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RATGEBER/200: Schluß mit dem Gerücht - Lippenstifte sind harmlos (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT ...

Lippenstifte sind harmlose Kosmetikprodukte

Ökotest entlarvt Lippenbekenntnisse, die mitgegessen werden müssen


Laut John Emsleys populärwissenschaftlichem Buch "Fritten, Fett und Faltencreme - Noch mehr Chemie im Alltag" verdanken wir es den Technicolor-Filmen der 30er Jahre, daß strahlend rote Lippen überhaupt für Frauen gesellschaftsfähig wurden. Jahrhundertelang davor wurden auffällig gefärbte Lippen bestenfalls mit Prostitution und Schauspielerei in Zusammenhang gebracht. In manchen Ländern jenseits des Ozeans hielt sich diese Ansicht auch noch etwas länger, die Moral der deutschen Romanhelden und Filmkomödien war einhellig: ein anständiges Mädel schminkt sich nicht und ist dennoch wunderschön in seiner natürlichen Anmut und Frische.

Was jedoch als schön zu gelten hatte, und woran sich große Teile der Gesellschaft orientierten, wurde nach und nach doch von dem amerikanischen Technicolor-Rot diktiert, das zwar ausgesprochen künstlich wirkte, dem Gesicht aber auch jene rosa angehauchte Frische und vollmundige Anmut verlieh, die man plötzlich für "natürlich" hielt und ohne die sich viele Frauen in ihren Gesichtern regelrecht nackt fühlten.

Da jedoch natürliche rote Lippen äußerst selten vorkommen, war der einfachste Weg zu diesen angestrebten Attributen letztlich doch der Griff zum Lippenstift. So entstand plötzlich durch geschickte Medienpolitik eine enorme Nachfrage nach einem Produkt, das bereits 20 Jahre davor erfunden worden war und bis dato niemand recht gebraucht hatte. Niemand realisierte dabei, daß mit dieser scheinbar harmlosen neuen Angewohnheit, sich zu schminken, praktisch die gesamte amerikanische Gesellschaftsordnung sowie das amerikanische Konsumverhalten mitübernommen wurde. Die Frau war nicht nur zum reinen Lustobjekt degradiert, sondern durch ihre Unterwerfung unter mode- und medienbestimmt ständig wechselnde Schönheitsideale zum fremdbestimmten Konsumenten der Schönheitsindustrie geworden, vereinzelt in Konkurrenz zu ihren Geschlechtsgenossinnen. Bis heute geben US-amerikanische Frauen jährlich rund 700 Millionen Dollar für diese Art von Kosmetik aus.

... Und verschlucken dabei im Laufe ihres Lebens durchschnittlich mindestens einen ganzen Lippenstift. Da sich inzwischen auch manche Frauen seltener oder gar nicht schminken, verzehren die ihrer eigenen Schönheit versklavten Frauen neben Wachs und Öl auch teilweise sogar noch sehr viel mehr der gesundheitlich bedenklichen Farbpigmente und anderen Zusatzstoffe, die eigentlich nichts im menschlichen Organismus zu suchen haben.

Dabei sind sie in guter Gesellschaft, schließlich bestand das erste von Ägyptern angewendete Lippenfärbemittel aus Zinnober, hochtoxisches Quecksilbersulfid, an dem manche Ägypterin früh, in der Blüte ihrer Schönheit, gestorben ist.

Allerdings waren auch die anderen Bestandteile der ersten amerikanischen Lippenstifte nicht gerade appetitanregend: So fertigte Maurice Levy die ersten in den heute üblichen Hüllen zum Nach-oben- Drehen angebotenen Lippenstifte und färbte sie mit Karmin, einem Naturstoff, der aus dem Blut der in mexikanischen Kakteen heimischen weiblichen Cochenilleschildlaus 'Dactylopius coccus' gewonnen wurde. Dieser Farbstoff hatte jedoch einen entschiedenen Nachteil: Er war nicht kußecht. Jeder Kontakt bemalter Lippen mit Teetassen, Wangen, Zigaretten oder Hemdkragen hinterließ verräterische Spuren.

