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ORNITHOLOGIE/133: Der Buchfink von den Azoren (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2009

Häufig und doch wenig erforscht: Der Buchfink von den Azoren

Von Stephan Ernst und Jens Hering


Die meisten Vogelbeobachter, die heute die Azoren besuchen, jagen mit ihren Hightech-Spektiven und Digitalkameras den seltenen Irrgästen nach, die immer wieder auf die Inseln verdriftet werden. Niemand kommt auf den Gedanken, an einem so häufigen, allgegenwärtigen Vogel wie dem Buchfinken noch etwas Neues entdecken zu wollen. Doch obwohl er auf allen sieben Inseln der Azoren zu den häufigsten Vogelarten gehört, ist Vieles in seiner Biologie noch unbekannt.


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Wer als mitteleuropäischer Vogelkundler im Sommerhalbjahr zum ersten Mal auf die Azoren kommt, hört schon bald nach seiner Ankunft eine Vogelstimme, die er nicht gleich zuordnen kann. In der ersten Begeisterung vermutet er sogar, einer neuen Art zu begegnen. Bald aber entpuppt sich der Sänger als ein Buchfink. Der allerdings sieht im Vergleich zu unserem Buchfinken auf dem europäischen Festland recht merkwürdig aus. Da es ein Männchen im Prachtkleid ist, sind die Signalfarben voll entwickelt. Vor allem ein leuchtendes Hellviolett- bis Ultramarinblau zieht sich vom Scheitel über Mantel, Flügelbug und Schulter bis auf den Rücken und in einem schmalen Band vom Nacken bis in den Hals hinein. Sogar Unterbauch und Flanken sind bei diesem Männchen blau eingefärbt. Der Bürzel erscheint grünoliv. Die weißen Federspitzen der Mittleren und der Großen Armdecken ergeben einen großen weißen Schulter- oder Apikalfleck bzw. eine schmale weiße Flügelbinde. Kopfseiten, Kehle, Brust und Bauch sind hell-lachsfarben getönt. Auffällig sind ein weißer Überaugenstreif und ein ungewöhnlich großer stahlblauer Schnabel. Der Vogel ähnelt also in mancher Hinsicht dem blauen Buchfinken von La Palma (FALKE 48, 2001, H. 12).


Die Verwandten

Über die Verwandtschaft der Buchfinken auf den Atlantischen Inseln haben sich schon viele Forscher den Kopf zerbrochen, auch darüber, wie diese Inseln vom Festland aus besiedelt worden sind. Es lassen sich insgesamt drei Unterartengruppen unterscheiden. Während die Vögel der zwei Festlandsgruppen Fringilla c. coelebs in Eurasien und F. c. spodiogenys in Nordafrika ein riesiges Areal besiedeln, bewohnen jene der dritten Gruppe ein vergleichsweise kleines Gebiet auf den atlantischen Inseln. Diese dritte Gruppe ist in fünf Unterarten aufgespaltet, tintillon auf Teneriffa, Gran Canaria und Gomera, palmae auf La Palma, ombriosa auf El Hierro, maderensis auf Madeira und moreletti auf den Azoren. Die Vögel der Kanaren sind also stärker differenziert als die der Azoren. Nach DNA-Untersuchungen müssen die Vögel von der Iberischen Halbinsel aus zuerst auf die Azoren und danach auf Madeira und die Kanaren gelangt sein. Die Männchen aller Inselformen sind oberseits viel bläulicher und unterseits blasser gefärbt als jene des Festlandes. Sie sind durchschnittlich schwerer, haben längere Läufe und kräftigere Schnäbel. Als Standvögel besitzen sie kürzere und rundere Flügel. Auch in ihren Gesängen und Rufen unterscheiden sie sich beträchtlich.


Die Stimme des Azoren-Buchfinken

In seinem Gesang fällt vor allem ein lang gezogener, abfallender Endton auf, ähnlich wie z. B. "di-djuh". Sigrid Knecht und Ulrich Scheer haben auf fünf Inseln Gesänge und Rufe aufgenommen und analysiert. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass jedes Männchen über zwei bis sechs Strophentypen verfügte und auf jeder Insel in zahlreichen scharf abgegrenzten Gebieten je ein bestimmter Dialekttyp vorherrschte. Jeder Dialekt hatte sowohl einen Strophentyp, der mit dem gleichen Endschnörkel "di-djah" abschloss als auch andere Strophentypen, in denen dieser stark betont war oder noch weitere Elemente aufwies. In den Sonagrammen sind die für einen Buchfinkengesang typischen drei Phrasen klar erkennbar, wobei jedoch die dritte Phrase vom mitteleuropäischen Gesang stark abweicht. Die Azoren-Buchfinken erkannten jedoch den Gesang vom Festland auf vorgespielten Attrappen als arteigen und reagierten heftig darauf.

