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ORNITHOLOGIE/129: Vogelhirn - Schlüssel zum Erfolg (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2009

Ornithologie aktuell

Vogelhirn: Schlüssel zum Erfolg


Dass die Gruppe der Sperlingsvögel in der Evolution so erfolgreich war, verdanken die Tiere wohl ihrem hoch entwickelten Gehirn. Denn vor 65 Millionen Jahren ging nicht nur das Zeitalter der Saurier zu Ende, am Ende der Kreidezeit wurde auch eine reichhaltige Vogelfauna abrupt dezimiert. Von den vielgestaltigen Entwicklungslinien überlebte nur die globale Katastrophe. Sie konnte anschließend im Tertiär eine neue Vielfalt entwickeln und verdankt dies möglicherweise den besonderen geistigen Fähigkeiten ihrer Träger. Das meinen jedenfalls Angela C. Milner und Stig A. Walsh vom Naturhistorischen Museum in London, die sich mit der Evolution des Vogelgehirns beschäftigen. Was längst ausgestorbene Vögel im Kopf hatten, hinterließ zwar nur äußerst selten fossile Spuren und auch die Schädelknochen sind meist derart deformiert, dass sie kaum noch etwas über ihren Inhalt verraten, doch moderne, bildgebende Verfahren eröffnen neue Möglichkeiten. Und wie so oft ist auch der Zufall mit von der Partie, wenn es gilt neue Erkenntnisse ans Tageslicht zu holen. Denn nur wenige Hirnschalen fossiler Überreste haben sich mit Sedimenten gefüllt, sodass ein regelrechter Abguss des Hohlraums entstand. Zwei solche Raritäten - die ältesten aus dem Tertiär - konnten aus Tonstein geborgen werden, der sich vor 55 Millionen Jahren im südöstlichen England abgelagert hatte. Um das Gehirn zu rekonstruieren, zerlegte man die Fossilien mit einem Computertomographen in virtuelle, jeweils nur einen Zehntelmillimeter dicke Scheibchen. Einer der so untersuchten Vogelschädel stammt von Prophaethon shrubsolei, einem Meeresvogel, annähernd so groß wie ein Kormoran und stammesgeschichtlich ein enger Verwandter der heutigen Tropikvögel, weitläufiger auch von Albatrossen und Sturmtauchern. Ein anderer, etwas größerer Schädel von Odontopteryx toliapica ist stammesgeschichtlich in die Nähe von Enten und Gänsen zu rücken. Im Unterschied zu den heutigen Vögeln verfügten diese Vorfahren über ein ansehnliches Gebiss aus spitzen Auswüchsen der Kieferknochen. Die Bogengänge des Innenohrs deuten drauf hin, dass Odontopteryx sich weniger wendig im Luftraum bewegte als seine heutigen Verwandten. Vermutlich schwebte er im Gleitflug übers Meer und fischte seine Beute von der Wasseroberfläche. Im Unterschied zu Prophaethon konnte er gewiss nicht im Sturzflug tauchen, denn seine Knochen hatten die Leichtbauweise flugfähiger Vögel auf die Spitze getrieben. Beide fossilen Vogelschädel schützten ein Gehirn, das wohl ganz ähnlich strukturiert war wie das der heutigen Verwandten. Das Volumen des Großhirns, Zentrum für vielschichtige Informationsverarbeitung, Lernen und Gedächtnis, kam der Ausstattung einer Taube wohl recht nahe. Im Gegensatz zu zwei aus der mittleren Kreidezeit bekannten Vogelgehirnen, war das Großhirn des Odontopteryx von zwei kleinen Wülsten gekrönt. Sie sind bei Prophaethon noch etwas markanter ausgeprägt und ihre Lage entspricht den Eminentia sagittalis genannten Gehirnstrukturen, die sich mit dem als Neocortex bezeichneten Großhirn der Säugetiere vergleichen lassen.

Möglicherweise war es diese Innovation, die für die nötige Anpassungsfähigkeit sorgte und damit der "Schlüssel" zum Erfolg war, sodass sich die Vögel von der Kreide ins Tertiär hinüberretten konnten. Ausgesprochen groß ist diese Hirnstruktur heute bei Arten, die sich wie Eulen durch außergewöhnliche Sinnesleistungen auszeichnen, sowie bei Sperlingsvögeln. Vertreter dieser Vogelgruppe gelten als besonders lernfähig, einige sogar als ausgesprochen intelligent. Als jüngster Spross des Vogelstammbaums entwickelten sich schließlich die Sperlingsvögel im späten Tertiär so prächtig, dass sie etwa sechzig Prozent der fast zehntausend Vogelarten stellen, die derzeit die Erde bevölkern und als die auffälligsten und allgegenwärtigsten Wirbeltiere überhaupt gelten. (wir)

A. C. Milner u. S. A. Walsh, Zool. J Linnean Soc. 155, 2008, S. 198.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 5/2009
56. Jahrgang, Mai 2009, S. 163-164
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2009