Die Lösung boten künstliche Pigmente, die teilweise auch heute noch verwendet werden und die die Haut selbst färbten. Auf diese Weise dringen die meist toxischen Substanzen durch die dünne, gut durchblutete Lippenhaut in den Organismus.

Dazu kommt, daß von einem perfekten Lippenstift inzwischen sehr viel erwartet wird: Er soll nicht nur den gewünschten Farbton besitzen, sondern beispielsweise matt, glänzend, durchscheinend oder perlmuttartig wirken. Er soll die Lippen gleichmäßig mit Farbe abdecken und sich nicht schmierig anfühlen. Dazu wird ein neutraler Geschmack bevorzugt und die Farbe soll fest haften und nicht abfärben. In jeder Witterungslage soll sich das Produkt glatt und sanft auftragen lassen, der Stift selbst darf sich dabei aber nicht verformen oder gar brechen. Feuchtigkeit und Luftkontakt dürfen ihm nichts anhaben, er darf keine Keime beherbergen und keinen Schimmel ansetzen. Und natürlich soll er auch keine giftigen oder gesundheitsschädlichen Stoffe enthalten. Um diese Forderungen zumindest teilweise zu erfüllen, wurde aus dem einfachen Lippenfärbemittel inzwischen ein HighTech-Produkt, das jedoch hinsichtlich seiner Inhaltsstoffe schon lange nicht mehr als harmlos zu bezeichnen ist.

Um beispielsweise dem Wunsch gerecht zu werden, daß sich die Lippen selbst unter klimatischen Extrembedingungen immer weich, glatt und feucht anfühlen sollen, läßt die Kosmetikhersteller zu Castoröl (Rizinusöl) und dem aus Schafwolle gewonnenen Lanolin greifen, aber auch zu Paraffin oder Vaseline (petrochemische Produkte) oder gar zu synthetischen Siliconen. Die Erdölprodukte können sich in Leber, Nieren und Lymphknoten anreichern und entzündliche Reaktionen der Herzklappe hervorrufen.

Die beiden letzten Produkte wie auch Silicon haben außerdem gemeinsam, daß sie zwar zunächst den gewünschten Effekt vermitteln, dann jedoch die sehr viel schnellere Austrocknung der dünnen, verletzlichen Hornschicht der Lippen fördern, die wenig eigenes Fettgewebe enthält. Die sogenannte Lippenpflege muß, um dem entgegenzuwirken, also immer wieder neu aufgetragen werden. Der ohnehin modeabhängige Konsument wird dadurch quasi zusätzlich körperlich abhängig und nimmt auch einen sehr viel größeren Anteil möglicher Schadstoffe auf, weil trockene Lippen zum einen leicht reißen und zum anderen zu dem natürlichen Reflex führen, sich über die Lippen zu lecken, um ihnen Feuchtigkeit zuzuführen. Beides führt zur unfreiwilligen Aufnahme der Lippenstiftchemie.

Um so wichtiger ist es, daß man beim Kauf auf die Zusammensetzung des Lippenstifts achtet, die laut einem kürzlich erfolgten Öko-Test bei den meisten Herstellern sehr zu wünschen übrig läßt.

Einer Meldung des deutschen Departments der amerikanischen Associated Press vom 26. Februar 2007 zufolge hat Öko-Test vor kurzem 24 Lippenstifte mit cremiger Konsistenz in braunrosa Nuancen aus Drogerien, Parfümerien, Apotheken und Naturwarenläden auf ihre Schadstoffe untersucht. Nur acht Marken erhielten ein "sehr gut" oder "gut", sieben Produkte wurden eindeutig mit "mangelhaft" oder "ungenügend" beurteilt, der Rest, neun Produkte des Mittelfelds, kann allerdings ebenfalls nicht empfohlen werden.

Das liegt nicht nur daran, daß Hersteller wie Dior oder Chanel unter Berufung auf das Betriebsgeheimnis keine weiteren Auskünfte über die Zusammensetzung des Produktes geben wollten.

