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LABOR/059: Ein Tannenbaum im Einweckglas (SB)


SCHABERNACK UND EXPERIMENTE FÜR HOBBYALCHIMISTEN

Ein Tannenbaum im Einweckglas

Substitutionsreaktion


Wenn die Tage kürzer wurden und sich der Aufenthalt im Freien durch die Wasseraufnahme-fähigkeit der Socken und Schuhe begrenzte, besuchte ich am liebsten meinen Großvater im Nachbarhaus. Eigentlich war er gar nicht mein Großvater. Er gehörte sozusagen meiner Freundin Sabine, aber alle Kinder in der Straße nannten ihn Großvater. Großvater war in seiner Jugend Soldat und Apotheker gewesen. Das Soldatsein hatte ihm eine Lunge gekostet und seine Haare schon sehr früh schlohweiß gefärbt. Seinen späteren Beruf hatte er mit Stolz und Liebe ausgefüllt, in einer Zeit, als Apotheker noch im Nebenberuf Chemiker waren und Salben, Tabletten und Hustensäfte in ihren Hexenküchen selbst herstellten. So ganz hatte er das Mischen und Erfinden nie lassen können, und das war es auch, was jeden Besuch bei ihm für uns Kinder so außerordentlich spannend machte. Er hatte eine Art Labor im Gartenhaus eingerichtet, wo er aus den Flaschenhalshüllen von Weinflaschen kleine Barren aus Zinn herstellte, uns zeigte wie man aus Rotkohl oder Beeren Farbstoff gewann und ihn mit Essig in eine andere Farbe umwandelte.

Großvater war auch im Gegensatz zu allen anderen Erwachsenen eine große Hilfe bei den Schularbeiten, vor allem natürlich für den Chemieunterricht. Er konnte einem erklären, wie die Bilder beim Photographieren entstehen oder was eigentlich in der Zahnpastatube drin ist, ohne daß es einem dabei gähnend langweilig wurde. Und aus jeder dieser Antworten entstand eine spannende Geschichte, während er einzelne Zutaten aus seinen unzähligen Fläschchen und Tiegeln zu einem Experiment, einem Scherzartikel oder der fraglichen Paste zusammenrührte.

Bei Großvater konnte man aber auch einfach nur auf seiner Bank sitzen, von ihm hergestellte gebrannte Mandeln kauen, die unermüdlich aus einem alten Dragierkessel hervorkamen und über die eigentlich wichtigen Dinge sprechen.

So erinnere ich mich beispielsweise an ein Gespräch, das wir über das Abholzen von Tannenbäumen führten. Meine Freundin Sabine und ich waren uns eigentlich einig, daß man keine Bäume sinnlos fällen dürfte, nur um damit ein Wohnzimmer weihnachtlich zu schmücken, schließlich war ein Baum ja auch ein Lebewesen. Ich war jedoch zwiegespalten. Was war denn Weihnachten ohne einen prächtig geschmückten Tannenbaum überhaupt? Während wir beinahe in einen sinnlosen Streit gerieten, denn auch bei der einzig möglichen Alternative, einen Baum mit Wurzelballen im Zimmer zu schmücken, konnten wir auf keinen Kompromiß kommen, bereitete Großvater in seinem kleinen Laborofen Bratäpfel für uns zu, und kniff und knickte an irgendwelchen Kupferdrähten. Schließlich meinte er, daß man für den schönsten Tannenbaum der Welt überhaupt keinen lebenden Baum opfern müsse und das würde er uns beweisen, wenn wir in einer Woche wiederkommen würden. Inzwischen hatte er aus den Kupferdrahtstücken etwas geformt, das wie das lächerlich häßliche Skelett eines abgenadelten Tannenbaums aussah.

Das eine Ende des Kupferskeletts war zu einer Öse gedreht, mit der man das "Bäumchen" auf eine gerade Standfläche setzen konnte. Dann nahm er ein großes Becherglas, es mag auch ein Einweckglas gewesen sein, goß eine klare Flüssigkeit hinein, würzte das ganze noch mit einigen Salzkristallen, die sich in der Flüssigkeit lösten, und tauchte schließlich das Bäumchen hinein.

