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ZOOLOGIE/1014: Heuschrecken - Überleben unter Kannibalen (MPG)


Max-Planck-Gesellschaft - 14. September 2012

EVOLUTIONSBIOLOGIE | KOMPLEXE SYSTEME | VERHALTENSBIOLOGIE

Überleben unter Kannibalen

Heuschrecken bewegen sich in Schwärmen, damit sich ihre Populationen nicht selbst ausrotten



Heuschreckenplagen könnten sich künftig besser bekämpfen lassen. Denn ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme hat weitere Details geklärt, wie die eigentlich als Einzelgänger lebenden Insekten Schwärme bilden. Vor allem in Afrika vernichten die Heuschreckenmassen immer wieder große Teile der Ernte. Wie die Arbeitsgruppe in einer Computersimulation herausgefunden hat, führt der unter Heuschrecken übliche Kannibalismus dazu, dass Heuschrecken ab einer bestimmten Populationsdichte in Schwärmen über das Land ziehen. Dieser Verhaltenswechsel hält das Risiko des Kannibalismus nämlich auch im dichten Gedränge möglichst gering. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sich die Schwärme erst bei einer sehr niedrigen Heuschreckendichte wieder auflösen - viel niedriger jedenfalls als die, bei der sie sich bilden. Diese Erkenntnis könnte helfen, die Bildung von Heuschreckenschwärmen frühzeitig zu verhindern.

Foto: © Gregory Sword

Heuschrecken verändern mit steigender Populationsdichte ihre Farbe von grün zu gelb-braun. Außerdem legen sie ein völlig anderes Verhalten an den Tag: Aus Einzelgängern werden Schwärmer. Die Heuschrecken folgen den Artgenossen, die sich von ihnen entfernen, und fliehen vor denen, die sich auf sie zu bewegen. Das führt zu einer kollektiven Bewegung im Schwarm. So verringern sie das Risiko des Kannibalismus.
Foto: © Gregory Sword

Kannibalismus ist ein weit verbreitetes Phänomen im Tierreich. Auch bei den Heuschrecken lauert der Feind in den eigenen Reihen. Aus dem Grund gehen sie sich möglichst aus dem Weg und verteilen sich auf der Suche nach Nahrung weitläufig über das Land. Müssen die Tiere aber näher zusammenrücken, weil das Nahrungsangebot knapp wird, dann nimmt auch das Risiko, von einem Artgenossen gefressen zu werden, zu. Sobald die Populationsdichte einen kritischen Wert überschreitet, bilden die Heuschrecken die verheerenden Schwärme. Die aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für Physik komplexer Systeme in Zusammenarbeit mit der Princeton University, dem Indian Institute of Science, der Texas A&M University und der University of Sydney trägt dazu bei, die Bildung der Schwärme in Zukunft zuverlässiger vorherzusagen und zu bekämpfen.

Die Heuschreckenschwärme entstehen, weil die Insekten ihr Verhalten drastisch ändern: Sie verwandeln sich von Einzelgängern zu Schwärmern, die sich kollektiv bewegen. So einen Wechsel in einem oder mehreren Merkmalen auf Grund von Umwelteinflüssen bezeichnen Biologen als Polyphenismus. Bei den Wüstenheuschrecken, sind die Unterschiede zwischen den beiden Typen so groß, dass man lange Zeit dachte es handele sich um zwei unterschiedliche Arten. Nicht zuletzt deshalb, weil die Einzelgänger grün sind und die Schwärmer gelb-braun gemustert.


Der Kannibalismus erklärt warum die Heuschrecken ihr Verhalten ändern

Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass Kannibalismus eine treibende Kraft der kollektiven Bewegung von Heuschrecken ist. Dabei beginnen bereits die jungen, noch nicht flugfähigen Insekten auf dem Boden sich aufeinander abgestimmt zu bewegen - ihr Verhalten ähnelt also schon dem eines Schwarms. Auf der Suche nach Nahrung setzt eine Art erzwungener Marsch ein. Sobald die Tiere fliegen können, setzen sie die kollektive Bewegung in der Luft fort. Insekten, die nicht mit dem Strom ziehen, haben eine höheres Risiko, von Artgenossen angegriffen und verspeist zu werden. Die geordnete Bewegung der Gruppe sichert so das Überleben der Heuschrecken.

