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FORSCHUNG/582: Warum die Giraffe nicht wie ein Dackel laufen kann (idw)


Friedrich-Schiller-Universität Jena - 06.03.2009

Warum die Giraffe nicht wie ein Dackel laufen kann

Wissenschaftler der Universität Jena erforschen in EU-Projekt die menschliche Fortbewegung


Jena (06.03.09) Zuerst können sie nur einige Zentimeter vorwärts robben, dann beginnen sie zu krabbeln und irgendwann, nachdem sie sich zum ersten Mal selbstständig aufgerichtet haben, sind sie vor Begeisterung am Laufen kaum noch zu bändigen. "Die Art, wie Kinder laufen lernen, ist dem Übergang vom vierbeinigen zum zweibeinigen Gang im Laufe der Evolution des Menschen erstaunlich ähnlich", sagt Dr. André Seyfarth von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zusammen mit einem internationalen Forscherteam will er herausfinden, wie sich der Übergang zur Zweibeinigkeit mechanisch abspielt. Dafür startet jetzt ein Kooperationsprojekt mit Kollegen aus der Schweiz, Belgien, Dänemark und Kanada, das die EU für die nächsten vier Jahre mit insgesamt 2,7 Millionen Euro fördert. 515.000 Euro davon erhält die Jenaer Arbeitsgruppe um Dr. Seyfarth.

Locomorph heißt das neue Projekt, zusammengesetzt aus den Wörtern Lokomotion und Morphologie. Dahinter verbirgt sich, wörtlich genommen, die Gestalt der Bewegung. Und genau das ist erklärtes Ziel von André Seyfarth: "Wir wollen begreifen, wie die mechanische und neuronale Kommunikation im bewegten Bein aussieht. Und zwar so genau, dass wir es nachstellen können." Geplant ist der Bau von modularen Laufrobotern, mit denen die Entwicklung von der vierbeinigen zur zweibeinigen Lokomotion nachgestellt werden kann. Doch bevor die Wissenschaftler diesen letzten der drei Projektteile verwirklichen können, stehen Bewegungsanalysen und die Entwicklung von Computermodellen an.

Im Jenaer Lauflabor starten dazu jetzt Untersuchungen, bei denen die Bewegung von Probanden auf dem Laufband eingehend erforscht wird. Dazu nutzen die Wissenschaftler auch speziell angepasste Orthesen. Die werden normalerweise eingesetzt, um eingeschränkt funktionstüchtige Körperteile zu unterstützen, zum Beispiel zur Gelenkstabilisierung nach Sportunfällen. "Unsere Orthesen haben wir in ihrer Mechanik so umgebaut", erklärt André Seyfarth, "dass wir von außen typische Bewegungsprogramme nachstellen können. Der Körper kann uns dann signalisieren, ob er das Programm als hilfreich oder störend empfindet." Dadurch erfahren die Forscher, ob es sich bereits um den natürlichen Zustand handelt oder ob sie weiter nach der richtigen Lösung suchen müssen. "Wir nutzen sozusagen einen umgekehrten Weg und versuchen die biologischen Zusammenhänge aufzuklären, indem wir die zugrunde liegenden Mechanismen identifizieren und dem Körper anbieten", so Seyfarth.

Parallel zu den Analysen der Jenaer Arbeitsgruppe machen die Kollegen in Belgien ähnliche Messungen mit Echsen, Primaten und Kindern. "Dadurch erhoffen wir uns ein möglichst genaues Bild der Bewegungsmuster beim Übergang vom vier- in den zweibeinigen Gang", so Seyfarth.

Anhand der Messdaten wollen die Wissenschaftler ein Computermodell entwickeln und anschließend in ein technisches System umsetzen. Dafür sollen im gerade vergrößerten Jenaer Laufrobotik-Labor verschiedene Laufroboter konstruiert werden, mit denen sich die Bewegungsmodelle darstellen und testen lassen. Der Vorteil eines technischen Systems liegt für Arbeitsgruppenleiter André Seyfarth auf der Hand: Man kann es anfassen, verändern und beobachten, welche Reaktion die Veränderung hervorruft. "Dadurch nähern wir uns Schritt für Schritt den exakten Abläufen bei der menschlichen Bewegung."

Ziel des Projekts ist es, mit Hilfe der Robotik ein Werkzeug zu schaffen, mit dem die Bewegungsmorphologie in verschiedenen menschlichen oder biologischen Entwicklungsstufen dargestellt und begreiflich gemacht werden kann. Dadurch wäre es möglich, für Patienten mit Bewegungsstörungen oder Beinamputationen individuelle Therapien oder Prothesen zu entwickeln, so Seyfarth. Schließlich habe jeder Mensch ein eigenes Gangbild. Den herkömmlichen Vergleich gestörter Bewegungsmuster mit einer Normkurve hält der Jenaer Wissenschaftler für ungünstig, weil dieser individuelle Bewegungseigenschaften des jeweiligen Körpers nicht abbildet. "Wenn man eine Giraffe zwingt, wie ein Dackel zu gehen, wird sie immer unglücklich sein, weil sie es einfach nicht realisieren kann", macht Seyfarth das Problem deutlich.

"In vier Jahren", so hofft er, "könnte durch neue Forschungsergebnisse eine bessere Grundlage dafür geschaffen sein, um bei der Behandlung von motorischen Störungen, z. B. nach einem Unfall, die individuellen morphologischen Voraussetzungen zur Fortbewegung der einzelnen Patienten besser berücksichtigen zu können."

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-jena.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution23


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Manuela Heberer, 06.03.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2009