...teilweise fanden sich in den Kosmetikfarbstiften auch Pigmente, die als allergieauslösend gelten. Oft enthalten die Stifte auch mehr als zehn Prozent Paraffine. Das Erdölprodukt kann sich in Leber, Nieren und Lymphknoten anreichern und entzündliche Reaktionen der Herzklappe hervorrufen.
(AP, 26. Februar 2007)

Fehlt auf einem Lippenstift die Angabe der Inhaltsstoffe, könne man diese im Laden in einer Zutatenliste nachlesen. Diese hängt häufig am Regal oder ist beim Verkaufspersonal einzusehen. Doch worauf sollte man dabei achten und was kommt vor?

Ein typischer Lippenstift ist etwa folgendermaßen zusammengesetzt:

Farbstoff 5%,
Titanoxid 10%,
Öl 40%,
Wachs 20%,
Erweichungsmittel 25%,

(John Emsley, Fritten, Fett und Faltencreme, Wiley-VCH, 2004)

Außerdem kommen darin Duftstoffe, Konservierungsstoffe zum Abtöten von Mikroorganismen, Vitamin E (Antioxidationsmittel), Lichtfilter, manchmal sogar Geschmacksstoffe in geringeren Mengen vor.

Wachse sollen den Lippenstift formbar machen und festigen. Verwendet werden natürliche Produkte wie das meist bevorzugte Bienenwachs oder auch Carnaubawachs und Candelillawachs. Chemisch betrachtet verbirgt sich hinter dem ersten ein bei 63 Grad Celsius schmelzendes Gemisch aus Cerotinsäure und Myricin, das man u.a. auch in Möbelpolituren, Kerzen oder Drageeüberzügen findet. Das härtere, bei 87 Grad schmelzende Carnaubawachs, wird von Blättern der Carnauba- oder Wachspalme (Copernicia prunifera) abgesondert und ebenfalls in den oben genannten Produkten sowie in Autopolituren verwendet.

Candelillawachs entstammt der in Mexiko heimischen Pflanze 'Pedilanthus macrocarpus'. Sein Schmelzpunkt liegt bei 67 Grad und es wird nur dann verwendet, wenn die anderen beiden Produkte zu teuer sind. Candelillawachs ist eigentlich ein klassisches Siegelwachs, das heute noch zur Beglaubigung von Urkunden verwendet wird. Auf der Haut kleben sie gut und verhindern die natürliche Transpiration.

Das eigentlich natürliche Lanolin, das aus Schafwolle extrahiert wird und in vielen Kosmetikprodukten (sogar in Lidschatten) vorkommt, ist keineswegs unbedenklich, da viele Menschen darauf nachgewiesenermaßen mit Kontaktdermatitis reagieren.

Für die Farbnuance, Schattierungen von Rot bis Pink, sind entweder Pigmente oder organische Farbstoffe verantwortlich. Farbpigmente werden mit der sogenannten Colour-Index-Nummer (CI-Nr.) angegeben. Zu den problematischen unter ihnen gehören CI 12085, CI 45419, CI 45370, CI 45380, CI 54530, CI 73360 sowie CI 11680, CI 11920, CI 15800, CI 16230, CI 17200 und CI 18050.

Harmlos hingegen sollen die Farbsubstanzen CI 75470, CI 77491, CI 77492, CI 77499, CI 77489 und CI 77947 sein.

Meist handelt es sich dabei um Interferenzpigmente, die auf der Oberfläche von Titandioxidpartikeln aufgebracht werden und mit denen sich beinahe alle Farbtöne erzeugen lassen. Entscheidend dafür ist die Art und Weise, in der sie das Licht brechen oder streuen. Sie sind gewissermaßen eine Notlösung, da es für echte Farbstoffe oder auch neue Farbpigmente unglaublich schwierig ist, den geforderten Unbedenklichkeitsnachweis zu erbringen und die jeweilige Zulassung zu erhalten.