Der Kannibalismus ist aber nicht nur ein Schlüsselfaktor für die Schwarmbewegung, sondern liefert darüber hinaus eine Erklärung, warum die Heuschrecken diesen Polyphenismus in der Evolution überhaupt erst entwickelt haben. Das hat ein Team aus Biologen, theoretischen Ökologen und Physikern in ihrer aktuellen Studie gezeigt. Die Wissenschaftler konzipierten ein Computermodell, das die Bewegung der Heuschrecken simuliert. Sie schufen dafür eine fiktive Heuschreckenpopulation, deren Individuen zu Beginn verschiedene Bewegungsstrategien verfolgen können. Anschließend haben die Forscher die unterschiedlichen Verhaltenweisen im Computer gegeneinander antreten lassen um mit Hilfe eines so genannten Evolutionären Algorithmus die beste Strategie zu finden um direkte Kontakte mit Artgenossen, und somit das Risiko von Kannibalismus, zu minimieren. "Wichtig ist dabei, dass wir unseren Heuschrecken nicht vorschreiben, wie sie sich bewegen", sagt Pawel Romanczuk, einer der Autoren der Studie vom Dresdener Max-Planck-Institut. "Denn dann hätten wir lediglich unsere heutigen Beobachtungen in Formeln ausgedrückt."


Die kollektive Bewegung sichert das Überleben der Art

Anhand dieses Modells fanden die Forscher heraus, welches Bewegungsmuster optimal ist, um das Kannibalismus-Risiko bei steigender Populationsdichte möglichst gering zu halten und damit das Überleben der Art zu sichern. Bei nur wenigen Insekten pro Quadratmeter sollten sie sich möglichst aus dem Weg gehen und als Einzelgänger unterwegs sein. Ab einer bestimmten Populationsdichte allerdings geben die Heuschrecken ihr distanziertes Verhalten dem Modell zufolge auf und werden geselliger, um ihr Überleben zu sichern. Im Schwarm erweist sich als beste Strategie für jedes Individuum, den Artgenossen zu folgen, die sich von ihm entfernen, und vor denen zu fliehen, die sich auf es zu bewegen. Dadurch entsteht die kollektive Bewegung. Die Heuschrecken rücken im Schwarm insgesamt zwar näher zusammen, durch das kollektive Verhalten verhindern sie jedoch einen direkten Kontakt. Genau diesen Wechsel des Verhaltens beobachtet man in der Natur.

Neben dieser grundlegenden Erkenntnis brachte die Studie auch ein Ergebnis mit möglicherweise praktischem Nutzen: Die Heuschrecken verfügen über eine Art Gedächtnis. Denn sobald die Heuschreckendichte abnimmt, verhalten sie sich wieder wie Einzelgänger und gehen sich großräumig aus dem Weg. Wie die Simulation von Pawel Romanczuk und seinen Kollegen zeigte, liegt der Schwellenwert für diesen Verhaltenswechsel jedoch viel niedriger als der für die Schwarmbildung. "Um einen bereits existierenden Schwarm wieder aufzulösen, muss man die Heuschrecken also sehr stark dezimieren", sagt Romanczuk. Heute werden meist erst die zerstörerischen Schwärme bekämpft. "Es ist aber sinnvoll, die Heuschrecken-Population schon vorher klein zu halten, sodass sich erst gar keine Schwärme bilden." Das würde Mensch und Umwelt auch mit weniger Pestiziden belasten.
SB/PH


Originalveröffentlichung
Vishwesha Guttal, Pawel Romanczuk, Stephen J. Simpson, Gregory A. Sword, Iain D. Couzin
Cannibalism can drive the evolution of behavioural phase polyphenism in locusts
Ecology Letters, 8. August 2012; DOI: 10.1111/j.1461-0248.2012.01840.x

Ansprechpartner
Dr. Pawel Romanczuk
Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme, Dresden
Email: prom@pks.mpg.de

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Quelle:
MPG - Presseinformation vom 14. September 2012
Herausgeber:
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2012