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STERN/185: Very Large Telescope entdeckt den am schnellsten rotierenden Stern (idw)


Max-Planck-Institut für Astronomie, ESO Science Outreach Network - 05.12.2011

VLT entdeckt den am schnellsten rotierenden Stern


Pressemitteilung der Europäischen Südsternwarte (Garching) - Dem Very Large Telescope der ESO ist der am schnellsten rotierende bekannte Stern ins Netz gegangen. Der extrem massereiche und helle junge Stern befindet sich in unserer Nachbargalaxie, der Großen Magellanschen Wolke, in einer Entfernung von etwa 160.000 Lichtjahren von der Erde. Astronomen gehen davon aus, dass der Stern eine bewegte Vergangenheit hat: Vermutlich befand er sich ursprünglich in einem Doppelsternsystem und wurde herausgeschleudert, als seine Partner als Supernova explodierte.

Bild: © ESO/M.-R. Cioni/VISTA Magellanic Cloud survey. Acknowledgment: Cambridge Astronomical Survey Unit

VFTS 102 - der am schnellsten rotierende Stern
Bild: © ESO/M.-R. Cioni/VISTA Magellanic Cloud survey. Acknowledgment: Cambridge Astronomical Survey Unit

Ein internationales Astronomenteam hat mit dem Very Large Telescope der ESO am Paranal-Observatorium in Chile eine Durchmusterung des Tarantelnebels in der Großen Magellanschen Wolke durchgeführt. Ziel der Suche waren die leuchtkräftigsten und massereichsten Sterne des Nebels. Unter den vielen hellen Kandidaten fiel den Wissenschaftlern insbesondere der Stern mit der Bezeichnung VFTS 102 [1] auf: Messungen zeigen, dass er mit einer enormen Geschwindigkeit rotiert - die Äquatorregionen der Oberfläche laufen dabei mit mehr als 2 Millionen km/h um das Sternzentrum. Das entspricht mehr als der 300fachen Rotationsgeschwindigkeit unserer Sonne [2]. Der Stern ist demnach kurz davor, durch starke Zentrifugalkräfte zerrissen zu werden. VFTS 102 ist ist der am schnellsten rotierende bekannte Stern [3].

Die Astronomen haben zudem herausgefunden, dass sich die Geschwindigkeit des Sterns, der etwa die 25fache Sonnenmasse hat und rund 100 mal heller als die Sonne ist, deutlich von den Geschwindigkeit der Sterne in seiner näheren Umgebung unterscheidet [4].

"Die auffällig hohe Rotationsgeschwindigkeit und die ungewöhnliche Bewegung verglichen mit seiner Umgebung haben uns aufmerken lassen. Wir wurden argwöhnisch und haben uns gefragt, ob der Stern eventuell eine besondere Vorgeschichte hatte", erklärt Philip Dufton von der Queen's University in Belfast (Nordirland), der Erstautor des Fachartikels, indem die Untersuchungsergebnisse präsentiert werden.

Die Geschwindigkeitsdifferenz von VFTS 102 zu seinen Nachbarsternen deutet darauf hin, dass er ein Ausreißer ist, der aus einem Doppelsternsystem herauskatapultiert wurde. Das dürfte geschehen sein, als sein Partnerstern als Supernova explodierte. Diese These wird durch zwei weitere Indizien unterstützt: In der Nähe befinden sich in der Tat ein Supernovaüberrest und ein Pulsar [5].

Auf diesen Befund gestützt hat das Team eine mögliche Vorgeschichte für den Stern entworfen: Als Mitglied eines Doppelsternsystems, dessen beide Sterne sehr eng umeinander Kreisen, wäre der Stern in einer Situation gewesen, in der sehr schnell Materie von einem Stern zum anderen übertragen werden kann. Durch diesen Massentransfer wäre die Rotation des Sterns schneller und schneller geworden. So ließe sich die extrem hohe Rotationsgeschwindigkeit erklären. Nach einer kurzen Lebensdauer von nur 10 Millionen Jahren wäre der massereiche Begleiter dann als Supernova explodiert.S Die Reste seiner herausgeschleuderten Gashülle bilden den nahe gelegenen Supernovaüberrest. Die Explosion hätte gleichzeitig auch zum Herausschleudern des Sterns geführt und kann damit seine dritte Besonderheit erklären: die große Abweichung seiner Geschwindigkeit von den Geschwindigkeiten der anderen Sterne in seiner Umgebung. Durch den Kollaps des Partnersterns, der zur Supernovaexplosion geführt hätte, wäre aus dem massereichen Begleiter der beobachtete Pulsar geworden, und damit das letzte Puzzlestück des astronomischen Szenarios.

Die Astronomen können nicht sicher sein, dass sich alles wirklich so abgespielt hat. "Dieses Szenario würde sehr gut zu all den ungewöhnlichen Eigenschaften des Sterns und seiner Umgebung passen. Auf jeden Fall zeigen unsere Beobachtungen uns auch die unerwartete Seite des kurzen, aber dramatischen Lebens der massereichsten Sterne", schließt Dufton.



