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ORNITHOLOGIE/111: Der Bestandsrückgang des Waldlaubsängers (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2009

Bleibt er noch oder geht er schon?
Der Bestandsrückgang des Waldlaubsängers

Von Franziska Hillig


Bei den Brutbeständen vieler Langstreckenzieher wie Baumpieper, Fitis, Trauerschnäpper und Waldlaubsänger sind in den letzten Jahren dramatische Bestandsrückgänge zu beobachten. Die Ursachen hierfür werden auf die zunehmende Ausbreitung der Sahara zurückgeführt. Es ist aber auch denkbar, dass die Gründe für die negative Bestandsentwicklung zumindest in Teilen im Brutgebiet liegen. Die Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz e.V. (HGON) hat daher im Rahmen einer Diplomarbeit mögliche Einflussfaktoren im Brutgebiet des Waldlaubsängers untersucht.


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Vor allem im Hinblick auf frühzeitige Schutzmaßnahmen für diesen noch häufigen Charaktervogel der europäischen Laubwälder, aber auch angesichts der stellenweise großen Umbrüche in der forstlichen Nutzung, ist eine Untersuchung der Rückgangsursachen des Waldlaubsängers dringend erforderlich. Je früher die Ursachen des negativen Bestandstrends erkannt werden, desto erfolgreicher lassen sich Schutzmaßnahmen entwickeln.


Massiver Rückgang einer häufigen Art

Trotz der starken regionalen und überregionalen Schwankungen, denen die Waldlaubsängerbestände allgemein unterliegen, hat sich die Brutpaarzahl bundesweit in den letzten 15 Jahren auf nur noch maximal 400000 halbiert. Die Abnahme in den einzelnen Bundesländern ist dabei allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt: Aus den Monitoringergebnissen des Dachverbandes Deutscher Avifaunisten e. V. (DDA) ist ein deutlicher Unterschied zwischen den ost- und westdeutschen Vorkommen zu erkennen. So gingen die Zahlen im Osten seit Anfang der 1990er Jahre "nur" um etwa 40 % zurück, während der Brutbestand im Westen sogar um etwa 60 % eingebrochen ist. Am stärksten vom Rückgang betroffen sind Baden-Württemberg, Hessen und Sachsen mit einer Abnahme von mehr als 50 %, während die Zahlen in Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland stabil sind. Die unterschiedliche Bestandsentwicklung innerhalb Deutschlands ist als Hinweis auf im Brutgebiet liegende Ursachen für den Bestandsrückgang zu interpretieren. Von Auswirkungen im Winterquartier sollten die Vorkommen gleichermaßen betroffen sein.


Der Waldlaubsänger in Hessen

Der Brutbestand in Hessen als waldreichstem Bundesland beläuft sich derzeit auf etwa 25000 bis 50000 Paare. In der aktuellen Fassung der Roten Liste der Brutvögel Hessens aus dem Jahr 2006 ist der Waldlaubsänger aufgrund seines drastischen Rückganges zwischen 1994 und 2003 um mehr als 60 % als "gefährdet" eingestuft worden.

Der Waldlaubsänger ist in Hessen in allen geeigneten Waldgebieten und allen Höhenstufen verbreitet. Bevorzugt besiedelt er reich strukturierte Laub- und Mischwälder mit fehlender oder spärlicher Krautschicht aus einzelnen Gräsern, Farnen oder Heidelbeersträuchern. Reine Nadelwälder meidet er gänzlich. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konnte eine Bevorzugung von 40- bis mehr als 100-jährigen Mischwäldern mit Eichen- oder Kiefernanteil festgestellt werden. Vorraussetzung für eine Besiedlung sind einzelne Äste oder Sträucher im Stammraum, die der Waldlaubsänger als Balzplatz, Singwarten oder für den Anflug des Nestes nutzt. Dabei darf der Unterwuchs keinesfalls zu dicht sein, da sonst die Übersicht und ausreichend freier Flugraum fehlt.


Mögliche Auswirkungen des Klimawandels: Verschiebung des Bruthabitats

In den letzten Jahren wurde deutlich: Die Klimaerwärmung wirkt sich spürbar auf die Phänologie der Vögel aus und wird sich in Zukunft noch stärker auswirken. Vor allem die Langstreckenzieher scheinen negativ betroffen zu sein (s. DER FALKE, 2008, H. 8). Das Frühjahr 2007, mit überdurchschnittlich hohen Temperaturen zum Beginn der Rückkehr der Waldlaubsängerweibchen in die Brutgebiete Ende April, war dafür ein gutes Beispiel.

