Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → BOTANIK

BERICHT/032: Zum 150. Todestag von Jacob Friedrich Seidel (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 5 vom 16. März 2010

Der "Kamellien-Seidel" war geschickt und originell
Zum 150. Todestag von Jacob Friedrich Seidel (1789-1860)

Von Marion und Matthias Riedel


Jacob Friedrich Seidel gründete 1813 eine Zierpflanzen-Erwerbsgärtnerei in Dresden und damit die erste Spezialgärtnerei des deutschen Zierpflanzenbaus überhaupt. Sie war der Grundstein für das später so berühmte "Sächsische Anbaugebiet". Weitsichtig erkannte Seidel den gärtnerischen Wert der Kamelie und entwickelte diese zur ersten Spezialkultur des deutschen Zierpflanzenbaus. Später folgten Azaleen und Rhododendren und bildeten gemeinsam die "Sächsischen Moorbeetkulturen". Durch sein Geschick und seine "märchenhafte Originalität" baute Seidel ein Weltimperium der Kamelien auf. Dabei ist einer seiner größten Verdienste die Erschließung der Exportmärkte, vor allem Russlands, für den deutschen Gartenbau.

Jacob Friedrich Seidel kam am 4. Oktober 1789 als jüngstes von zehn Kindern in Dresden zur Welt. Sein Vater, Johann Heinrich Seidel, war seit 1778 als churfürstlicher und ab 1806 als königlicher Hofgärtner im Herzogingarten tätig. Er trug bis 1806 rund 4.300 verschiedene Pflanzen zusammen und besaß damit eine der größten Pflanzensammlungen Europas. Ein großes Verdienst waren auch seine herausgegebenen Kataloge. Im "Verzeichnis derer Pflanzen, welche im Churfürstlichen Orangengarten Dresden beim Hofgärtner Seidel zum ersten Male geblüht haben", taucht 1792 auch eine "Camellia japonica" auf. Seit dieser Zeit könnte Jacob Friedrich Seidel also die für ihn schicksalhafte Blume kennen, zumal sein Vater bereits 1807 seinen großen Kamelienbestand durch Verkauf verkleinerte.

Vermutlich teilweise ins Reich der Fantasie gehört folgende Geschichte, die mit Jacob Friedrich Seidels Namen und der Gründung seiner ersten Gärtnerei verbunden ist: Seidel begab sich 1810 zur Ausbildung nach Paris und arbeitete dort im Botanischen Garten. Im Jahr 1812 soll er sich notgedrungen den Truppen Napoleons angeschlossen haben, die gen Russland zogen. Seidel desertierte im Frühjahr 1813 und floh nach Dresden - und hatte im Rucksack zwischen Kartoffeln auch drei Kamelienpflanzen bei sich, die den Grundstock für die spätere Kamelienproduktion seiner Gärtnerei bildeten. Da Seidel jedoch Nachforschungen zufolge Paris als Zivilist verlassen hat, war der Transport der Kamelien nach Dresden vielleicht nicht ganz so abenteuerlich.

Möglicherweise griffen Jacob Friedrich Seidel und sein Bruder Traugott Leberecht Seidel (1775-1858) jedoch auf die Kamelienbestände des Vaters zurück, als sie am 24. Juni 1813 auf einem Pachtgrundstück in der Kleinen Plauenschen Gasse in Dresden ihre erste Gärtnerei eröffneten. Angaben darüber, wie lange beide Brüder zusammenarbeiteten, schwanken. Manche Quellen geben das Jahr 1818 als Trennungsjahr an, da Jacob Friedrich Seidel allein 1819 auf der Äußeren Rampischen Gasse ein rund ein Hektar großes Grundstück für seine Gärtnerei erwarb, das er später durch Zukäufe kontinuierlich vergrößerte. Andere Quellen nennen 1825, da Traugott Leberecht Seidel zu der Zeit nach Wien übersiedelte und dort mit Kamelien handelte. Fest steht, dass die Gründung der Gärtnerei 1813 den Grundstein für den Dresdner und sogar sächsischen Gartenbau legte. Anfangs gab es eine Vielzahl verschiedener Pflanzen, viele Neuholländer, Orchideen, aber auch Gemüse, die die Seidel-Brüder kultivierten und handelten. Besondere Bedeutung hatte jedoch zunehmend die Kamelie, die Seidel seit 1813 produzierte und die sich ab 1818 zu der Spezialkultur des Betriebes und damit zur ersten Spezialkultur des deutschen Zierpflanzenbaus (unter Glas) überhaupt entwickelte. Seidel leitete damit nicht zuletzt auch die Ablösung der bis dahin üblichen "Hof- und Liebhabergärtnereien" durch die sogenannten "Kunst- und Handelsgärtnereien", das heißt Erwerbsgärtnereien, ein.