Endnoten

[1] Die Bezeichnung VFTS102 für den Stern leitet sich vom Namen der Durchmusterung ab, dem VLT-FLAMES Tarantula Survey, die mit dem Fibre Large Array Multi Element Spectrograph (FLAMES) am Very Large Telescope der ESO durchgeführt wurde.

[2] Ein Flugzeug mit dieser Geschwindigkeit würde die Erde entlang des Äquators innerhalb einer Minute umrunden.

[3] Viele Sterne beenden ihr Leben als so genannte kompakte Objekte, beispielsweise als Pulsare (man vergleiche dazu auch [5]), die noch schneller als VFTS 102 rotieren. Solche Objekte sind allerdings viel kleiner und dichter. Außerdem gewinnen sie ihre Energie nicht länger aus Fusionsreaktionen wie normale Sterne.

[4] VFTS 102 bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 228 Kilometern pro Sekunde durch den Raum. Das istrund 40 Kilometer pro Sekunde als die typische Bewegung anderer Sterne in dieser Gegend.

[5] Pulsare entstehen als "Sternleichen" bei Supernovaexplosionen. Der Kern eines massereichen Sterns fällt dabei in sich zusammen und bildet einen so genannten Neutronenstern von nur wenigen Kilometern Durchmesser. Neutronensterne rotieren sehr schnell. Da sie gleichzeitig energiereiche Strahlenbündel aussenden, sieht man sie von der Erde aus leuchtturmartig aufblitzen. Dieser Lichtpuls gibt der Objektklasse ihren Namen. Der Supernovaüberrest dagegen ist eine Art Explosionswolke, die entsteht, weil die äußeren Schichten des sterbenden Sterns durch die Schockwellen des Kollapses des Sternkerns zum Neutronenstern nach Außen getrieben werden.



Zusatzinformationen

Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse von Philip L. Dufton et al. sind vor Kurzem unter dem Titel "The VLT-FLAMES Tarantula Survey: The fastest rotating O-type star and shortest period LMC pulsar - remnants of a supernova disrupted binary?" in der Fachzeitschrift Astrophysical Journal Letters erschienen.

Die beteiligten Wissenschaftler sind P.L. Dufton (Astrophysics Research Centre, Queen's University Belfast (ARC/QUB), Großbritannien), P.R. Dunstall (ARC/QUB, Großbritannien), C.J. Evans (UK Astronomy Technology Centre, Royal Observatory Edinburgh (ROE), Großbritannien), I. Brott (Universität Wien, Institut für Astronomie, Österreich), M. Cantiello (Argelander Institut für Astronomie der Universitat Bonn und Kavli Institute for Theoretical Physics, University of California, USA), A. de Koter (Astronomical Institute 'Anton Pannekoek', University of Amsterdam, Niederlande), S.E. de Mink (Space Telescope Science Institute, USA), M. Fraser (ARC/QUB, Großbritannien), V. Henault-Brunet (Scottish Universities Physics Alliance (SUPA), Institute for Astronomy, University of Edinburgh, ROE, Großbritannien), I.D. Howarth (Department of Physics & Astronomy, University College London, Großbritannien), N. Langer (Argelander Institut für Astronomie der Universitat Bonn), D.J. Lennon (ESA, Space Telescope Science Institute, USA), N. Markova (Institute of Astronomy with NAO, Bulgarien), H. Sana (Astronomical Institute 'Anton Pannekoek', University of Amsterdam, Niederlande), W.D. Taylor (SUPA, Institute for Astronomy, University of Edinburgh, ROE, Großbritannien).

Die Europäische Südsternwarte ESO (European Southern Observatory) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch ihre 15 Mitgliedsländer: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO betreibt drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Nordchile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist der europäische Partner für den Aufbau des Antennenfelds ALMA, das größte astronomische Projekt überhaupt. Derzeit entwickelt die ESO ein Großteleskop der 40-Meter-Klasse für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren und Infrarotlichts, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird, das European Extremely Large Telescope (E-ELT).

Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsstaaten (und einigen weiteren Ländern) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.

Weitere Informationen unter:
http://www.eso.org/public/germany/news/eso1147/
- Webversion der Pressemitteilung mit einem weiteren Bild (auch in höher aufgelösten Versionen)
http://www.eso.org/public/archives/releases/sciencepapers/eso1147/eso1147a.pdf
- Übersichts-Fachartikel über den VLT-FLAMES Tarantula Survey
http://www.eso.org/public/archives/releases/sciencepapers/eso1147/eso1147b.pdf
- Fachartikel zur Pressemitteilung

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1413


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Max-Planck-Institut für Astronomie, ESO Science Outreach Network
(Carolin Liefke), 05.12.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Dezember 2011