Wie bei vielen anderen Vogelarten begeben sich auch bei dieser Art die Männchen als erste auf den Heimzug, um frühzeitig die besten Reviere besetzen zu können. Die Weibchen scheinen ihrerseits den Partner nach dem von ihm besetzten Revier auszuwählen. In vier insgesamt 1100 ha großen Untersuchungsgebieten im nordhessischen Schwalm-Eder-Kreis in Höhenlagen von 250 bis 450 m ü. NN konnte beobachtet werden, dass sich die während der warmen Periode ankommenden Weibchen vor allem in Revieren mit einer Höhenlage von 400 bis 450 m ü. NN niederließen. Erst mit den wieder abnehmenden Temperaturen Anfang Mai besiedelten sie auch die Reviere in niedrigeren Lagen. Wenn diese Beobachtungen repräsentativ sind, wäre mit einer weiteren Erhöhung der durchschnittlichen Frühjahrstemperatur ein Ausweichen der Population in die höheren Lagen und in kühlere klimatische Gebiete zu erwarten. Dies würde die Prognosen im "Climatic Atlas of European Breeding Birds" bestätigen, nach denen der Waldlaubsänger 2080 nur noch vereinzelt in den höheren Mittelgebirgslagen in Deutschland vorkommen wird.


Nahrungsmangel

Die Hauptnahrung des Waldlaubsängers besteht aus verschiedenen Insekten und deren Larvenstadien, z. B. Raupen. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich viele Insektenarten den veränderten Klimabedingungen anpassen, indem die Hauptentwicklungsphasen mit dem zeitigeren Austrieb ihrer Nahrungspflanzen immer früher beginnen. Die Folge für viele insektenfressende Vogelarten ist ein Nahrungsmangel in der entscheidenden Phase der Jungenaufzucht, sofern die Brutzeit nicht im selben Umfang vorverlegt wird. Beim mit dem Waldlaubsänger nahe verwandten Fitis wurde durch Untersuchungen in den Niederlanden nachgewiesen, dass die Bestände der Art im Wald mit jährlich nur einem Höhepunkt der Insektenentwicklung zurückgehen. In den Sumpfgebieten verteilt sich die Entwicklung seiner Beutetiere hingegen über die gesamte Vegetationsperiode, die Bestände des Fitis bleiben hier stabil. Bei einigen Langstreckenziehern zeichnet sich bereits eine Anpassung an diese sich verändernden Bedingungen ab. Im Vergleich zu früheren Untersuchungen in Hessen und Sachsen, in denen ein mittlerer Brutbeginn für den Waldlaubsänger um den 29. Mai angegeben ist, fand nach den Ergebnissen der aktuellen Untersuchung auch bei dieser Art eine deutliche Verfrühung um etwa acht Tage statt. Noch ist aber unklar, ob diese Anpassung der Zugzeiten ausreicht, um das Nahrungsangebot für die Jungenaufzucht sicherzustellen.


Bruterfolg und Prädatoren

Bei vielen bodenbrütenden Vogelarten haben Prädatoren einen großen Einfluss auf den Bruterfolg. Von 68 im Rahmen der Diplomarbeit untersuchten Waldlaubsänger-Nestern in vier verschiedenen Waldgebieten wurden 43 % ausgeraubt. Die durchschnittliche Anzahl flügger Jungvögel je Brutpaar schwankte in den vier Flächen von 2,1 bis 3,1. Insgesamt flogen im Durchschnitt 2,7 Junge je Brutpaar aus. Für den dauerhaften Erhalt der Population sind allerdings mindestens drei flügge Jungvögel je Brutpaar erforderlich. Nach dem Zustand der ausgeraubten Nester kommen sowohl Kleinsäuger wie Mäuse und Eichhörnchen, als auch größere Arten wie Marder und Fuchs als Verursacher in Frage.

Im Hinblick auf den Bestandsverlauf des Laubsängers lassen sich Parallelen zur Entwicklung der Wildbestände in den letzten Jahren feststellen. So haben die Jagdstrecken von Rotfuchs, Waschbär und anderen Raubsäugern bundesweit innerhalb der letzten Jahrzehnte um das Doppelte bis Zehnfache zugenommen. Ebenfalls könnte der negative Einfluss des im Bestand zunehmenden Fuchses auf die Marderpopulation und die dadurch unterstützte positive Entwicklung zweier Hauptprädatoren von Waldlaubsängernestern, des Eichhörnchens und des Eichelhähers, eine Rolle spielen.


Naturnahe Waldbewirtschaftung?

