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RATGEBER/227: Keine Angst vor Glühwein (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT ...,

... daß Glühwein krebserregend ist


Weihnachtszeit ist Glühweinzeit. Und alle Jahre wieder wird das genußvolle Labsal, mit dem sich so mancher die gefrorenen Glieder nach einem Arbeitstag im Freien oder anderen Tätigkeiten in der kalten Winterluft aufs angenehmste wieder erwärmen konnte, von einer pseudowissenschaftlichen Berichterstattung verunglimpft, daß ein unbedarfter Verbraucher gar nicht mehr weiß, ob er den gewohnten, gemütlichen Wintertrunk überhaupt zu sich nehmen darf oder lieber darauf verzichten sollte.

Dieser Tage wird von der Associated Press der Verdacht geäußert, Glühwein, falsch zubereitet, sei krebserregend.

Darin wird die Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz zitiert, die sich vor allem an diejenigen wendet, die sich ihren Glühwein traditionell selbst zusammenbrauen:

Fängt der Wein an zu brodeln, kann demnach das Zuckerabbauprodukt Hydroxymethylfurfural entstehen, das unter dem Verdacht steht, Krebs erregend zu sein. Außerdem schlägt das Gewürzaroma um, so dass der Glühwein seinen beliebten Geschmack verliert, wie die Verbraucherschützer am Montag mitteilten.
(AP, 10. Dezember 2007)

Daß damit dem Verbraucher letztlich suggeriert wird, ein fertig abgefüllter Glühweinpunsch sei besser, als das, was er mit weihnachtlichen Gewürzen und Rotwein zuhause im Topf bereitet, dient natürlich u.a. auch der Lebensmittelbranche, die solche Mixturen auf den Markt bringt.

Ansonsten bleiben die potentiellen Verbraucher mit ihrer Entscheidung auf sich gestellt, denn was Hydroxymethylfurfural eigentlich ist oder wie es in den Verdacht geraten konnte, Krebs erregend zu sein, oder die Frage, wie groß die Gefährdung ist, der wir uns dann ja wohl schon seit vielen Jahrzehnten ausgesetzt haben, bleibt im weiteren ungewiß und wird auch nicht erklärt.

Statt dessen warnen die Verbraucherschützer auch noch vor billigen Weinerzeugnissen, die auf Weihnachtsmärkten fertig gekauft werden können. Fertigglühwein, der in vielen Geschäften verkauft werde, bestehe aus preiswerten Grundweinen, in denen Zucker und Gewürze den teils minderwertigen Geschmack und Geruch übertünchten. Daher empfehlen sie Wein von regionalen Erzeugern. Dieser habe oft eine individuellere Note als Fertigglühwein. Kein Wunder, daß der Urheber solcher verunsichernden Botschaften die Verbraucherzentrale Rheinland- Pfalz ist, fördern sie damit doch vor allem die zahlreichen Winzer vor Ort.

Doch besteht nun bei teuren, regional erzeugten Glühweinen keine Krebsgefahr oder bezieht sich die Warnung nur auf billige, künstlich gezuckerte Weine? Schließlich sind auch natürlich vorkommende Fruchtzucker bei Erhitzung nicht vor der krebsbringenden Reaktion befreit, oder doch?

Alles Humbug!

Dem ganzen einmal genauer nachgegangen, findet man, daß das amerikanische "National Institute of Environmental Health" Hydroxymethylfurfural (oder kurz: HMF) vor kurzem für potentiell krebsverdächtig erklärt hat, weil es von seiner chemischen Struktur her große Ähnlichkeit mit anderen krebserregenden Substanzen aufweist, die bei sogenannten Maillardreaktionen entstehen (eine Gruppe von Reaktionen, die meistens erst bei hohen Temperaturen über dem Siedepunkt von Wasser oder Wein stattfinden). Das spezielle carcinogene Risiko von HMF soll aber erst noch in künftigen Studien ermittelt werden. Das sind dann voraussichtlich Tierversuche oder Reagenzglasversuche mit Gewebezellen unter Laborbedingungen, die sich bekanntlich überhaupt nicht so einfach auf den Menschen und reale Verhältnisse übertragen lassen.

