(www. medical-tribune.de, 19. Oktober 2006)

und mit dem Hinweis auf Alzheimer und Demenzerkrankungen darauf hoffen, daß sich diese Ergebnisse "auch auf den Menschen übertragen lassen würden".

Und das wird schwierig: Wenn man die Ergebnisse der Zellkulturen auf den Menschen überträgt, dann müsse dieser täglich ungefähr fünf Kilo Erdbeeren essen. Abgesehen davon, daß es gerade für ältere Leute oft sehr schwer ist, so viel zu essen und mit Erdbeeren oder Weintrauben allein nicht gleichzeitig auch der gesamte Nährstoffbedarf gedeckt werden kann, ist es nicht einmal sicher, ob das in unserem Organismus verstoffwechselte Fisetin an den Nervenzellen überhaupt noch so wirksam ist, wie an isoliertem Zellgewebe im Reagenzglas.

Auf das eingangs erwähnte Studentenfutter zurückgekommen, das man dann allerdings auch (80 Prozent Wasserverlust eingerechnet) kiloweise zu sich nehmen müßte, bliebe fraglich, ob der als Polyphenol oxidativen Prozessen besonders ausgelieferte Stoff "Fisetin" die Trocknungsprozesse überhaupt in wirksamer Form übersteht. Ansonsten fördert der gesunde Knabberkram alles Wünschenswerte wie Zufriedenheit, Sattheit, Glück, aber keine Denkleistungen.

Erstveröffentlichung 26. Oktober 2006
neue, aktualisierte Fassung

18. September 2009