Seit Mitte der 1980er Jahre werden viele Wälder naturnah bewirtschaftet. Dabei wird ein Mischwald mit einem hohen Anteil an regionaltypischen Baumarten, der Verzicht auf Kahlschläge, der Vorrang natürlicher Verjüngung vor künstlichen Anpflanzungen und höhere Umtriebszeiten angestrebt. Zusätzlich wurden Naturwaldreservate, Waldnaturschutzgebiete und Altholzinseln als besondere Schutzzonen in Zusammenarbeit zwischen Forst und Naturschutz ausgewiesen. Viele Vögel, vor allem Arten, die auf Bäume jenseits der Hiebreife angewiesen sind, profitierten von diesen Veränderungen und erholten sich in ihren Beständen. Dazu gehören Schwarzspecht, Raufußkauz, Hohltaube oder Schwarzstorch. Auch bei vielen waldbewohnenden Singvögeln ist ein positiver Bestandstrend zu verzeichnen. Leider gab es in den letzten Jahren nicht allein in Hessen Rückschläge im Waldnaturschutz: Verstärkt wurde von übermäßigem Einschlag in Altholzbestände und Holzernten während der Brutzeit berichtet. Dabei machten die Arbeiten auch vor Schutzgebieten keinen Halt.

Die neuen Bewirtschaftungsmethoden führen ohne Frage zu Verlusten unter den Waldlaubsängernestern, das größere Problem scheint aber die in der Praxis doch recht einförmig und primär auf Gewinn ausgerichtete "naturnahe" Waldbewirtschaftung zu sein. Als Resultat der in den letzten Jahren durchgeführten Einzelstammentnahmen und Naturverjüngung entstehen ältere Bestände, in denen die für die Besiedlung nötigen Zweige und Äste im unteren Stammraum als Singwarten fehlen. Gleichzeitig ist eine teilweise oder ganz den Waldboden bedeckende Naturverjüngung, die vom Waldlaubsänger nicht besiedelt wird, die Folge. Im Anschluss entsteht ein ebenfalls nicht nutzbarer, undurchdringlicher, dichter Stangenwald mit zum Teil nur sehr wenigen alten Überhältern. In den untersuchten Gebieten machen die dadurch weitestgehend unbesiedelbaren Bereiche die Hälfte der als Reviere prinzipiell in Frage kommenden Habitate aus. Erst ab einem Alter von etwa 40 Jahren sind die dichten Stangenwälder wieder für den Waldlaubsänger als Bruthabitat nutzbar. Die Untersuchung zeigte, dass die Siedlungsdichten in Wäldern mit einem dichten, flächendeckenden oder auch zumindest große Bereiche abdeckenden Jungwuchs im Durchschnitt bei 2,8 Revieren je 10 ha lagen. Im Gegensatz dazu konnten in Mischwäldern mit unterschiedlichen Altersklassen Siedlungsdichten von 6,6 Revieren je 10 ha festgestellt werden. Die älteren Laubwaldbestände aus über hundertjährigen Bäumen wurden überhaupt nicht durch den Waldlaubsänger besiedelt.


Fazit

Die Untersuchung macht deutlich: Es reicht nicht aus, die Ursachen für den Bestandsrückgang des Waldlaubsängers allein auf dem Zug und in den Überwinterungsgebieten zu suchen. Wichtig sind für ihn auch geeignete Bruthabitate mit einer mosaikartigen, abwechslungsreichen Waldstruktur, ausreichend lichter Beastung im unteren Stammraum als Singwarte sowie offener, lückiger Bodenbewuchs für die Nestanlage. Solche Waldbilder werden immer seltener. Bereiche mit Naturverjüngungen sollten sich daher auf engem Raum mit Altholzbeständen und jungem Stangenwald abwechseln, um auch für den Waldlaubsänger geeignete Lebensräume zu bieten. Diese Strukturen helfen nicht nur dem Waldlaubsänger, sondern ebenso vielen anderen waldbewohnenden Vogelarten. Gerade im Hinblick auf die aktuellen klimatischen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Vogelwelt ist es wichtig, die verbleibenden Habitate so zu gestalten, dass diese Rückzugsorte und Trittsteine für die betroffenen Arten bilden.


Franziska Hillig schreibt ihre Diplomarbeit über die Rückgangsursachen des Waldlaubsängers und ist freiberuflich als Landschaftsplanerin und Ornithologin u. a. für die HGON tätig. Ihr Interessensschwerpunkt ist die wissenschaftliche Vogelberingung.

Ein besonderer Dank gilt der Licher Privatbrauerei für die finanzielle Unterstützung durch das Licher-Stipendium sowie der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz, ebenso wie Prof. Dr. Herbert Zucchi und Dipl.-Biol. Stefan Stübing für die Betreuung der Arbeit.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2009
56. Jahrgang, Februar 2009, S. 60-63
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141; Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,80 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 49,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2009