Die Maillardreaktionen sind bei der Lebensmittelherstellung sogar durchaus erwünscht. Sie sorgen z.B. beim sogenannten Schwelken und Darren (eine Phase des Bierbrauens) dafür, daß im Malz kurzkettige Zucker mit Aminosäuren reagieren. Während der dabei ablaufenden Bräunungsreaktionen (Maillardreaktionen) werden die meisten Farb- und Geschmacksstoffe des Malzes gebildet. Vereinfacht beschrieben werden Zuckermoleküle und Aminosäuren in Abwesenheit von Wasser zu Farb- und Geschmacksstoffen verknüpft. Auch beim Rösten des Kaffees wird das Entstehen der Aroma- und Geschmacksstoffe aus vorhandenen Zuckern einer Vielzahl von Maillardreaktionen zugeschrieben (immerhin enthält der Kaffee nach jüngster und längst nicht vollständiger Zählung über 800 verschiedene Aromastoffe).

Maillardreaktionen sind aber auch für den Geschmack und die Bräune von knusprigen Krusten verantwortlich, d.h. für die Farbgebung und das Aroma einer Vielzahl gekochter, gebratener, gebackener oder gerösteter Lebensmittel, und hier vor allem von Fleisch. Durch die Verknüpfung eines Zuckers mit der entsprechenden Aminosäure entstehen auch hier charakteristische Aromastoffe.

Die Lebensmittelindustrie macht sich diese Reaktionen im übrigen auch zur Herstellung künstlicher Aromen zunutze. Die benötigten Reaktionspartner sind billig und leicht in großen Mengen erhältlich. Das alles müßte nach obigen Erkenntnissen in Zukunft verboten oder zumindest auf seine Schädlichkeit hin überprüft werden.

Die Temperatur spielt bei den Maillardreaktionen eine entscheidende Rolle. Eine um 10 Grad höhere Lagertemperatur kann schon die Reaktionsgeschwindigkeit vervierfachen. Im Wasser gegarte Lebensmittel (hört, hört!) erreichen (außer bei hohem Druck) höchstens eine Temperatur von 100 Grad Celsius und enthalten deshalb wenig (!!) Maillard-Produkte. Dies träfe dann wohl auch für unseren Glühwein zu.

Im Backofen oder beim Erhitzen in Öl, d.h. bei Temperaturen von 150- 260 Grad Celsius, werden dagegen die Aromen schneller produziert. Entscheidend ist hier auch der Wassergehalt der Ausgangsprodukte: Zwischen 5 bis 10% ist er optimal, sinkt er unter 3%, kommt die Reaktion zum Stillstand.

Da bei der Maillardreaktion jedoch im Laufe der verschiedenen Prozesse mehr und mehr Verbindungen entstehen, die auch untereinander wieder miteinander reagieren, entsteht ein breites Spektrum von Produkten, deren Wirkungen man nur zu einem kleinen Teil abschätzen kann. Um beispielsweise den Anforderungen eines pharmazeutischen Produktes zu genügen, müßte jeder Braten aus der Röhre noch jahrelang Untersuchungsreihen über sich ergehen lassen, um sämtliche möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen genau abzuschätzen.

Ein Haupt-Intermediärprodukt dieser Maillardreaktionen soll nun das Hydroxymethylfurfural sein, das sich im Glühwein nachweisen läßt.

Ein weiteres Produkt der Maillard-Reaktionen ist das bekannte Acrylamid, mit dem den Verbrauchern ebenfalls seit geraumer Zeit, Pommes Frites und Gebäck madig gemacht wird (siehe hierzu auch: KOMMENTAR/017: Antwort von Radio Erivan, Acrylamidgefahr ist relativ, KOMMENTAR/026: Die Lüge vom Acrylamid in knusprigen Krusten, NEWS/360: Acrylamid-Entwarnung und knusprige Antikrebs-Krusten, UMWELTLABOR/81: Wie kommt Acrylamid in die Chips?, UMWELTLABOR/90: Acrylamid - Nie wieder Bratkartoffeln und Kuchen?, und KOMMENTAR/078: Acrylamid - die Frucht aus ausgelaugten Böden (SB)). Darauf, daß hinter dem Verteufeln dieser Produkte möglicherweise agrarpolitische Gründe stecken, konnten wir vor allem in KOMMENTAR/078 deutlich machen.

