Schattenblick → INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → BIOLOGIE


ORNITHOLOGIE/361: Der Singvogel mit dem Falkenzahn - Raubwürger in der Rhön (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2016

Der Singvogel mit dem Falkenzahn: Raubwürger in der Rhön

von Daniel Scheffler


Der größte unserer heimischen Würger, der Raubwürger (Lanius excubitor), hat zugegebenermaßen einen eher unvorteilhaften Namen abbekommen. Diese Singvogelart mit dem reizenden Gesang und der laut Tiervater Brehm ebenso großen Kühnheit wie auch Dreistigkeit ist nicht nur eine äußerst interessante Art, sondern auch ein ausgezeichneter Anzeiger für reich strukturierte und artenreiche Kulturlandschaften. Ebenso wie bei vielen anderen Arten des Offenlandes sind in den letzten Jahren dramatische Bestandseinbrüche in Mitteleuropa zu verzeichnen und auch bei den europaweiten Beständen des Raubwürgers gibt es zum Teil dramatische Bestandseinbrüche.

*

Die amselgroßen Raubwürger sind an ihrer schwarz-weiß-grauen Färbung, dem langen Stoß und der charakteristischen schwarzen Gesichtsmaske leicht zu erkennen. Charakteristisch ist zudem der für einen Singvogel ungewöhnliche, falkenähnliche Schnabel mit zusätzlicher Einkerbung - dem sogenannten "Falkenzahn". Wissenschaftlicher wie auch deutscher Name beziehen sich auf seine eher ungewöhnliche Lebensweise. So bedeutet "Lanius" im Lateinischen so viel wie Fleischer oder Schlächter. Damit wird auf die Eigenschaft des Vogels hingewiesen, Nahrungsreste auf Dornen aufzuspießen oder in Astgabeln einzuklemmen, um sie so besser zerteilen zu können. Das lateinische "excubitor", was so viel heißt wie Wächter, bezieht sich auf das bevorzugte Sitzen der Art auf übersichtlichen Warten, die ein rasches Erkennen von Feinden ermöglichen. Die mittelalterlichen Falkoniere nutzten Raubwürger daher gerne als "Wächter", der ihnen beim Falkenfang die Annäherung eines Greifvogels anzeigte. Der deutsche Name "Raubwürger" dürfte ebenso auf seine räuberische Lebensweise hinweisen, denn in Zweigen eingeklemmte Beutetiere wirken manchmal wie erwürgt.

Der bevorzugte Lebensraum des Raubwürgers sind halboffene Landschaften mit einem reichen Angebot an niedrigen Büschen und einzelnen höheren Warten, die durch ein Mosaik an Kleinstrukturen wie Steinriegeln, Baumreihen, Hecken, Sumpfflächen und Brachestreifen gekennzeichnet sind und ebenso Teilbereiche mit spärlicher und niedriger Vegetation für die Bodenjagd aufweisen. Im Nahrungsspektrum des Raubwürgers finden sich Insekten und Spinnen, aber auch kleine Wirbeltiere. In der Wirbeltierbeute dominieren Kleinsäuger, die während der Wintermonate den Hauptteil der Beute ausmachen. Reptilien (vor allem Eidechsen) werden hauptsächlich im Frühjahr und bis zu starengroße Vögel bevorzugt zur Zeit der Jungenaufzucht im Juni erbeutet. Hierbei ist die Zahl erbeuteter Jungvögel deutlich höher als die adulter Vögel. Im Frühjahr und Spätsommer besteht die Nahrung dann hauptsächlich aus Insekten, von denen Laufkäfer und Hummeln den individuenreichsten Teil ausmachen.

Rapider Rückgang

Obgleich die Bestandszahlen in einigen Ländern, wie zum Beispiel Polen und Rumänien, positive Bestandstrends aufweisen, attestiert BirdLife International dem Raubwürger europaweit einen negativen Trend mit Abnahmen von 30 bis 49% innerhalb der letzten zwölf Jahre. Vor allem in West- und Nordwesteuropa gehen die Bestände dramatisch zurück. Hier scheint die Intensivierung der Landwirtschaft mit den einhergehenden Lebensraumzerstörungen einer der Hauptgründe zu sein. So verschwand die Art seit Anfang der 1980er Jahre aus mehreren Ländern als Brutvogel, zum Beispiel aus der Schweiz (1986) und aus den Niederlanden (2002). In Österreich kämpfen die letzten fünf Brutpaare gegenwärtig um den Fortbestand der Art. In weiten Teilen Deutschlands sieht es nicht viel besser aus. Während der Bestand des Raubwürgers in Brandenburg als stabil gilt und dort sogar ein positiver Bestandstrend zu verzeichnen ist, sieht dies in den anderen Bundesländern deutlich schlechter aus. Bei einer nur relativ geringen Bestandsabnahme von circa 20% in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt gelten die in den dortigen Roten Listen als "gefährdet" eingestuften Vorkommen zusammen mit denen in Brandenburg als die letzten Regionen Deutschlands, in denen es um den Raubwürger noch nicht ganz so schlecht bestellt ist. In allen anderen Bundesländern wird die Art als "vom Aussterben bedroht" geführt oder ist bereits ausgestorben, so zum Beispiel in Hamburg (seit 1970) oder aktuell höchstwahrscheinlich in Baden-Württemberg, wo in den letzten Jahren keine Bruten mehr nachgewiesen wurden.