Auch der Sozialruf klingt auf den Azoren anders als in Mitteleuropa. Das typische "pink" ist hier durch "gä" ersetzt. Der sogenannte Regenruf oder besser Brutstimmungsruf des Männchens ist wie auf dem Kontinent sehr variabel und nicht spezifisch für die Azoren. Der entwicklungsgeschichtlich wohl älteste Ruf, der Flugruf "djüb", dürfte bei allen Buchfinken identisch sein.


Große Variabilität im Gefieder

Die große Variabilität des Buchfinken auf den Azoren zeigt sich nicht nur im Gesang, sondern auch im Gefieder. Auf unseren vielen Fotos konnten wir uns die Vögel genauer ansehen. So gibt es neben dem oben geschilderten extrem blauen, vermutlich älteren Männchen auch solche, die neben dem grünen Bürzel einen grünen Mantel, eine grüne Schulter oder auch nur einen kleinen grünen Fleck im Mantel haben. Bei den meisten zieht sich die Lachsfarbe über die gesamte Unterseite, doch haben einige einen weißen Steiß. Der helle Überaugenstreif kann weiß oder lachsfarben, schmal oder breit ausfallen. Manchmal ist er so breit, als hätte der Vogel angemalte Augenlider. Es ist oft auch nur ein heller Fleck über dem Auge. Inwieweit sich in solchen Merkmalen auch das Alter der Vögel zeigt, ist uns nicht bekannt.

Die schlicht bräunlich gefärbten Weibchen unterscheiden sich von den mitteleuropäischen kaum. Wir sahen sowohl sehr blass, fast einheitlich graubraun als auch kräftig gefärbte Vögel mit orangebrauner Färbung des Scheitels, der Scheitelseitenstreifen und der Schulter. Halsseiten, Nacken und Überaugenstreif sind dann grau. Auch die Weibchen haben zur Brutzeit einen blauen Schnabel und einen weißen bis hellgrauen Streifen oder Fleck über dem Auge.

Auch in den Federmerkmalen gibt es Unterschiede zur Nominatform coelebs auf dem Festland. Der Federspezialist Wolf-Dieter Busching fand heraus, dass bei moreletti der Weißanteil in den Hand- und Armschwingen, den Großen und den Mittleren Armdecken und den äußeren Steuerfedern stark reduziert ist.


In dunklen und hellen Wäldern

Die Buchfinken auf den Azoren leben in allen drei Höhenzonen der Inseln. Besonders häufig sind sie in der Siedlungs- und Kulturzone mit den darüberliegenden Wiesen und Weiden bis in 800 m Höhe. Hier bewohnen sie zahlreich die Siedlungsgärten und Obstplantagen, die Reste der ursprünglichen Wälder mit Lorbeer, Gagelstrauch, Klebsame und Baumheide sowie die dunklen Sicheltannenwälder, die lichten Eukalyptuswälder, Parks oder parkähnliche Wälder mit weiteren eingebürgerten Baumarten wie Akazien, Robinien, Lärchen und Kiefern. Auf den Viehweiden sammeln sie oft Nahrung. Hierher führen sie ihre Jungen und nach der Brutzeit sind hier oft große Schwärme anzutreffen. Die höher gelegene Buschzone mit Baumheide, Gagelstrauch, Lorbeer und Wacholder wird nur dann besiedelt, wenn dort noch höhere Bäume oder Büsche zu finden sind.


Aber wo befindet sich das Nest?

Auf mehreren Reisen ist es uns selber nicht gelungen, ein Nest mit Gelege zu finden. Lediglich in der Caldeira von Faial beobachteten wir einmal Ende April einen Vogel mit Nistmaterial. Auf Flores gelang im Mai dann noch der Fund eines in der Bauphase befindlichen Nestes, ca. 1,50 m hoch in einem Baumheidenstrauch.

Am 29. April 2005 zählten wir auf einem 30 mal 30 m großen Acker bei Ponta Delgada auf Flores 178 Männchen und nur 18 Weibchen. Saßen demnach die meisten Weibchen schon auf den Nestern? Dann sollten sich auch die Männchen in ihren Territorien befinden. Die vielen singenden Männchen überall auf der Insel hatten jedoch ihr Revier längst besetzt. Warum also hatte sich dann dieser Schwarm noch nicht aufgelöst? Und warum bestand er fast nur aus Männchen? Dass ein Teil der Population des europäischen Kontinents im Winter nach Süden zieht, und zwar nach Geschlechtern getrennt, ist bekannt. Die Vögel auf den Azoren jedoch sind Standvögel. Weshalb sollten sie hier nach Geschlechtern getrennte Schwärme bilden?

Auch das Ehepaar Bannermann konnte in seinem Buch über die Vögel der Azoren nur wenige Nestfunde anführen. Sigrid Knecht und Ulrich Scheer jedoch, die sich 1964 vier Monate auf den Azoren aufhielten, fanden immerhin 54 Nester von Mai bis Juli. Sie waren meist zwei bis sechs Meter hoch in Astgabeln von Bäumen und Büschen angelegt, die meisten in Gagelstrauch und Klebsame, weitere in Sicheltanne, Lorbeer, Ulme, Baumheide, Hortensie und Kamelie. Sie bestanden aus kleinen Wurzeln, Gras, Moos, Flechten, Baumheide, Kiefernnadeln und manchmal auch Rindenstückchen vom Eukalyptusbaum und der Japanischen Sicheltanne, waren gut mit Rinderhaaren, Federn, Gras und Flughaaren von Unkrautsamen ausgepolstert und enthielten maximal vier Eier oder Junge. Schon am 26. Mai sahen sie Junge ausfliegen und noch am 18. Juli fanden sie Nester mit Jungvögeln. Diese lange Brutperiode deutete auf zwei Bruten im Jahr. Weitere brutbiologische Untersuchungen sind uns nicht bekannt.


Und die Nahrung?

Sollten sich die Azoren-Buchfinken wegen ihres verhältnismäßig kräftigen Schnabels nicht auch anders ernähren als die Buchfinken auf dem Festland? Ende Juli und Anfang August 1998 waren auf der Insel S’o Miguel überall kleine nachbrutzeitliche Schwärme mit flüggen Jungvögeln zu beobachten. Die Jungen bettelten noch und wurden mit Schmetterlingen und kleinen Raupen gefüttert. Am 24. April 2005 sahen wir auf der Insel Faial, wie ein Weibchen auf einer Forststraße einen großen heruntergefallenen Kiefernzapfen bearbeitete, um an die Samen zu gelangen. Vielleicht ernähren sich die Buchfinken auf den Azoren außerhalb der Brutzeit häufiger von Baumsamen, insbesondere der Japanischen Sicheltanne Cryptomeria japonica, als die Buchfinken auf dem Festland. Es gibt jedenfalls noch viel zu erforschen.


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Literatur zum Thema:

Bannerman, D. A. & W. M. (1966): Birds of the Atlantic Islands. Vol. 3: A History of the Birds of the Azores. Oliver & Boyd, Edinburgh and London.

Busching, W.-D. (2006): Ein Azoren-Buchfink Fringilla coelebs moreletti mit einer überzähligen Steuerfeder und Bemerkungen über seine Federmerkmale im Vergleich zur Nominatform F. c. coelebs. - Ornithol. Mitt. 58: 17-23.

Glutz von Blotzheim, U. N. & K. M. Bauer (1997): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 14. AULA-Verlag, Wiesbaden.

Hering, J. & S. Ernst (2008): Beitrag zur Vogelwelt der Azoren - Beobachtungen auf Flores und Faial (Aves). Faun. Abh. Mus. Tierkd. Dresden 26: 37-62.

Knecht, S. & U. Scheer (1968): Lautäußerung und Verhalten des Azoren-Buchfinken (Fringilla coelebs moreletti Pucheran). Z. Tierpsych. 25: 155-169.

Marshall, H. D. & A. J. Baker (1999): Colonization history of Atlantic island common chaffinches (Fringilla coelebs) revealed by mitochondrial DNA. - Molecular Phylogenetics Evolution 11: 201-212.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2009
56. Jahrgang, Mai 2009, S. 186-189
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2009