Wir fühlten uns nicht ganz ernst genommen. Er wollte uns also irgendwie mit einem krumpeligen, selbstgebastelten Miniaturbäumchen abspeisen, und vermuteten, daß er es wohl - damit es auch schön grün aussehe - mit einer Schicht Grünspan überziehen würde. Schließlich kannten wir ja schon einige von Großvaters Experimenten. Aber inzwischen waren wir schon keine kleinen Kinder mehr. Trotzdem kamen wir immer wieder und schon wenige Tage danach war der Kupferdraht nicht mehr kupferfarben, sondern silberweiß. Auf dem Drahtbaum hatten sich winzigkleine Kristalle gebildet. Ein paar Wochen später war das Wunder komplett. Es war gerade ein besonders grauer und regennasser Tag und Großvater nahm das Einweckglas, das er an einen dunklen Platz in sein Regal gestellt hatte herunter, um es uns zu zeigen:

In einer azurblauen Lösung stand der prächtigste kleine Tannenbaum, den man sich vorstellen konnte von der Spitze bis zum Stamm eingehüllt in langen, silbern glitzernden Nadeln.

Silberbaum-Experiment:

Geräte:
- Einweckglas / großes Becherglas
- Kupferdraht

Chemikalien/Stoffe:
- Wasser
- Silbernitratlösung oder
- 25 g festes Silbernitrat (Höllenstein)


Zunächst wird der Kupferdraht in die Form eines Baumes gebogen. Entweder verwendet man etwa einen halben Liter Silbernitratlösung oder löst 25 g Silbernitrat (Höllenstein) in einem halben Liter Wasser auf. In der Geschichte gibt der Großvater zu einer fertigen Lösung noch etwas festes Silbernitrat in Kristallform hinzu, das ist jedoch nicht unbedingt nötig. Es bietet sich jedoch an, wenn die Flüssigkeit sehr schnell verdunstet und ein Teil des Baumes aus der Lösung aufzutauchen droht. Dann gibt man einfach etwas Wasser und ein paar zusätzliche Kristalle hinzu. Ist die Lösung fertig wird das Kupferbäumchen eingetaucht und dann einfach an einem ruhigen Platz stehen gelassen, bis sich ausreichend Nadeln gebildet haben.

Soll das Bäumchen aus seinem azurblauen Naß befreit werden, muß man sehr vorsichtig zu Werke gehen, damit die kostbaren Silbernadeln nicht abbrechen. Es empfiehlt sich das Bäumchen auf einem wasserfesten, chemikalienresistenten Tablett vorsichtig mit reinem Wasser abzusprühen (Spraynebel verwenden, kein fließendes Wasser), um Reste der Kupfernitratlösung zu entfernen und es vollständig trocknen zu lassen, ehe man es zu Dekorationszwecken aufstellt.


*


Erklärung:

Der Chemiker nennt das, was in diesem Experiment passiert, eine Substitutionsreaktion. Wenn Kupferdraht in eine Silbernitratlösung gebracht wird, wird elementares, metallisches Silber aus der Lösung ausgefällt und bildet schöne Kristalle, die sich am Kupferdraht anlagern. Dafür lösen sich aus dem Draht Kupferionen, die die Silberionen ersetzen und mit den Anionen der Lösung eine Kupfernitratlösung bilden. Je mehr Silber aus der Lösung ausgetauscht wird, um so blauer wird die Lösung, denn Kupferverbindungen sind fast immer blau.


Die chemische Gleichung für die Reaktion lautet:

Cu + 2 AgNO3
−−−−−−>
Cu (NO3)2 + 2 Ag

Es ist eigentlich auch eine RedOx-Reaktion, denn um die Stelle des Silbers einzunehmen, muß Kupfer erst zwei Elektronen abgeben und zum Cu(2+)-Ion werden, umgekehrt nehmen zwei Silberionen (Ag+) die beiden Elektronen auf und werden zu elementarem Silber reduziert. Warum Silber in der Konkurrenz mit Kupfer immer dasjenige ist, das die metallische, elementare, letztlich reduzierte Form einnimmt, ist ein Rätsel, das jedoch als Stoffeigenschaft des sogenannten "edleren" Metalls unhinterfragt hingenommen wird. Die seltsame Eigenschaft von zwei verschiedenen Metallen, sich gegenseitig zu chemischen Reaktionen anzuregen, wird in der Chemie, physikalischen Chemie und Technik in vielen praktischen Anwendungen ausgenutzt (aus dem Haushalt kennen wir Batterien, Akkus, Galvanisierung usw.).

Erstveröffentlichung 2002

28. Dezember 2007