Lebensraumverbesserung auch für den Raubwürger von Vorteil

Konnte in Bayern schon in den Jahren 1975 bis 1999 ein Rückgang von etwa 50% festgestellt werden, so ist die Anzahl der Brutpaare zwischen 1999 und 2015 noch einmal um mehr als 80% zurückgegangen. Lediglich in der Rhön und im benachbarten Grabfeldgau kann man noch von einem bayernweiten Verbreitungsschwerpunkt sprechen. Dieser befindet sich in direkter Nachbarschaft zu den Vorkommen in Hessen und Thüringen und profitiert sicherlich vom Austausch mit den dortigen Vorkommen. Während im Grabfeldgau, einer größtenteils ackerbaulich geprägten fränkischen Gäulandschaft, die letzten vereinzelten Brutvorkommen im Bereich des "Grünen Bandes" in direkter Nachbarschaft zu Thüringen liegen, beherbergt den größten Teil der bayerischen Population das Naturschutzgebiet "Lange Rhön" in den Höhenlagen der Rhön, welches neben bayernweit bedeutsamen Brutbeständen von Wiesenpieper, Braunkehlchen und Bekassine auch mit einem der wenigen außeralpinen Birkhuhnvorkommen Süddeutschlands aufwarten kann. Hier konnten in den letzten Jahren noch regelmäßig sechs bis acht Raubwürgerpaare auf einer Fläche von circa 35 km² nachgewiesen werden. Die Art findet sich in extensiv beweideten oder einschürigen Borstgrasrasen und Goldhaferwiesen, mit Ansitzwarten in Form von einzelnen Bäumen und Gebüschgruppen, sowie zahlreichen Kleinstrukturen wie hochstaudenreichen Vernässungsflächen, Lesesteinhaufen sowie stehendem und liegendem Totholz im Bereich kleinflächiger Fichtenräumungen oder Windwurffläche. Vor allem die kleinflächigen Fichtenräumungen, welche im Rahmen der Lebensraum optimierenden Maßnahmen für das Birkhuhn in den letzten Jahren in der Langen Rhön zahlreich entstanden, scheinen dem Raubwürger ideale Lebensbedingungen zu bieten. So war an jedem der 22 in den letzten drei Jahren nachgewiesenen Brutstandorte des Raubwürgers in den Höhenlagen der Rhön eine kürzlich geräumte Fichtenfläche wesentlicher Bestandteil des Revierzentrums. Diese kleinen, totholzreichen Schlagflächen scheinen aufgrund ihrer Strukturvielfalt und der besonders günstigen kleinklimatischen Verhältnisse im Bereich des Totholzes besonders attraktiv für die Art und deren bevorzugte Beutetiere. So erfolgt beispielsweise die Ausaperung, das Abschmelzen der Schnee- und Eisdecke, an Totholzstandorten im Vergleich zum Umfeld etwa zwei Wochen früher und bietet so bereits im zeitigen Frühjahr zum Brutbeginn der Raubwürger optimale Jagdbedingungen auf die gerade aus der Winterruhe erwachten und noch wenig agilen Bergeidechsen, welche sich hier bevorzugt sonnen. Regelmäßige Brutvorkommen von Wendehals, Schwarzkehlchen und Gartenrotschwanz in diesen Bereichen in Höhenlagen von über 800 m über NN zeugen ebenfalls vom hohen Artenreichtum auf diesen Flächen.

Um zu verhindern, dass dem Raubwürger nach Schwarzstirn- und Rotkopfwürger der zweifelhafte Titel der dritten in Bayern ausgestorbenen Würgerart zuteil wird, erscheinen zahlreiche Maßnahmen zum Erhalt der Art dringend erforderlich. Wichtigste Maßnahme ist die Sicherung und Wiederherstellung intakter Brutlebensräume, die nur durch den großflächigen Erhalt extensiv genutzter und reich strukturierter Kulturlandschaften erzielt werden kann. Flankierende Maßnahmen wie Anpflanzung von Gebüschen und Einzelbäumen, Wiedervernässung von Feuchtwiesen und Mooren, extensive Beweidung, Anlage von Steinriegeln, Erhalt unbefestigter Wege und Böschungen und der Verzicht auf Aufforstungen auf Windwurfflächen in den Hochlagen würden nicht nur dem Raubwürger als stellvertretender Leitart für viele andere bedrohte Arten des Offenlandes zugutekommen.


Daniel Scheffler ist Koch und Arbeitstherapeut, nebenberuflicher Kartierer und Gutachter mit Schwerpunktbereich im Großvogelschutz sowie ehrenamtlicher Mitarbeiter im LBV.


Literatur zum Thema:

Rothaupt G 1992: Zur Situation des Raubwürgers (Lanius excubitor) in Bayern. Verhandlungen der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern 25, 1992: 151-167.

Grimm H 2009: Zur Biologie und Ökologie des Raubwürgers (Lanius excubitor) im Thüringer Becken und im Kyffhäuser-Unstrut-Kreis. Anzeiger des Vereins Thüringer Ornithologen 6, 2009: 271-286.

Sachslehner L 2008: Der Raubwürger in Österreich. Forschungsgemeinschaft Wilhelminenberg, Stockerau, 2008.

Laux D, Bernshausen F, Hormann M 2014: Artenhilfskonzept Raubwürger (Lanius excubitor) in Hessen. Gutachten im Auftrag der Staatlichen Vogelschutzwarte für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Stand: 04.08.2014. - Hungen.

*

Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2016
63. Jahrgang, Mai 2016, S. 14-15
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141, Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de
Internet: www.falke-journal.de
 
Erscheinungsweise: monatlich
Einzelheftpreis: 4,95 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 56,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang