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RATGEBER/301: Kurioses über Briefmarken und Briefumschläge (SB)


VON APFELESSIG BIS ZITRONE

Chemolumineszenz beim Öffnen von Briefumschlägen

Versteckte Kohlenhydrate - Briefmarken machen dick


Beim Briefmarkenaufkleben scheiden sich gewöhnlich die Geister. Denn wovor sich der eine geradezu schüttelt, das kann sich bei manchem Philatelisten zur Manie entwickeln. Daß das ganze eine Geschmacksfrage ist, hat bisher nie jemand angezweifelt. Inzwischen weiß man allerdings, daß noch mehr dahintersteckt: Briefmarken sind veritable Kalorienbomben! Die süße, pappige Substanz auf der Rückseite enthält so viel Zucker, daß sie für Diabetiker ungeeignet sind.

Angesichts dieser neuen Erkenntnisse sah sich die Königliche Britische Post vor einigen Jahren gezwungen, vor ihren eigenen Postwertzeichen zu warnen: Eine Marke enthält genau 5,9 Kalorien. Dafür muß man allerdings auch den gesamten Klebstoff ablecken und dann hält sie bekanntlich nicht mehr. Wer aber im Akkord Briefe frankiert, nimmt nebenbei den Kaloriengehalt einer regelrechten Mahlzeit zu sich: 100 Briefmarken entsprechen etwa einer Pizza, zwei Schokoriegeln oder zwei Packungen Toastbrot.

Nun, im Zeitalter der E-mails, Twitter, Faxe und Mobiltelephone hat das Briefeschreiben und somit auch das Frankieren zunehmend Seltenheitswert und die Gefahr, vom Markenablecken dick zu werden, ist äußerst gering. Warum man erst jetzt auf den Nährwert der Briefmarken aufmerksam wird, hängt vielleicht mit der allgemeinen Verunsicherung der Verbraucher zusammen, die ihre bisherigen Lebensmittel mit einer gewissen Skepsis betrachten, und mit der schleichenden Ahnung, daß es möglicherweise schon in naher Zukunft nicht mehr genügend Nahrung gibt. So wendet man sich plötzlich Dingen zu, die bisher nicht als Nahrung betrachtet wurden.

Briefmarken, die nicht mehr gebraucht werden, sind gut lagerfähig und im Bedarfsfall ausgesprochen nahrhaft.


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Es gibt allerdings noch einen Grund, warum das Festhalten an der althergebrachten Tradition des Briefwechsels zum Erlebnis werden kann. Denn beim Öffnen von selbsthaftenden Briefumschlägen, auf denen ein weiterentwickelter Klebstoff für eine Art Patentverschluß sorgt, kann man im wahrsten Sinne des Wortes "sein blaues Wunder erleben". Immer wieder wird besonders bei ausländischen Briefumschlägen eine violette Leuchterscheinung beobachtet, die nur kurze Zeit auftritt. Sie kann sogar wiederholt werden, wenn man den Brief wieder zusammendrückt und erneut aufreißt.

Der Chemiker nennt dieses Leuchten Chemolumineszenz, was theoretisch etwas ganz anderes sein soll, als die bekanntere Fluoreszenzerscheinung. Bei der Fluoreszenz wird vornehmlich UV-Licht absorbiert und anschließend mit geringerer Wellenlänge (im sichtbaren Spektrum) wieder abgestrahlt. Diese Strahlungsumwandlung gelingt jedoch nur bestimmten Stoffen, sogenannten "Leuchtpigmenten" bzw. "Leuchtfarben", die für diese Fähigkeit bestimmte strukturelle Voraussetzungen mit sich bringen sollen.

Für die Leuchterscheinung bei den Briefumschlägen - ähnliches wurde aber auch schon beim Abziehen von Isolierband beobachtet - gibt es eigentlich keine wirklich befriedigende Erklärung. Bisher wird von den Experten eine Umwandlung von überschüssiger mechanischer Energie, die beim Aufreißen der Briefumschläge aufgewendet wird, und die sich auf geradezu magische Weise auf die Moleküle des Klebstoffs übertragen und diese in einen angeregten Zustand versetzen soll, für den Effekt verantwortlich gemacht. Genauer gesagt soll das bläuliche Blitzen erst dann auftreten, wenn die angeregten Moleküle wieder in ihren Normalzustand zurückfallen, wobei sie nach dem Energieerhaltungssatz die aufgenommene Energie in irgendeiner Form - hier also Licht - wieder frei abgeben müssen. Die Energiedifferenz zwischen dem angeregten und dem Grundzustand bestimme dann die Wellenlänge und damit die Farbe des ausgesandten Lichtes - so die offizielle Version.

Nun wurde aber die gleiche Erscheinung auch von Elektrikern beobachtet, während sie ein Stück Isolierband von der Rolle zogen. Und darüber hinaus wird die Ursache einer Explosion (siehe Zitat unten) im Ablösen eines Klebeettikets von einer Batterie gesehen.

Dies legt die Vermutung nahe, daß es sich nicht unbedingt um die oben beschriebene komplizierte, aber harmlose Chemolumineszenz handeln muß, sondern um die sehr viel profanere Oberflächenerscheinung statischer Entladung. Da es sich sowohl bei den gummierten Flächen der Klebeumschläge als auch bei Klebstoff und Isolierfolie um jeweils verschiedene Kunststoffe handelt, die ineinander oder aufeinander haften und sich beim Aufreißen intensiv aneinander reiben, ist Reibungselektrizität eine naheliegende Erklärung für die Leuchterscheinung, obwohl auch die Entstehung dieses Phänomens nicht hinreichend physikalisch geklärt werden konnte: Denn noch niemand konnte den elektrischen Ladungsüberträger, das Elektron, bis heute mit eigenen Augen sehen, so daß man annehmen muß, daß diese Theorie nicht über das Stadium des Erklärungsmodells hinausgeht.

Trotzdem ist das Auftreten funkenschlagender Phänomene wie das, was manche Klebstoffe beim gewaltsamen Entfernen zeigen (und was noch nicht ausreicht, um Methan zu entzünden), nicht von der Hand zu weisen, so daß sich ein britischer Fachjournaliste der renommierten Fachzeitschrift "New Scientist" nach einigen Recherchen genötigt sah, der Royal Society of Chemistry folgenden Eintrag für künftige Ausgaben des "Bretherick's Handbook of Reactive Chemical Hazards" vorzuschlagen:

Klebeetiketten: Eine Blei/Säure-Hochleistungsbatterie explodierte, als ein Arbeiter ein Klebeetikett von ihr abzog. Versuche zeigten, daß dabei ein Potential von >8kV auftreten kann. Dessen Entladung durch eine Mischung von Wasserstoff und Sauerstoff [kurz: Knallgas, Anm. d. Schattenblick-Red.], die sich beim Aufladen der Batterie oberhalb von ihr gebildet hatte, war für die Explosion verantwortlich. Der Redakteur hat lebhafte Entladungen bemerkt, als er selbstklebende Umschläge der Royal Society of Chemistry öffnete.
(aus: Warum fallen schlafende Vögel nicht vom Baum? Wunderbare Alltagsrätsel, Seite 74, Piper Verlag 2000)

Fazit: Briefmarken sollte man mit einem angefeuchteten Schwämmchen benetzen und beim Öffnen von Umschlägen ist allgemein zur Vorsicht geraten, vor allem bei angespannter bis explosiver Atmosphäre, deren Zündenergie niedriger liegt, als die des Methans.

Erstveröffentlichung 2002
neue, aktualisierte Fassung

7. September 2009