Auch in den CAS (Chemical Abstracts) wird der Verdacht auf toxische, mutagene und carcinogene Effekte in diesem Zusammenhang geäußert, ohne daß abgesehen von strukturellen Ähnlichkeiten tatsächlich ein Hinweis auf ihren Nachweis bestünde.

Die chemische Struktur des HMF besitzt aber auch große Ähnlichkeit zu anderen bekannten Geschmacksstoffen oder ätherischen Ölen, so daß der Krebsverdacht streng genommen auf all diese ausgeweitet werden müßte.

Abgesehen davon, daß nicht einmal feststeht, ob eine Zufuhr von HMF für den Menschen überhaupt schädlich ist, haben die Verbraucherschutzorganisationen mit der Ermittlung des Gehaltes an HMF bisher einen einfachen Indikator genutzt, mit dem sich die Qualität des angebotenen Glühweins überprüfen läßt.

Da die Maillardreaktionen durch komplizierte Mechanismen zwischen Aminosäuren und reduzierenden Zuckern dargestellt werden, die bei langem Erhitzen und hohen Temperaturen entstehen, ist die Menge des entstandenen HMF ein Hinweis für unsachgemäße Verarbeitung des Weins und für den verkochten Alkoholgehalt.

So gab es von der Verbraucherzentrale in Stuttgart im letzten Jahr folgende Versicherung:

Gehalte und Befunde an HMF

Bei Fruchtsäften oder auch Glühwein werden erhöhte HMF-Gehalte als Indiz für eine zu starke, technologisch vermeidbare Hitzebelastung angesehen. Auf Weihnachtsmärkten wird Glühwein offen angeboten und oft über längere Zeit erhitzt. Infolgedessen kann der Alkohol verdampfen. Dies veranschaulichen eigene Untersuchungen an einem über Stunden erhitzten Glühwein.

[...]

Außerdem steigt der HMF-Gehalt mit der Erhitzungsdauer. Aufgrund des HMF-Gehaltes alleine wurde aber bisher nichts beanstandet. HMF dient als zusätzliches Indiz und Erklärung dafür, wenn der Alkoholgehalt zu niedrig ist.

Offene Proben von Weihnachtsmärkten mussten bisher nur vereinzelt beanstandet werden. In diesem Fall war der Mindestalkoholgehalt von 7 Vol% deutlich unterschritten und der HMF-Gehalt erhöht. Gesundheitlich bedenkliche Gehalte wurden nicht festgestellt. Weinfehler wie Mäuseln oder Böckser, die trotz der Aromazusätze nicht kaschiert werden können, sind bei diesen Erzeugnisse ebenfalls möglich.
(CVUA Stuttgart, Bericht vom 22.12.2006)

Warum die vermutlich ähnlich hohen Dosen von HMF in Glühweinen innerhalb eines Jahres von der Einschätzung gesundheitlich unbedenklich zum krebserregenden Gift mutiert sind, bleibt somit eine offene Frage. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, daß Hydroxymethylfurfural in seiner Bedeutung als Chemikalie gerade einen Wertewandel vollzieht. Außer als Geschmacksstoff wurde es inzwischen als potentiell hochwertiger Biotreibstoff entdeckt, der in den Chemical Abstracts als solcher diskutiert wird.

Vielleicht verträgt sich der Gedanke, daß so etwas wie ein Treibstoff (also etwas Benzinähnliches) in einem Getränk vorkommt, nicht mit der Gewohnheit. Vielleicht wurde hier aber auch absichtlich einiges durcheinandergebracht, um - wie oben schon erwähnt - die heimische Kellerei zu unterstützen.

Fakt ist, daß die Maillardreaktion beim Garen von Fleisch durchaus mit dem unerwünschten Verlust an essentiellen Nahrungsbestandteilen und auch der Bildung mutagener, eventuell cancerogener Substanzen in Verbindung gebracht wird. Dabei werden zum einen bei starkem Erhitzen von Fleisch Proteine quervernetzt. Diese Netzwerke und die bei der Maillardreaktion gebildeten Produkte aus Aminosäuren und Zuckern sind für Verdauungsenzyme schlecht oder gar nicht angreifbar. Die Aufnahme essentieller Nährstoffe kann dadurch vermindert sein. Derart komplexe Vernetzungen wird man jedoch im Glühwein kaum finden.