Seit 1818 wuchs die Kamelienproduktion bei Jacob Friedrich Seidel stetig, wobei sich die Pflanzen in ausgezeichnetem Zustand befanden. Dies wurde nicht zuletzt beim Besuch des Großherzogs von Sachsen-Weimar, Carl August, deutlich, der mit seinem Freund und Minister Johann Wolfgang von Goethe am 2. Juni 1827 in Dresden weilte. Goethe war bereits mit Jacob Friedrich Seidels Vater bekannt und verfolgte offensichtlich die Entwicklung der Gärtnerei und besprach diese mit seinem Dienstherrn. Carl August, unglücklich darüber, dass seine Kamelien im Weimarer Belvedere so schlecht gediehen, sah nun den hervorragenden Kulturzustand von Jacob Friedrich Seidels Pflanzen und schrieb einen wütenden Brief an seine Gärtner nach Weimar. "Nachdem ich gestern den Wald von Camellien bey Seydeln hier gesehen habe, so bin ich überzeugt worden, daß sämtliche Gärtner in Belvedere auch nicht den geringsten Begriff von Zucht und Vermehrungsart dieser prächtigen Pflanzen besitzen", ereiferte er sich. Der hohe Herr bedachte dabei jedoch nicht, dass Kalk für Kamelien nicht zuträglich ist, jedoch in Weimar Boden und Gießwasser kalkhaltig sind - die Gärtner traf so nur eine geringe Schuld.

Wie entwickelte sich nun die Kamelienproduktion bei Jacob Friedrich Seidel? Im Jahr 1824 führte er 19 Sorten. Seidel selbst schrieb 1837, dass er seit 1810, also schon seit seiner Zeit im Jardin des Plantes in Paris, Kamelien "mit dem glücklichsten Erfolge" kultiviere. Im Jahre 1830 spricht er bereits von 50 Sorten und Varietäten. Wenige Jahre später, 1836, sind dann schon 308 Sorten im Seidelschen Bestand. Er schreibt von 40.000 Exemplaren Bestand bei einem Bedarf von jährlich 10.000 bis 15.000 Exemplaren. Zehn Jahre später führte Seidel 540 Sorten. Die größte Sortenzahl erreichte sein Sortiment vor 1862 mit unglaublichen 1100 Sorten, bevor der Bestand auf 500 Sorten verringert wurde. Auch andere Gärtner folgten in dieser Zeit Seidels Beispiel, sodass sich Dresden um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum führenden Anbauzentrum für Kamelien in Europa entwickelte.

Vor allem in den Anfangsjahren, als der Adel und andere potente Kunden überwiegend die Käufer waren, musste zunächst ein Vollsortiment aufgebaut werden. Die Vielzahl der ständig neu erscheinenden Sorten war sehr unübersichtlich. Daher begann Seidel, alle in langer Reihe im Glashaus aufzupflanzen. So konnte er nicht nur Doppelbenennungen ausschließen, sondern vielmehr auch Eigenschaften prüfen und der Kundschaft Musterpflanzen vorführen. Mit zunehmender Massenproduktion und bürgerlichen Kaufinteressenten verringerte sich die Sortenzahl zusehends zu Spezialsortimenten. Die jährlich produzierten Stückzahlen überschritten 1842 bereits die 100 000, 1849 schon 136 000. Die Produktion ganzer "Kamelienwälder" war nur durch die intensive Anwendung der Stecklingsvermehrung möglich. Jacob Friedrich Seidel nutzte diese Methode von Anfang an und berichtete 1848, dass sich "die Behandlung der letzteren seit dem Jahre 1813, in welchem ich mich hier etablierte, sich nicht wesentlich geändert" habe. Seine damaligen Empfehlungen und Methoden sind auch heute noch voll gültig.