Echte Farbstoffe sind fast immer Varianten zweier chemischer Stoffe, die nach IUPAC-Nomentklatur mit 4',5'-Dibromfluorescein bzw. 2',4',5',7'-Tetrabromfluorescein bezeichnet werden. Das erstgenannte (laut Kosmetikliste der US-Lebensmittel und Pharmaziebehörde D&C Orange Nr. 5) enthält zwei Bromatome, das letztgenannte (D&C Rot Nr.22 oder Eosin) enthält sogar vier.

Beide werden aus dem gelben Fluorescin als Grundstoff hergestellt. Setzt man das mit Brom um, so werden zunächst zwei Bromatome addiert und es entsteht die orangefarbene Verbindung. Eine weitere Umsetzung führt dann zu dem leicht bläulich roten Eosin.

Halogenierte Kohlenwasserstoffverbindung - und nichts anderes sind diese Farbstoffe - würde an jeder anderen Stelle als höchst bedenklicher Schadstoff gelten. Hier intensiviert man seinen Farbton, indem man ihn noch in einem anorganischen Stoff wie Aluminium verankert, der schon in Verdacht stand, die Entwicklung der Alzheimerkrankheit zu fördern und außerdem reizend und entzündungsfördernd wirkt.

Die Verbindung, die daraus entsteht, nennt man Farblack. Welche Farbe die damit in Kontakt gebrachten Lippen annehmen, wird dann durch eine chemische Reaktion mit den Hautproteinen bestimmt, die durch das Aluminium denaturiert werden und mit den Aminogruppen den Farbstoff binden. Auf diese Weise wird die Haut dauerhaft durchgefärbt.

Daß dies insgesamt den Lippen eher schadet als nutzt und sie außerdem austrocknet, sei dahingestellt, auch, daß dadurch wieder neue technologische bzw. propädeutische Feinheiten notwendig werden wie die Zugabe winziger Kügelchen, sogenannter Mikrosphären, die nicht nur die Struktur des Lippenstifts selbst verbessern sollen (er verschmiert dann weniger leicht), sondern pflegende und antioxidativ wirkende Stoffe wie Vitamin E, Folsäure und Fluorpolymere enthalten, die dann langsam freigesetzt werden. Fluorpolymere (ebenfalls halogenierte Plastiküberzüge) sind allerdings keine hautpflegenden Produkte, sondern sorgen nur dafür, daß die zuvor trockenen Lippen mit einem glatten, eleganten Überzug versehen werden, der sich gut anfühlt und außerdem verhindert, daß der Stift selbst in seiner Hülse kleben bleibt.

Perlmutartig schimmernde Farbnuancen enthalten schließlich noch die von der Raumfahrtindustrie entwickelte und angeblich völlig ungiftige Substanz Bornitrid, aus der man gewöhnlich Tiegel für geschmolzene Metalle herstellen kann, was sie nicht gerade sympathischer macht. Sie sorgt dafür, daß sich sämtliche Kosmetika, selbst bei sperrigen und unangenehmen Inhaltsstoffen, auf der Haut glatt und seidig anfühlen. Dazu sieht man jünger aus, weil die Struktur von Bornitrid Falten durch die Reflexion des Lichts verschwinden läßt. Lippen wirken deshalb, vor allem durch die durch Aluminium verursachten kleinen Entzündungen, drall, prall, glatt und rot.

All das vergrößert jedoch insgesamt die Abhängigkeit von derartigen Produkten sowie den Zwang, die Anwendung ständig zu wiederholen. Kurzum, dank seiner immanenten Chemie konnte sich der Lippenstift zum unverzichtbaren Accessoire entwickeln, und das trotz all seiner gesundheitsschädlichen Bestandteile. [Eine mögliche Alternative, die gesunde Lippen ohne chemische Kontamination verspricht, findet sich in diesem Pool unter dem Index "REZEPTUR/010: Großmutterns Lippenpomade - Hilfe bei spröden Lippen (SB)"]

27. Februar 2007