Was die mutagenen Stoffe angeht, die nur bei dem sehr starken Erhitzen (Grillen) von organischen Substanzen entstehen, so handelt es sich im wesentlichen um Polycyclen wie 1,2-Benzpyren oder 1,2-Benzanthracen (die mit HMF nicht mehr vergleichbar sind als unzählige andere chemische Strukturen) und zwei Stoffe, die zwar ähnliche Strukturen enthalten wie HMF, aber insgesamt viel kleiner sind: Diacetyl und Methylglyoxal.

Das gemeinsame Auftreten der Maillardreaktionen und carcinogener Stoffe beim Fleischgrillen muß zumindest als Gerücht oder Verdacht auf die Glühweinzubereitung übertragen worden sein, bei der ebenfalls aus anderen Gründen auf die Maillardreaktionen geachtet wird.

Glühwein erreicht allerdings nie so hohe Temperaturen, wie sie für das Zustandekommen von Carcinogenen nötig sind. Ein vorschriftsmäßig zubereiteter Glühwein, den man nach kurzem Erhitzen nur noch auf den Gewürzen ziehen läßt und das Gebräu (nach etwa einer Stunde) vor dem Trinken noch einmal kurz erhitzt und abseiht, kann also wirklich unbeschwert genossen werden.

Selbst das heikle und Kopfschmerzen machende "Cumarin", ein ätherisches Öl, das aus den verwendeten Zimtstangen herausextrahiert wird, kam in allen Proben in vertretbarer, d.h. nicht belastender Dosierung vor. Bei Cumarin handelt es sich um einen Aromastoff, der natürlicherweise in Waldmeister und Zimt enthalten ist. Auch Glühwein kann bei Verwendung von China-Zimt Cumarin beinhalten.

Die aktuellen Untersuchungsergebnisse des CVUA Stuttgart geben jedoch Entwarnung für Glühwein. Bislang wurden 41 Proben Glühwein untersucht. Bei den Untersuchungen wurden unter Berücksichtigung der tolerablen täglichen Aufnahmemenge keine erhöhten Werte festgestellt. Bei den untersuchten 5 Proben Kinderpunsch waren die festgestellten Gehalte unauffällig.
(CVUA Stuttgart, Bericht vom 22.12.2006)

Kinderpunsch sind alkoholfreie Glühweinvarianten, die aus Früchtetee, Trauben- oder Holundersaft hergestellt werden. Ein Rezept dafür lieferte die Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz gleich mit: Mit einem "Liter Saft, etwas Honig, einer halben Stange Ceylon-Zimt, zwei Gewürznelken und geriebenen Zitrusschalen von Bio-Zitronen" liegen Verbraucher, die das nachmachen, im grünen Bereich. Denn auch das wurde schon im vergangenen Jahr nachgewiesen:

Bei eigenen Versuchen mit selbst angesetztem Glühwein und selbst hergestelltem Kinderpunsch aus Traubensaft waren trotz der Verwendung von Cumarin-haltigem Zimt in rezepturüblicher Menge keine überhöhten Cumarin-Gehalte in Glühwein und Kinderpunsch enthalten.
(CVUA Stuttgart, Bericht vom 22.12.2006)

Auch in diesem Jahr sollte also niemand auf den beliebten Glühwein zum Weihnachtsfest verzichten, zumal die meisten Gewürze auch dazu beitragen, das Immunsystem zu stabilisieren und Halsweh und Schnupfen vorzubeugen, wie die Verbraucherzentrale Bayern rät. In Pfeffer, Senf und Chili sind wirksame ätherische Öle und sekundäre Pflanzenstoffe enthalten. Ähnlich sei es bei den klassischen Weihnachtsgewürzen Anis, Nelken, Piment und Kardamom, die man u.a. im Glühwein finden kann. In diesem Sinne Prost und Frohes Fest!

18. Dezember 2007