Wichtig für die Ausdehnung der Massenproduktion war auch die Erfindung des "Japans". Kamelien können bei wenigen Plusgraden gut überwintert werden. Um dafür nicht teure Gewächshausanlagen bauen zu müssen, ließ Seidel tiefe Erdkästen ausheben. Diese wurden im Winter mit Brettern und Laub überdeckt und bedurften nur geringer Heizung. Als Seidel einem gerade aus Japan zurückgekehrten Bekannten die darin untergebrachten großen Mengen Kamelien zeigte, meinte dieser: "Es ist ja wie in Japan". So bekamen die Kästen, die bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem sächsischen Zierpflanzenbau und den Baumschulen nicht wegzudenken waren, ihren Namen. Unklar in den Quellen ist allerdings, ob schon Jacob Friedrich oder erst Herrmann Seidel diese erfand. So, wie die produzierten Stückzahlen wuchsen, so mussten auch die Absatzmöglichkeiten organisiert werden. Schon bald reichten dafür der Dresdner, der sächsische und auch der deutsche Markt nicht mehr aus. Im Jahr 1836 spricht Seidel bereits von Exporten unter anderem nach Österreich, Ungarn, Polen und Russland und erwähnt sogar Odessa als fernes Ziel. Im Jahr 1834 reiste Seidel selbst mit Pferdefuhrwerk und Dampfschiff nach Petersburg. Seine Ladung waren 5000 Kamelien, die er für 130 bis 150 Taler pro Stück verkaufte. Der russische Markt war noch bis zum Ersten Weltkrieg das wohl größte Absatzgebiet der Seidelschen Gärtnerei. So kam es zu der pflanzengeschichtlichen Besonderheit, dass die ostasiatische Gattung Camellia ihren Weg nach Westasien über die deutsche Gärtnerei Seidel fand.

Die enorme Kamelien-Produktion bedurfte des Absatzes weltweit. Angeregt wurde er auch durch werbeträchtige Schaustellungen der Pflanzen - spätestens seit März 1839 lud Seidel zur Besichtigung des "hervorragend schönen Camellien-Flors" ein. Bereits 1851 fand diese in der "Chronik des Gartenwesens" lobende Erwähnung: "Die großartigste Ouvertüre für den Frühling ist in Dresden seit einer Reihe von Jahren die Camellienausstellung des Herrn Seidel". Im Jahre 1852 baute Jacob Friedrich Seidel ein großes Schauhaus auf der Rampischen Gasse, in dem er eine landschaftlich gestaltete Schauanlage für Kamelien pflanzte. Zum Weltruf der Dresdner Kamelien trugen auch zahlreiche in- und ausländische Ausstellungen bei. Jacob Friedrich Seidel war unter anderem Mitglied der 1826 gegründeten Gartenbaugesellschaft "Flora", die auch Ausstellungen veranstaltet. Die erste Ausstellung blühender Pflanzen fand im Mai 1829, auch unter Beteiligung Jacob Friedrich Seidels, im Palais im Großen Garten statt. Aus dieser frühen Ausstellungstätigkeit erwuchsen später die drei großen Internationalen Gartenbauausstellungen in Dresden 1887, 1896 und 1907, die in hohem Maße unter Federführung des Sohnes Herrmann Seidel und der Enkel Rudolf und Heinrich standen. Wie sehr sich im Ausland Dresden als Stadt der Kamelien einprägte, wird auf makabre Weise an folgender Nachricht des Senders "Calais" deutlich: "Achtung, Achtung, Dresden! Johann (vermutlich der Hofgärtner Seidel, d. kauft Kamelien." Mit diesem Spruch wurden in Dresden lebende Ausländer aufgefordert, die Stadt vor den Bombenangriffen des 13. Februar 1945 zu verlassen.

Betrachten wir Lebenswerk und Wirkungen des am 13. April 1860 verstorbenen Jacob Friedrich Seidel bis zum heutigen Tag, so war er die herausragendste Gärtnergestalt Deutschlands im 19. Jahrhundert. Im weitesten Sinne können wir durchaus die vorhergehende Generation, den Hofgärtner, wie auch die beiden nachfolgenden Generationen, dazurechnen. Das Gesamtwerk der Seidel-Gärtner begann in einer Zeit, in der sich die sächsischen Herrscher der Botanik, dem Gärtnerischen und auch dem Fernöstlichen verbunden fühlten und so das nötige Umfeld schufen. Die Seidels lebten vor fast 200 Jahren als selbstverständliche Europäer, ja Weltbürger. Weltkriege und Diktaturen haben jedoch eine weitere Entwicklung nicht zugelassen und Kreativität und Unternehmertum im Keim erstickt.

Noch heute kann in den Botanischen Sammlungen der TU Dresden, Landschloss Pirna-Zuschendorf, eine üppige Blütenpracht Seidelscher Kamelien bestaunt werden. Die Seidelsche Kameliensammlung - ein historisch bedeutsamer Ausschnitt aus der Kamelienzüchtung und Produktionsgeschichte in Sachsen - steht seit 1993 unter Denkmalschutz. Nicht nur die hiesigen Gärtner verdienen dank "Kamellien-Seidel" heute ihr Brot mit seinen Pflanzen. Ob er das wohl geahnt hat?


*


Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 5 vom 16.03.2010, S. 4
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
Telefon: 0351/463-328 82
Telefax: 0351/463-371 65
E-Mail: uj@tu-dresden.de
Internet: www.tu-dresden.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2010